Rede Gernot Erlers in der 123. Sitzung des Deutschen Bundestages am 11. Oktober 2000: Situation in Jugoslawien

Situation in Jugoslawien

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 5. Oktober dieses Jahres wird als ein Tag des sensationellen Szenenwechsels in Belgrad mit weit reichenden Folgen in ganz Südosteuropa in die Zeitgeschichte eingehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht ein hörbares Aufatmen durch ganz Europa. Wir gedenken in dieser Stunde aber auch der Hunderttausende von Opfern des 13-jährigen Regimes des Slobodan Milosevic. Es ist gut, dass einige dieser Opfer im Inneren von Serbien nicht um sonst gewesen sind. Es ist ein politischer Wechsel eingeleitet, aber noch nicht vollendet. Das hängt mit der nach der Konstitution relativ schwachen Position des jugoslawischen Präsidenten zusammen, mit der Machtposition, die in der serbischen Regierung und dem serbischen Präsidenten konzentriert ist, aber auch damit, dass die bisherige Nomenklatura von Milosevic noch nicht abgedankt hat. Sie testet vielmehr jeden Tag - auch heute - ihren politischen Spielraum. Deswegen sollte hier ein Konsens darüber bestehen, dass für uns und für alle in Europa die höchste Priorität heute heißen muss: Stabilisierung des politischen Wechsels in Jugoslawien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Man nimmt jetzt von allen Seiten Fragezeichen und Einwände wahr. Auch Sie, Herr Kollege Schmidt, haben eben sehr vorsichtig darauf hingewiesen, dass Kostunica, der neue Präsident, ein Nationalist sei. Er bestreitet das im Übrigen selbst nicht. Man muss aber eine Rückfrage dabei stellen: Ohne eine nachdrückliche und demonstrative Vertretung der serbischen Interessen, ohne eine praktizierte Distanz zum Westen, auch eine kritische Distanz zu all dem, was der Westen auch während des Krieges in dieser Region gemacht hat, hätte Kostunica - davon bin ich überzeugt - diese Mehrheit nicht gewonnen und wir sind doch froh, dass er sie gewonnen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kostunica hat auch für die Zukunft eine feste Position hinsichtlich der serbischen bzw. jugoslawischen Integrität. Das bezieht sich sowohl auf Montenegro als auch auf den Kosovo. Der entscheidende Unterschied ist: Er ist bereit, darüber einen Dialog zu führen. Ich frage: Wäre es nicht katastrophal, wenn die Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien, die weder der Westen noch die internationale Gemeinschaft Milosevic abgetrotzt hat, jetzt als eine Forderung an den neuen, demokratisch gewählten Präsidenten Kostunica herangetragen würde? Das wäre falsch. Insofern kann ich von hier aus Herrn Djukanovic nicht nur wünschen, dass er sich schnell von seinem Autounfall erholt, sondern ihn auch auffordern: Nehmen Sie die ausgestreckte Hand zum Dialog an und unterstützen Sie den neu gewählten Präsidenten! Das ist das, was wir von Ihnen erwarten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Andernfalls glaube ich, dass der große politische Erfolg ganz schnell gefährdet sein und sich in eine Niederlage verwandeln könnte. Wenn die Hauptaufgabe also in der Stabilisierung des politischen Wechsels besteht, war es richtig, sofort politische Unterstützung zu organisieren. Ich glaube, wir können hier der Bundesregierung und den anderen europäischen Regierungen dafür dankbar sein, dass sie das schnell und überzeugend getan haben. Die Aufnahme persönlicher Kontakte ist auch psychologisch sehr wichtig. Es ist daher gut, dass jetzt viele Leute nach Belgrad fahren. Ich freue mich, dass auch der Bundestag dabei vertreten ist. Heute Morgen sind zwei unserer Kollegen, die seit langem Kontakte zur serbischen Opposition haben, Gert Weisskirchen und Christoph Moosbauer, dorthin aufgebrochen.

Aber es ist klar: Die größten Erwartungen richten sich jetzt auf den ökonomischen und finanziellen Bereich. Dazu möchte ich gleich sagen: Ich begrüße es sehr - ich hoffe, wir alle tun das -, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heute im Rahmen einer Soforthilfe 10 Millionen DM zur Verfügung gestellt und gesagt hat, dass in diesem Jahr weitere 20 Millionen DM für den Aufschub von Projekten zur Verfügung stehen. Das genau ist es, was gebraucht wird: schnelle Soforthilfe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir finden es auch richtig, dass die Außenminister der Europäischen Union am Montag einen Teil der Sanktionen, nämlich die, von denen die Bevölkerung am meisten betroffen ist, aufgehoben haben. Wir sagen aber genauso: Es hat keine Eile, zum Beispiel das Waffenembargo aufzuheben. Ich finde es nicht überzeugend, dass unsere russischen Freunde jetzt diesbezüglich einen Vorstoß machen. Es hat auch keine Eile, dass die Visabeschränkungen für die noch bestehende Nomenklatur aufgehoben werden, und schon gar nicht, dass die Konten, die diese Nomenklatur im Ausland angelegt hat und die noch eingefroren sind, geöffnet werden. Nein, man muss es einmal deutlich beim Namen nennen: Milosevic und seine Familie sind nicht nur ein Hort von Kriegsverbrechern. Milosevic ist auch ein raffgieriger Feigling, der in einer Zeit, in der sein Volk die größten Entbehrungen ertragen musste, Millionen DM beiseite geschafft hat, um notfalls ein sorgenfreies Leben im Ausland führen zu können.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)

