Rede Gernot Erlers in der 107. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Juni 2000: Zukunft der Bundeswehr

Rede Gernot Erlers in der 107. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Juni 2000: Zukunft der Bundeswehr

Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor einer Reform der Bundeswehr, die keinen Aufschub duldet. Wir stehen hierbei in einem vorgegebenen, objektiven Zeitrahmen, weil - das ist eine unbestreitbare Tatsache - in den letzten zehn Jahren notwendige Veränderungen aufgeschoben wurden und weil die internationalen Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland mit der Bundeswehr erfüllen muss, ohne eine solche Strukturreform nicht erfüllbar sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesrepublik hat wichtige Verpflichtungen innerhalb der Europäischen Union übernommen, zum Beispiel sich im Rahmen der so genannten "European headline goals", der Verpflichtungen von Helsinki, in angemessener Form in der kurzen Zeitspanne bis zum Jahre 2003 an schnellen Einsatzkräften im Umfang von 60000 Mann zu beteiligen. Sie hat im Rahmen der so genannten Stand-by-Arrangements Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen übernommen. Sie hat im Augenblick einen verantwortungsvollen Einsatz in Bosnien und im Kosovo zu erfüllen und sie hat natürlich ständig auf die Erfüllung der vielfältigen Bündnisverpflichtungen vorbereitet zu sein. Das alles ist mit der Bundeswehr, wie wir sie vor 16 Monaten vorgefunden haben, nicht zu erfüllen. Deswegen besteht die objektive Notwendigkeit, eine Reform durchzuführen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In 16 Jahren Regierungsverantwortung - das muss ich den Kollegen auf der rechten Seite des Hauses sagen - ist es versäumt worden, die Bundeswehr zukunftssicher zu machen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

In 16 Monaten hat Verteidigungsminister Scharping die entscheidenden Schritte zu einer zukunftsfähigen Bundeswehr vorbereitet, ja zu einem erheblichen Teil bereits eingeleitet. Das ist der Unterschied. Zu diesen Vorbereitungen gehört, dass seriöse Bestandsaufnahmen über die Lage der Bundeswehr nicht nur gemacht, sondern in den letzten 16 Monaten auch fortgeschrieben worden sind. Dazu gehört, dass der Verteidigungsminister in zahlreichen Begegnungen mit den Soldaten und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr - 25 an der Zahl - über die Notwendigkeit der Veränderungen gesprochen hat. Dazu gehört, dass er schon im Juli letzten Jahres Vereinbarungen mit deutschen Unternehmen zur Förderung der Zusammenarbeit und der beruflichen Qualifizierung und Beschäftigung abgeschlossen hat. Dazu gehören der Rahmenvertrag "Innovation, Investition und Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr" vom Dezember letzten Jahres und die kürzlich erfolgte Gründung der Agentur "Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb". Natürlich gehören dazu die Berichte, die jetzt dem Reformprojekt unmittelbar zugrunde liegen. Als Erstes nenne ich den Bericht der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr", die von Präsident a. D. Richard von Weizsäcker geleitet wurde und die uns nach 13 Monaten intensiver Arbeit unter Einholung von zahlreichen, perspektivischen Stellungnahmen am 23. Mai 2000 einen sehr wertvollen Bericht mit Analysen und Empfehlungen zugeleitet hat. Ich möchte im Namen meiner Fraktion noch einmal sagen: Wir sind für diese wichtige Arbeit außerordentlich dankbar, die uns in unserer Arbeit im Bereich der Sicherheitspolitik und der Verteidigung noch weit über die jetzt zu treffenden Entscheidungen hinaus beschäftigen wird. Wir haben diesbezüglich einen großen Dank abzustatten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Zu diesen Grundlagen gehört auch das, was der scheidende Generalinspekteur mit seinem Papier zu den Eckwerten für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte am gleichen Tag wie die Weizsäcker-Kommission vorgelegt hat, und dazu gehört das Eckpfeilerpapier des Bundesministers der Verteidigung unter dem Titel "Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert" vom 1. Juni dieses Jahres. Das sind die Grundlagen der Arbeit, die wir jetzt zu leisten haben. Ich finde, dass wir in diesem Hause allen Grund haben, dem Bundesminister der Verteidigung Rudolf Scharping für seine engagierte und professionelle Vorbereitung der überfälligen Reform der Bundeswehr Anerkennung und Dank zu sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In 16 Monaten ist mehr Bewusstsein über die Veränderungsnotwendigkeiten in der Bundeswehr, mehr Bereitschaft zur Reform und mehr Argumentationssicherheit in Bezug auf die Grundlagen geschaffen worden als in den vielen Jahren davor, in denen sich diese Notwendigkeiten schon längst abgezeichnet haben. Ich möchte Ihnen jetzt acht wesentliche Punkte vortragen, mit denen unsere Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, an dieses Werk der Strukturveränderung und der Reform der Bundeswehr herangehen will. Zunächst einmal glauben wir, dass die Vorlage, die der Bundesminister hier geliefert hat, das Eckpfeilerpapier, eine fachlich überzeugende und tragfähige Grundlage ist. Ich begrüße ganz besonders, dass auch die Fachverbände das inzwischen so sehen und dies geäußert haben.

(Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig!)

