Rede Gernot Erlers in der 3. Sitzung des Deutschen Bundestages am 23. Oktober 2002: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium.

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium.

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Tat gute Nachrichten aus Mazedonien. Am 15. September haben Wahlen zur Sobranie, dem mazedonischen Parlament, stattgefunden. Der Verlierer dieser Wahl, der bisherige Premierminister Georgievski, hat sie als die friedlichsten Wahlen seit 12 Jahren bezeichnet. Das wird auch durch 850 internationale Wahlbeobachter und etwa ebenso viele akkreditierte, für diese Wahlen nach Mazedonien gekommene internationale Journalisten bestätigt.

Gewonnen hat diese Wahl die bisherige Opposition, die SDSM, die Sozialdemokratische Union Mazedoniens, mit ihren Partnern. Man ist als Wahlbündnis "Gemeinsam für Mazedonien" angetreten. Die SDSM wird mit Branko Crvenkovski den nächsten Premierminister stellen. Sie wird die Regierung bilden zusammen mit einer neuen albanischen Partei, der DUI, der Demokratischen Union für Integration, die sich vor allen Dingen aus ehemaligen Angehörigen der albanischen Einheiten zusammensetzt, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht hatten. Diese Koalition wird eine stabile Mehrheit von 76 von 120 Mandaten in dem mazedonischen Parlament haben.

Man reibt sich allerdings die Augen, wenn man sich einige Besonderheiten und Premieren in diesem Prozess anschaut. Wir erinnern uns ja noch daran, dass dieses Land im letzten Jahr mit mehr als einem Bein mitten in einem blutigen Bürgerkrieg gestanden hat. Bei dieser Wahl hat es erstmals Wahlzettel gegeben, die nicht nur in Mazedonisch, sondern auch auf Albanisch, Romanes, Serbisch, Vlahisch, Türkisch und Bosnisch geschrieben waren. Von 120 gewählten Abgeordneten sind 22 Frauen; erstmals ist auch eine albanische Frau Abgeordnete. Das ist ein enormer Wandel in diesem Land. Bei der konstituierenden Sitzung der Sobranie am 3. Oktober haben erstmals ethnisch albanische Abgeordnete Albanisch im Parlament gesprochen. Dies geschah in Umsetzung der Friedensgesetze von Ohrid, die im August letzten Jahres verabschiedet worden sind.

Welche Strecke der politischen Stabilisierung dort tatsächlich zurückgelegt wurde, zeigt sich, wenn man einen Blick auf diese neue albanische Partei und überhaupt auf die Zusammensetzung der ethnisch albanischen Abgeordneten wirft. Unter ihnen befinden sich nämlich elf amnestierte ehemalige Kommandanten der UCK. Dazu kommen drei Abgeordnete, deren Status nicht klar ist und die es nicht gewagt haben, an der konstituierenden Sitzung teilzunehmen. Das bedeutet aber, dass man den Übergang von einer Bürgerkriegssituation zu einer Normalisierung in Form eines parlamentarischen Wettbewerbs dramatischer gar nicht beschreiben kann; die Entwicklung ging vom bewaffneten Kampf zum parlamentarischen Wettbewerb. Ich finde, auch die Tatsache, dass der Machtwechsel so glatt vor sich gegangen ist, ist schon ein kleines Wunder.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei dieser Gelegenheit muss ich Ihnen, Herr Breuer, Herr Nolting und Herr Schmidt, sagen: Ich finde es schon bedauerlich und auch ein bisschen traurig, dass Sie hier auf diese Situation, auf diese Entwicklung praktisch überhaupt nicht eingegangen sind,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sondern dass Sie die uns bekannten Wahlstereotypen wiederholt haben, die auch durch Wiederholung nicht überzeugender werden. Damit haben Sie eigentlich nur eines bewiesen: dass Sie schlechte Wahlverlierer sind. Das ist eigentlich das, was man aus dieser Diskussion mitnehmen muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Das kleine Wunder, das ich hier zu beschreiben versucht habe, kommt nicht von ungefähr. Der Deutsche Bundestag dankt denen in Mazedonien, die zu diesem kleinen Wunder, die zur friedlichen Wahl und zu einem guten Übergang zu einem parlamentarischen System, beigetragen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir dürfen ebenfalls darauf hinweisen, dass diese Entwicklung auch ein Erfolg europäischer Friedenspolitik, wie wir sie uns wünschen, ist, einer Politik, die zwar in vier blutigen Konflikten auf dem Balkan in den 90er-Jahren leider nicht zum Erfolg geführt hat, jetzt aber tatsächlich greift. Aus unserer Sicht ist Mazedonien ein Stück weit ein europäisches Modell für Friedensvermittlung in einem regionalen Konflikt. Dieses Modell besteht aus drei Komponenten. Erste Komponente: Europa ist zum ersten Mal mit einem einheitlichen politischen Konzept vorangegangen - das war ein großer Erfolg -, und zwar in Kooperation mit der NATO, mit der OSZE, mit den UN und mit den Vereinigten Staaten. Zweite Komponente: Ein Friedensprozess wurde auf der Basis eines Friedensabkommens verbindlich organisiert, nämlich des Abkommens von Ohrid vom 13. August letzten Jahres, das eine eindeutige Priorität der Politik vorsieht. Dritte Komponente: Man war bereit, diesen Friedensprozess durch den Einsatz bewaffneter Kräfte abzusichern. Auch das war wichtig.

