Rede Gernot Erlers in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. März 2001: Debatte zu den transatlantischen Beziehungen

Debatte zu den transatlantischen Beziehungen

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer heute über transatlantische Beziehungen spricht, der muss zunächst einmal über große Veränderungen auf beiden Seiten des Ozeans reden. In den Vereinigten Staaten erleben wir den Anfang einer neuen Administration - eigentlich ein faszinierender Prozess: Dort werden nicht nur eine Hand voll Minister neu ernannt, sondern Tausende von neuen Leuten, von neuen Spezialisten. Daraus entsteht allmählich ein Puzzle und ein Kanon neuer, veränderter Prioritätensetzungen wird sichtbar.

Es gab Voraussagen über diese neue amerikanische Regierung, basierend auf Erfahrungen aus dem Wahlkampf und auf Analysen. Was wurde uns nicht alles angekündigt! Es wurde gesagt, wahrscheinlich würden die amerikanisch-europäischen Missionen in Südosteuropa beendet, es werde eine Abkehr vom Multilateralismus, einen härteren Umgang mit Russland und China, eine Ablehnung des europäischen Wegs zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, vielleicht sogar eine Abkehr von Europa geben, und dieses Raketenabwehrprogramm werde sofort umgesetzt.

Wenige Wochen nach dem Start kann man sagen: Nichts ist so gekommen, wie es vorausgesagt worden ist. Stattdessen gibt es mehr Kontinuität als erwartet, eine verlängerte Formationsphase, eine längere Vorbereitung von grundlegenden Entscheidungen, ein intensives Interesse am Meinungsaustausch mit den Europäern,

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Köstlich!)

aber auch mit Moskau, mit Peking und anderen Plätzen auf der Welt sowie eine bemerkenswerte Flexibilität, die auch Chancen für unsere Position, wenn wir sie vortragen, bedeutet. Ich finde, wir haben allen Grund, das zu begrüßen und uns darüber zu freuen, dass es anders gekommen ist als vorausgesagt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber es gibt auch sehr große Veränderungen in Europa. Wir befinden uns mitten in einem Veränderungsprozess: parallel eine Erweiterung und Vertiefung. Besonders viele Veränderungen hat es - man kann das nur immer wie der deutlich machen - durch den Schock des Kosovo-Krieges gegeben. Wir haben gemerkt, dass wir vier blutige Kriege in Europa nicht verhindern konnten, dass langfristige Prävention und eine bis zur letzten Minute dauernde Friedensdiplomatie gescheitert sind. Während der Intervention kam zudem die Erkenntnis einer fast vollständigen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten auf nahezu allen Gebieten.

Danach hat es eine bemerkenswerte Beschleunigung beim Aufbau einer Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gegeben. Die Stationen, die mit dem D-Zug durchrast wurden, waren die europäischen Gipfel in Köln, Helsinki, Feira und Nizza. Heute kann man sagen: Das, was wir GASP oder ESVP nennen, ist auf dem Weg zu seiner Realisierung. Typisch für diesen europäischen Weg ist, dass es eine Parallele zwischen dem Aufbau von militärischen Fähigkeiten und dem Aufbau von zivilen Kapazitäten gibt. Das ist gut so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Typisch für diese neue Politik der EU, gerade in Südosteuropa, sind das umfassende Integrationsangebot, das wir als Friedenspolitik verstehen, und der Stabilitätspakt als Lern- und Aufbauprogramm für eine bessere Zukunft ohne gewaltsame Konflikte. Vieles von dem, was hier entsteht, haben wir selber noch gar nicht richtig realisiert. Deswegen brauchen wir uns nicht zu wundern, dass jenseits des Atlantiks noch Gewöhnungsbedarf für diese gewaltigen Veränderungen in Europa besteht.

