Rede Gernot Erlers in der 11. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. November 2002: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag wird heute mit großer Mehrheit dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung des deutschen Beitrags für die Mission Enduring Freedom zustimmen. Auch die SPD-Fraktion wird dies mit großer Einmütigkeit tun. Aber auch diesmal hat es sich keiner von uns leicht gemacht. Wir haben eine intensive und sorgfältige Beratung hinter uns und das ist auch notwendig; denn der Einsatz in Afghanistan ist der komplizierteste und der gefährlichste, den die Bundeswehr zurzeit durchführt. Was ist Enduring Freedom? Es ist und bleibt die militärische Antwort auf den 11. September 2001. An diesem Einsatz sind 70 Länder beteiligt. Er steht auf der sicheren völkerrechtlichen Grundlage der beiden Sicherheitsratsresolutionen 1368 und 1373. Dieser Einsatz richtet sich gegen die Täter des 11. September 2001, gegen das Netzwerk von al-Qaida, gegen die Organisations- und Ausbildungszentren der Terroristen und gegen ihre Beschützer, das Regime der Taliban. Zu dieser militärischen Antwort auf den 11. September 2001 gab und gibt es keine Alternative.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Attentäter brachten 3 000 Menschen den Tod. Sie haben Millionen von Menschen geschockt und verunsichert. Dabei gab es keinerlei Vorankündigung. Es geschah, ohne dass irgendeine erfüllbare Forderung gestellt wurde, und es gab keinerlei Verhandlungschance, weder vorher noch nachher. Das Regime der Taliban war nicht bereit, die Tätigkeit der terroristischen Netzwerke zu unterbinden und die Befehlshaber für den Mord an Tausenden von unschuldigen Zivilisten auszuliefern. Der Begriff Selbstverteidigung ist in der Geschichte oft missbraucht worden. In diesem Fall aber wenden ihn die Vereinten Nationen mit Recht an.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Enduring Freedom ist die Wahrnehmung unserer Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung, gegenüber potenziellen künftigen Opfern. Dieser Pflicht entsprechend hat Enduring Freedom einen klar umrissenen Auftrag und ein klar umrissenes Ziel, nämlich neue Anschläge von dort zu verhindern, wo sie vorbereitet und organisiert wurden, in Afghanistan die logistische Basis von al-Qaida zu zerschlagen und das Regime, das die Terroristen unterstützt hat, zu entmachten, zu verjagen und an jeder Rückkehr zu hindern. Ein Jahr ist vorbei. Es ist Zeit, eine nüchterne und ehrliche Bilanz zu ziehen. Es hat Erfolge gegeben. In Afghanistan sind die Basen der Terroristen zerstört, aus den Jägern sind Gejagte geworden. Sie haben ihre Beschützer, das Regime der Taliban, verloren. Erst Enduring Freedom hat die Voraussetzungen für einen politischen Neuanfang im Lande geschaffen und dabei einen 22 Jahre dauernden Bürgerkrieg beendet. Dies hatte einen hohen Preis: Zerstörungen im Lande und zahlreiche zivile Opfer. Doch trotz all dieser Anstrengungen konnte der Auftrag bisher noch nicht vollständig erfüllt werden. Die wichtigen Führer Osama Bin Laden und Mullah Omar sind bisher nicht gefasst worden. Es gibt im Lande nach wie vor Reststrukturen und auch noch handlungsfähige Einheiten von al-Qaida. Es gibt Reorganisationsversuche der Taliban. Dies macht sich bemerkbar durch Anschläge auf die neue Interimsregierung, auf die Einheiten von Enduring Freedom und auch die Schutztruppe ISAF. Dies sind Anschläge auf das neue Afghanistan. Die Netzwerke des Terrors beweisen auch sonst weltweit ihre Handlungsfähigkeit - ich nenne hier die Stichworte Djerba, Bali und den Tanker "Limburg" -, ohne dass wir genau wissen, wo diese Anschläge geplant oder organisiert werden. Dies für sich genommen ist schon ein ausreichender Grund, den bewaffneten Druck auf die Reststrukturen von al-Qaida und Taliban vor Ort in Afghanistan aufrechtzuerhalten und fortzusetzen. Dies ist unser Schutzauftrag, unsere Verpflichtung, um jede Wiederholungstat zu vermeiden. Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb Enduring Freedom fortgesetzt werden muss. Warum ziehen sich denn diese Resteinheiten nicht zurück und riskieren nach wie vor Anschläge auf die Neuordnung in Afghanistan, auf den Wiederaufbau? Sie machen dies auch deshalb, weil die Netzwerke des Terrorismus hierin eine exemplarische Auseinandersetzung sehen. Die Augen vieler Länder sind darauf gerichtet, was aus diesem Testfall Afghanistan wird. Es gibt den Weg der internationalen Gemeinschaft. Er setzt auf eine Gesellschaft der Partizipation aller ethnischen Gruppen, auf Versöhnung, auf die Rückkehr der Flüchtlinge, auch auf die Rückkehr aus dem Exil und langfristig auf die Perspektive einer demokratischen Gesellschaft, aber nicht eine durch Oktroi oder durch Zwang, sondern in Form einer Selbstfindung Afghanistans, in Form einer Wiedergeburt der afghanischen Identität. Deutschland hat wichtige Beiträge zum Erreichen dieses Ziels geleistet, zum Beispiel durch humanitäre Hilfe, die nach wie vor geleistet werden muss, durch seine Beiträge zu dem so genannten Post-Taliban-Prozess - das ist in dem so genannten Petersberg-Agreement besonders deutlich geworden, das bis heute die Grundlage für den neuen, hoffnungsvollen Weg Afghanistans darstellt - und durch viele Hilfen, die es beim Wiederaufbau besonders der Polizei und des Bildungswesens - darauf wird in dieser Debatte noch eingegangen werden - geleistet hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir erklären, dass wir die Botschaft, die Kofi Annan von diesem Rednerpult aus an uns gerichtet hat, verstanden haben: Nur ein andauernder, nachhaltiger Einsatz wird auch zu einem nachhaltigen Frieden in Afghanistan führen. Wir rufen auch alle anderen Länder auf, in ihren Bemühungen, diesen Einsatz zu einem Erfolg zu machen, nicht nachzulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Denn wir wissen, welche Bedeutung dieser Einsatz hat und was es bedeuten würde, wenn es zu einem späten Triumph der Terroristen in dem Sinne käme, dass in Afghanistan eine Gesellschaft des Fanatismus, des Hasses, der Unterdrückung, der inneren Gewalt und womöglich auch der Logistik des Terrorismus zurückkehren würde. Die Menschen in Afghanistan müssen wissen, dass es richtig war, sich von al-Qaida und den Taliban abzuwenden. Aber dafür brauchen sie fortdauernd unseren Schutz und unsere Unterstützung. Das bedeutet, dass wir weiter die Mission Enduring Freedom brauchen; denn sie alleine kann einen späten Triumph der Terroristen, der völlig inakzeptabel wäre, verhindern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dieser Einsatz ist die einzige Überlebenschance für eine politische Antwort auf den Terrorismus. Wir befinden hier nicht über irgendeine militärische Mission, sondern darüber, ob die politische Antwort auf die globale Herausforderung des Terrorismus, die am 11. September letzten Jahres begonnen hat, eine Chance bekommt. In diesem Sinne tun wir heute das, was wir tun können, indem wir dem gefährlichen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan eine möglichst breite parlamentarische Unterstützung geben. Ich verbinde das abschließend mit dem Dank und der Anerkennung für diesen Einsatz. Ich kann nur sagen: Glück und Sicherheit auf allen Wegen für die Bundeswehr in Afghanistan! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)