Das ist ein sehr guter Start für das, was vor uns steht.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind der Meinung, dass die allgemeine Wehrpflicht im Augenblick nicht zur Disposition gestellt werden kann, und zwar vor allen Dingen aus zwei Gründen - wir wissen, dass nicht alle in diesem Haus das genauso sehen : Der eine Grund ist die langjährige sicherheitspolitische Vorsorge, zu der wir verpflichtet sind und bei der wir nicht ausschließlich von der aktuellen sicherheitspolitischen Lage ausgehen können. Hinsichtlich des anderen Grundes möchte ich eine Argumentation aufgreifen, die uns die Weizsäcker-Kommission geliefert hat und die gerade in den Reihen meiner Fraktion große Beachtung findet, nämlich eine friedens-politische Argumentation für die vorläufige Beibehaltung der Wehrpflicht in dem Sinne, dass, wer das Ziel der Krisen-Deeskalation, der Deeskalationsdominanz, also die Möglichkeit, in einer sicherheitspolitisch herausfordernden Situation nicht krisenverschärfend, sondern krisenbeherrschend zu reagieren, ernst nimmt, die Flexibilität braucht, die nur die Wehrpflicht gewährleistet. Das ist ein wichtiger Grund, der uns mit bewogen hat, zu diesem Beschluss zu kommen. Wir sind der Meinung, dass die Rahmendaten, die von der Weizsäcker-Kommission und in dem Eckpfeilerpapier des Bundesministers genannt worden sind, richtig sind. Wir haben deswegen einen Vorschlag mit Bandbreiten gemacht, der die Daten von beiden Empfehlungen berücksichtigt. Wir haben deshalb Bandbreiten gewählt, weil wir als Leute, die lange in diesem Geschäft sind, wissen, dass es schon immer einen ziemlichen Unterschied zwischen dem Soll und dem Ist hinsichtlich des Umfangs der Bundeswehr gegeben hat und dass das unvermeidlich ist. Ausdrücklich unterstützen wir die Bemühungen des Bundesministers der Verteidigung, die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr zu stärken und hier vor allen Dingen durch Reformmaßnahmen beim Laufbahnrecht, besonders bei der Unteroffizierslaufbahn, endlich gegenüber anderen Bereichen nachzuziehen und diesen Dienst attraktiver zu machen. Ich habe schon die Partnerschaft mit Industrie und Wirtschaft, den Rahmenvertrag und die Agentur erwähnt. Wir unterstützen diesen Prozess. Er mobilisiert auch notwendige Mittel für die erforderliche Erweiterung des Investitionsanteils im Bundeswehrhaushalt. Wir sind der Meinung, dass das BMVg das Recht haben muss, diese erwirtschafteten Rationalisierungserlöse in einem angemessenen Umfang zu nutzen, um den investiven Teil der Bundeswehrplanung zu verstärken. Wir sind allerdings der Meinung - wir wissen uns darin im Konsens mit der Bundeswehrführung und mit dem Verteidigungsminister -, dass auch der Einzelplan 14 an dem beschlossenen Konsolidierungsprogramm teilhaben muss und dass man hier nicht ausscheren kann, was einschließt, dass für die internationalen Einsätze die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Festlegung schließt nicht aus - das will ich hier betonen -, dass Sonderverabredungen in der Art eines Programmgesetzes, zum Beispiel um die laufbahnrechtlichen Ungleichheiten in der Bundeswehr auszugleichen, möglich sind. Wir haben in dem Beschluss unserer Fraktion auch die Erwartung geäußert - wir sind uns da ebenfalls mit dem Verteidigungsminister einig -, dass wir sehr sorgfältig und nachvollziehbar mit der Frage der künftigen Standortplanung umgehen müssen. Das Wichtigste sind hier die Partizipation, die Beteiligung der Betroffenen, sowie die Transparenz und die Verlässlichkeit der Entscheidungen. Wir haben überhaupt kein Verständnis dafür, wenn einige Kolleginnen und Kollegen und Parteien schon heute Unsicherheit hinsichtlich der Standortplanung schüren,

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Welche Parteien sind denn das besonders?)

wider besseres Wissen, denn sie wissen ganz genau, dass hier ein verlässlicher Weg eingeschlagen wird. Wir halten das für unverantwortlich und fordern Sie auf, mit diesen Kampagnen aufzuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig! Sehr gut!)

Unsere Anerkennung der Arbeit der Kommission unter der Führung von Richard von Weizsäcker - damit komme ich zum Schluss - drückt sich nicht nur in einem Dank aus, sondern auch darin, dass wir unserer zuständigen Arbeitsgruppe und dem Verteidigungsministerium den Auftrag erteilt haben, die sicherheitspolitischen Vorstellungen und Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission, die in verschiedenen Bereichen hochinteressant und produktiv sind, zu beraten und uns über die Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlungen Bericht zu erstatten. Meine Damen und Herren, die Bundeswehrreform ist eine so wichtige Aufgabe - die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der gesamten internationalen Politik ist davon berührt und hängt von einem vernünftigen Ergebnis ab -, dass wir es für angemessen halten, zu einem gesellschaftlichen und parteiübergreifenden - auch in diesem Hause - Konsens zu kommen. Wir sind im Rahmen dieser wichtigen Reform zu einem Dialog mit Ihnen bereit. Wir setzen auf Ihre Bereitschaft, zu diesem Konsens beizutragen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

7. Juni 2000