Unter diesen extremen Umständen des doppelt Neuen kann sich eine erste Zwischenbilanz der transatlantischen Beziehungen sehen lassen. Wir müssen einfach erkennen, dass diese Skepsis gegenüber der ESVP allmählich der Einsicht weicht, dass sie dann im amerikanischen Interesse ist, wenn sie sich zu den Aufgaben der NATO vernünftig verhält.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nach den ersten persönlichen Begegnungen hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Das gilt ganz besonders für die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Hier gab es vier Etappen: die Münchner Konferenz, den Besuch des Außenministers, den Besuch des Verteidigungsministers und - dies schließt sich daran an - den Besuch des Bundeskanzlers. Wir müssen feststellen: Joschka Fischer und Rudolf Scharping haben erkannt, welche konstitutive Bedeutung erste Begegnungen haben. Sie sind erfolgreich gewesen, sind mit der Erfahrung von Kameradschaft und sogar Freundschaft zurückgekommen. Das ist gut so. Davon können wir eine ganz lange Zeit zehren. Wir hoffen, dass der Bundeskanzler diese Erfolgsgeschichte bei seinem Besuch in Washington fortsetzen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich war uns schon vor den Wahlen in den Vereinigten Staaten der Stellenwert des Raketenabwehrsystems der neuen Regierung bekannt. Wir wussten, dass es hierin Unterschiede zwischen Amerikanern und Europäern gibt. Aber auch hier erleben wir eine positive Überraschung. Es gibt keine dogmatische Umsetzung eines starren Konzepts, vielmehr eine erstaunliche Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie selbst haben doch den Popanz aufgebaut, Herr Erler! Sie müssen sich korrigieren!)

Herr Kollege, es gibt keinen Zweifel an dem Ob. Das lassen die Amerikaner nicht zu. Aber bei dem Wie der Umsetzung scheint dieses Wie ein Wort mit 25 Buchstaben zu sein - so flexibel ist das heute.

Die Administration nimmt sich mehr Zeit. Sie hört aufmerksam auf die Einwände und Argumente der Verbündeten. Auch in Amerika selbst wird eine sachliche und kontroverse Debatte geführt. Das müssen wir nutzen. Wir dürfen nicht in Hektik verfallen. Wir können doch nicht, wie Sie das machen, zum jetzigen Zeitpunkt den Popanz einer Ja/Nein-Entscheidung aufbauen. Das ist doch lächerlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

NMD ist, militärisch gesehen, bestenfalls eine Antwort auf eine sehr begrenzte Auswahl von Bedrohungen und Herausforderungen von übermorgen. Aber es kann in der Umsetzung bereits erhebliche politische Folgen haben. Deshalb ist es unser Ansatz, die Diskussion um NMD zu einem umfassenden transatlantischen Dialog über Sicherheitsfragen zu erweitern, der über die Raketenabwehr weit hinausgeht.

Herr Rühe, es tut mir Leid, aber wenn Sie zum wiederholten Male Ihre tibetanische Gebetsmühle anwerfen, weil Sie die Verringerung der Mittel des Verteidigungshaushaltes anwerfen und dies als einziges Problem sehen, dann haben Sie die Notwendigkeit der Verbreiterung dieses Dialogs nicht verstanden. Sie reduzieren alles auf quantitative Fragen, anstatt auf notwendige qualitative Fragen einzugehen.

Wir wollen in diesem Dialog eine breite Palette von Themen ansprechen. Es geht darum, zu klären, welche präventiven Fähigkeiten wir in Zukunft brauchen, um Konflikte zu vermeiden. Wir wollen wissen, ob es eine Alternative zu der Selbstabrüstung der Atommächte und der Fortsetzung des Abrüstungsprozesses, der sich auf Verträge beruft, gibt. Wir sehen dazu keine Alternative. Das alles steht im Zusammenhang mit NMD.

Wir wollen gemeinsam wirksame Strategien gegen den internationalen Terrorismus beraten und brauchen einen umfassenden politischen Ansatz, wie wir mit den Risikostaaten - drei dieser Staaten, nämlich Iran, Irak und Nordkorea, haben Raketenprogramme - umgehen sollen. Wir wollen, dass das Sunshine-Programm der beiden Kims in Nordkorea ein Erfolg wird. Wir finden, es ist gut, dass der Bundestagspräsident in den Iran gefahren ist, um dort die Reformer zu unterstützen. Das ist der politische Ansatz, den wir wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Rühe, ich finde, es ist wirklich nicht überzeugend, uns nachträglich aufzufordern, Beifall zu den amerikanisch-englischen Aktivitäten in Bezug auf den Irak einzufordern. Nein, lassen Sie uns gemeinsam die Chance zu einer Änderung ergreifen, wie Colin Powell angeregt hat, als er nach den negativen politischen Folgen der militärischen Intervention gefordert hat: Wir brauchen eine neue Sanktionspolitik und eine neue Irakpolitik. In diesem Punkt ist Beifall angebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich gehört zu diesem Dialog auch die Frage, ob im Falle des Fortbestehens des Restrisikos, wenn die politischen Konzepte nicht greifen, eine militärische Antwort auf eine Raketenbedrohung aus diesen Ländern erfolgen soll. Diese Frage muss dann natürlich - der Außenminister hat das sehr detailliert dargestellt - so beantwortet werden, dass die anderen Ziele nicht beeinträchtigt werden.

