Rede Gernot Erlers in der 162. Sitzung des Deutschen Bundestages am 30. März 2001: Große Anfrage der PDS: Kriegsbilanz

Große Anfrage der PDS: Kriegsbilanz

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Jahre nach dem Krieg fällt eine politische Bilanz ambivalent aus. Es gibt positive Entwicklungen Jede Bilanz muss mit einem Hinweis auf die Rückkehr von mehr als 900 000 Flüchtlingen beginnen. Die gewaltsame Vertreibung war Auslöser der militärischen Intervention. Die angestrebte Rückkehrmöglichkeit ist erzwungen worden und die meisten Flüchtlinge haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Auch die Bedingungen für Frieden und Stabilität in der Region sind verbessert worden. Ich verweise auf die politische Entwicklung in Kroatien und den politischen Wechsel in Jugoslawien, der ganz wichtig war. Ich erinnere daran, dass es hier immer einen breiten Konsens darüber gab, dass die Beendigung des Regimes Milosevic eine Voraussetzung - wenn auch kein Automatismus - für Stabilität und Frieden in der Region des Balkans ist. Zu der positiven Kriegsbilanz gehört nach unserer Auffassung auch der Stabilitätspakt. Er hat dafür gesorgt, dass die meisten Länder der Region die Vorteile von Kooperation materiell schätzen gelernt haben. Die Tendenz zur Kooperation scheint sich inzwischen zu verselbstständigen. Kürzlich hat der Sonderkoordinator der EU für den Balkan, Bodo Hombach, den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages berichten können, dass die grenz-überschreitende Zusammenarbeit inzwischen zum Regelfall geworden ist. Das ist ein sehr wichtiger Effekt des Stabilitätspaktes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])

Wir dürfen allerdings die Augen nicht davor verschließen, dass wir noch weit von einer nachhaltigen Friedensordnung für die ganze Region entfernt sind. Hauptgrund dafür ist, dass eine weit verbreitete Krankheit noch nicht besiegt ist. Diese Krankheit besteht darin, dass noch immer auf eine gewaltsame Lösung der ethnischen Probleme gesetzt wird. Milosevic hat das im Kosovo-Krieg getan, von 1991 bis 1998 mit struktureller Gewalt und mit dem Ziel der Vertreibung, danach mit der Anwendung von physischer, brutaler und blutiger Gewalt. Das konnte nur durch eine militärische Intervention beendet werden. Herr Kollege Gehrcke, auch wenn Sie hier fünfmal dieselbe Rede halten: Sie werden nur dann einen Schritt weiterkommen, wenn Sie die Frage beantworten, welche denkbare Alternative es zu dieser Form der Beendigung der Vertreibung gegeben hätte. Diese Antwort haben Sie nie gegeben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])

Allerdings muss man auch feststellen: Jede militärische Intervention lässt sich auf ein Versagen der Prävention zurückführen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das hat zu Konsequenzen in der Arbeit der Bundesregierung und in der Prioritätensetzung der Koalitionsfraktionen geführt. Das kann man hier allerdings nicht ausführen. Zur Kriegsbilanz gehört auch die logische Erkenntnis: Wenn die gewaltsame Lösung von ethnischen Problemen zu dieser militärischen Intervention geführt hat, nämlich zum Kosovo-Krieg, dann können gewaltsame Lösungen von ethnischen Problemen auch nicht Grundlage einer Friedensordnung für diese Region sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir beobachten Besorgnis erregende Fehleinschätzungen eines Teils der Albaner im Kosovo und neuerdings auch in Mazedonien. Auf diese müssen wir eine klare Antwort geben. Wenn eine Minderheit militanter Albaner im Kosovo weiter Jagd auf Vertreter anderer Minderheiten macht und andere militante Albaner im Presevo-Tal und anderswo versuchen, Grenzen gewaltsam zu verändern, während uns gleichzeitig moderate albanische Führer sagen: "Ihr könnt das ganze Problem nur dann lösen, wenn ihr ganz schnell die Selbstständigkeit des Kosovo ermöglicht", dann können wir nur antworten: Diese faktische Doppelstrategie dient nicht den albanischen Interessen und wird nicht zum Ziel führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es gibt keinen anderen Weg als die Beendigung der Gewalt, die Normalisierung des Zusammenlebens verschiedener ethnischer Bevölkerungsteile, die Respektierung der Grenzen und den Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese alternativlosen Prinzipien gelten nicht nur im Kosovo, sondern auch für Mazedonien. In Mazedonien leben nach der letzten Volkszählung von 1994 450 000 Albaner. Wahrscheinlich sind es heute mehr. Das bedeutet, dass Mazedonien nur dann eine Zukunft hat, wenn Slawo-Mazedonier und Albaner nach den eben genannten Prinzipien zusammenleben und wenn sie gemeinsam Transformation und Aufbau im Rahmen einer fairen Aufgabenteilung gestalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Leider fehlen dafür im Augenblick noch viele Voraussetzungen. Es geht nicht an, dass in der Verfassung von Mazedonien steht, dass Mazedonien ein Nationalstaat des mazedonischen Volkes sei, ohne dass auch nur mit einem Wort auf die Albaner hingewiesen wird, die einen großen Anteil an der mazedonischen Bevölkerung ausmachen. Es geht nicht an, dass der Anteil der Albaner in Verwaltung, Regierung, Wirtschaft und im Bildungswesen weiterhin so gering wie bisher bleibt. Das gilt auch für die Lokalverwaltung. Deswegen mahnen wir entsprechende politische Veränderungen natürlich an. Gleichzeitig müssen wir aber denen oberhalb von Tetovo, die glauben, mit Gewalt solche Veränderungen herbeiführen zu können, ganz klar sagen, dass so nur Gegengewalt und nichts anderes erreicht wird und dass das nicht zu den notwendigen Veränderungen in Mazedonien führen wird. Im Gegenteil: Gerade jetzt, unter dem Druck von Gewalt, können solche Veränderungen nicht stattfinden. Bei aller Mahnung an die Verhältnismäßigkeit der Gegengewalt muss deswegen von dieser Debatte eindeutig das Signal ausgehen: Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Bilanz insgesamt besser wird, ist eine Beendigung dieser weiteren Versuche, die tatsächlich vorhandenen ethnischen Probleme gewaltsam lösen zu wollen. Das ist aussichtslos. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])