So erfreulich die geschilderte Entwicklung ist: Die Normalisierung des Stabilisierungsprozesses in Mazedonien ist noch nicht abgeschlossen. Die radikalen Kräfte auf beiden Seiten, die auch gewaltbereit sind, haben noch nicht aufgegeben. Wir haben gerade gehört: Es gibt bis heute blutige Zwischenfälle, bei denen Opfer zu beklagen sind. Eine ganze Reihe von Gesetzen, die zum Ohrid- Prozess gehören, sind noch nicht verabschiedet, auch solche, die schwierig sind und bei denen es Widerstände geben wird.

Zwar konnte die Rückkehr der mazedonischen Sicherheitskräfte in jene 138 Ortschaften, die längere Zeit unter UCK-Kontrolle waren, im Juli dieses Jahres abgeschlossen werden, aber wir befinden uns noch in einem sehr komplizierten und sensiblen Prozess des Übergangs im Rahmen jenes auf sechs Monate angelegten so genannten Community Policing Transition Plan zur Reetablierung der mazedonischen Regierungs- und Staatskontrolle in diesen Ortschaften. Wir benötigen weiterhin jene 200 OSZE-Beobachter und jene etwa 40 EU-Beobachter, die diesen Normalisierungsprozess begleiten sollen. Diese Beobachter benötigen ihrerseits, da die mazedonische Seite ihnen den Schutz noch nicht garantieren kann, den internationalen Schutz durch die Task Force Fox mit ihren 1 000 Kräften, von denen im Augenblick etwa 225 aus Deutschland kommen.

Wir benötigen diese Beobachter und diesen Schutz auch noch für einen weiteren wichtigen Schritt in Mazedonien: Vom 1. bis zum 15. November soll eine Volkszählung durchgeführt werden. Diese Volkszählung ist geradezu konstitutiv für den Erfolg des Ohrid-Prozesses. Da er ja überall darauf beruht, dass in unterschiedlichen ethnischen Verhältnissen unterschiedliche Regeln angewandt werden sollen, muss man diese ethnischen Verhältnisse kennen. Die EU bemüht sich mithilfe ihres statistischen Fachdienstes Eurostat, das zu einem Erfolg zu führen.

Auch in Anbetracht dessen wäre es ein fataler Fehler, sich jetzt aus Mazedonien zurückzuziehen. Deswegen sind wir auch heute hier, um das Mandat zu verlängern. Der mazedonische Präsident und die neue mazedonische Regierung haben ausdrücklich den Wunsch geäußert, dass diese Mission verlängert werden möge. Wir brauchen in dieser Frage eine Kontinuität im Engagement, auch um zu zeigen, dass wir die Mahnung von Kofi Annan, die er im Deutschen Bundestag vor uns ausgesprochen hat, beherzigen. Er meinte, dass wir eine neue Qualität von Friedenspolitik im Sinne einer nachhaltigen Friedensstrategie, eines "sustainable peace", brauchen. Diese Qualität bedeutet, dass man sich in solchen Fällen nicht hineinund dann sofort wieder herausbegeben darf, sondern dass man eine Kontinuität des Engagements zeigen muss. Das ist eine neue Qualität von Friedenspolitik; das ist das europäische Modell, das in Mazedonien jetzt zum Erfolg geführt werden kann. Dazu müssen und sollten wir hier im Deutschen Bundestag beitragen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Mazedonien kann tatsächlich zu einem ersten Beispiel für eine gelingende europäische Friedenspolitik werden, wenn wir weiterhin an diesem Prozess Anteil nehmen, wenn wir uns nicht durch dramatische Entwicklungen in anderen Weltregionen von unserer europäischen Verantwortung ablenken lassen und wenn wir fortfahren - wie es insbesondere Deutschland in den letzten Monaten getan hat -, auf allen Ebenen, die wichtig sind, unsere Hilfe und unsere Unterstützung für den Erfolg des Ohrid-Prozesses zu geben.

Der konkrete Beschluss, der hier ansteht, hat alle erforderlichen Voraussetzungen: Es liegt die Anforderung des mazedonischen Präsidenten vor; es liegt der Beschluss des NATO-Rates vom 11. Oktober dieses Jahres vor. Die UN-Resolution 1371 vom 26. September letzten Jahres ist weiterhin gültig, die diese gesamte Mission indossiert, das heißt, sie sich zu Eigen macht und gutheißt. Ebenso liegt der gestrige Beschluss des neuen Bundeskabinetts vor, der ja nicht früher gefasst werden konnte.

Jetzt geht es darum, dass dieses Hohe Haus zum fünften Mal die konstitutive Zustimmung zur Fortsetzung dieser wichtigen Mission gibt. Das ist ein Stück europäische Verantwortung. Die SPD-Bundestagsfraktion wird aus Überzeugung und einmütig Ja zur Fortsetzung der Mission sagen. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, dies auch zu tun. Wir wünschen den Soldaten der Bundeswehr bei ihrer schwierigen und verantwortungsvollen Mission Glück und Erfolg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)