Herr Rühe, Sie haben beklagt, wir hätten in der Sache NMD unterschiedliche Positionen. Es gibt in der Tat unterschiedliche Akzentsetzungen, aber die Unterschiede bei uns sind nicht so groß wie in Ihren Reihen. Wir haben alle die Rede des wirklich sehr geschätzten Kollegen Lamers in München gehört, wir haben auch sein Interview im "Tagesspiegel" mit der Überschrift "Wir müssen auch Amerikas Widerpart sein" gelesen. Das passt nicht zu dem Vater-Sohn-Verhalten, das Herr Glos eingefordert hat.

(Detlef von Larcher [SPD]: Mutter!)

In dem Interview wird vor einer Kapitulation im Voraus sowie vor den Hegemonialinteressen der USA gewarnt und das ganze NMD-Programm als unseriös bezeichnet. Ich habe den Eindruck, dass das, was bei Ihnen auseinander klafft, viel schwieriger zusammenzuführen ist als das, was bei uns an unterschiedlichen Akzentsetzungen vorhanden ist. Es ist ganz normal, dass in der jetzigen Phase der Diskussion unterschiedliche Auffassungen bestehen. Das ist auch in den anderen europäischen Staaten und übrigens auch in den Vereinigten Staaten so. Das Programm ist eben noch nicht entscheidungsreif.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen: Wenn uns als Regierungskoalition ein Teil der Opposition empfiehlt, zu diesem Programm sofort Ja zu sagen, und der andere Teil der Opposition fordert, ein bisschen mehr Kritik zu üben, scheint es so zu sein, dass wir mit unserer Dialogstrategie gar nicht so schlecht liegen. Ich fühle mich in der Mitte dieser beiden Extrempositionen ganz wohl.

(Beifall bei der SPD)

Abschließend möchte ich festhalten: Wir brauchen und wir wollen einen solchen umfassenden Dialog. Die Globalisierung macht nicht vor der internationalen Sicherheitspolitik Halt. Wir kommen nur zusammen mit den Vereinigten Staaten zu gemeinsamen transatlantischen Strategien. Wenn wir in Zukunft Konfliktverhütung besser bewältigen wollen, wenn wir Abrüstung und Rüstungskontrolle und vor allem die Nichtverbreitung von Waffen verbessern wollen, wenn wir die Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels und des Waffenhandels verbessern wollen und wenn wir Konzepte mit dem Ziel eines Wandels durch Einbindung für die Risikostaaten erreichen wollen, dann werden wir das entweder transatlantisch gemeinsam oder gar nicht schaffen.

Das gilt auch für die Raketenabwehr. Wenn wir mehr Sicherheit für die Amerikaner und für uns haben wollen, darf dieses Konzept nicht mit der Brechstange durchgesetzt werden. Es geht nur, wenn man ein sehr breites Einvernehmen erzielt. Es gibt erfreuliche Anzeichen aus Washington, dass sich die Administration dieser Einsicht nicht verschließt.

Der von uns gewünschte und angestrebte umfassende transatlantische Dialog über Sicherheitsfragen braucht Zeit und hat Zeit. Wer ihn jetzt mit Hektik oder mit einer künstlichen Dramatik belastet und die Alternative, entweder Gefolgschaft oder Verweigerung, fälschlicherweise in den Raum stellt, der hat die tiefen Veränderungen auf beiden Seiten des Ozeans überhaupt nicht verstanden und bringt uns bei diesem notwendigen transatlantischen Dialog keinen Schritt weiter. In diesem Sinne hoffe ich auf eine Zusammenarbeit.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)