Die soziale Lage der Bevölkerung in Jugoslawien ist in der Tat katastrophal: Der Durchschnittslohn beträgt 100 DM pro Monat, die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Die Inflationsrate kann in diesem Jahr noch 100 Prozent erreichen. In Jugoslawien, in Serbien gibt es - das ist eine Tatsache, die man manchmal vergisst - immer noch 600000 Kriegsflüchtlinge aus Kroatien, aus Bosnien-Herzegowina, aus dem Kosovo. Jetzt ist die Glaubwürdigkeit Europas bzw. des Westens gefordert. Wir haben immer gesagt: Wenn das Problem Milosevic weg ist, wird es großzügige Zusagen geben. An die EU richten wir jetzt vor allem die Erwartung, dass nicht nur Zusagen erfolgen, sondern dass auch ohne große bürokratische Hemmnisse schnell gehandelt wird. Es gibt einen Fonds, der für die Einbeziehung von Jugoslawien in die europäischen Programme zur Verfügung steht. Natürlich ist es auch notwendig, Jugoslawien so schnell wie möglich in den Stabilitätspakt einzubeziehen.

Herr Kollege Schmidt, Sie haben eben etwas Kritisches über die Ausstattung gesagt. Ich hoffe, wir sind uns hier einig und in gleicher Weise informiert. Es gibt zwei Ebenen. Nach wie vor gibt es kein europäisches Land, das wie die Bundesrepublik zusätzlich zu den europäischen Beiträgen zum Stabilitätspakt ein bilaterales Programm von 1,2 Milliarden DM aufgelegt hat. Es würde mich freuen, wenn die anderen europäischen Länder das genauso machten. Auch das gehört zu einem korrekten Bild dazu; das muss hier einmal gesagt werden.

Eines aber darf jetzt auf keinen Fall passieren: Die Einbeziehung Jugoslawiens in den Stabilitätspakt darf nicht zu einem Verdrängungswettbewerb führen. Ich stehe noch unter dem Eindruck einer Reise, die ich letzte Woche, also während dieser Ereignisse, durch Bulgarien, Mazedonien und Albanien gemacht habe. Dort wurde überall besorgt gefragt, was dies an Verdrängung auslösen könnte. Wir müssen im finanziellen und im politischen Bereich auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Nachbarn Jugoslawiens jetzt auf keinen Fall politische Opfer des von uns so begrüßten Wechsels in Belgrad werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind weiterhin verpflichtet, das militärische Engagement der KFOR in Jugoslawien fortzusetzen. Ich glaube, darüber sind wir uns auch einig, weil die KFOR immer eine doppelte Aufgabe zu erfüllen hatte. Es ist zwar sicherlich richtig, dass die Aufgabe der KFOR, den Kosovo vor Übergriffen jugoslawischer Sondereinheiten und Militärs zu schützen, inzwischen weniger bedeutend geworden ist. Das begrüßen wir. Aber die KFOR hat auch noch die Aufgabe, den Bürgerfrieden im Kosovo zu erhalten und Minderheiten vor radikalisierten Albanern zu schützen. Allein aus diesem Grund wird es - das müssen wir bedenken - kein schnelles Ende dieser Mission geben können, zu der die Bundes wehr mit 8000 Soldaten einen wesentlichen und wichtigen Beitrag leistet, den wir auch sehr anerkennen.

Mein letzter Punkt betrifft die Frage der Gerechtigkeit. Ich glaube, wir dürfen keinen Zentimeter von der Forderung abweichen, dass Milosevic und die anderen identifizierten Kriegsverbrecher vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden müssen. Allerdings muss die Frage, in welchem Zeitraum das passieren muss und kann, in Verbindung mit der Priorität der Stabilisierung des politischen Wechsels in Belgrad gesehen werden.

In diesem Zusammenhang muss noch ein anderer vernünftiger Gedanke berücksichtigt werden. Das Sensationelle an der politischen Entwicklung in Jugoslawien ist doch die Selbstbefreiung. Das Ende des Regimes Milosevic ist von innen und nicht von außen eingeleitet worden. Aber Milosevic hat auch sehr viele Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung begangen. Die neue Gesellschaft in Jugoslawien hat die Chance und auch das Recht, dies von sich aus zu klären und das begangene Unrecht selber aufzuarbeiten. Dagegen könnten wir keinen Einwand erheben, selbst wenn wir die Forderung aufrechterhalten, dass die Verbrechen auch noch auf internationaler Ebene verfolgt werden müssen.

Der 5. Oktober bietet uns eine riesige Chance und ist uns zugleich Verpflichtung. Wir haben immer gesagt: Nur dann, wenn Milosevic weg ist, kann es dauerhafte Stabilisierung in Südosteuropa geben. Ich finde, wir haben viele gute Gründe, jetzt zusammenzuarbeiten und die Stabilisierung gemeinsam zu unterstützen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)