187. Sitzung des Deutschen Bundestages, 28. September 2005: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der soeben gehörten Abschiedsrede von Herrn Nolting möchte ich eine Vorbemerkung machen. Im Namen meiner Fraktion, aber auch, so denke ich, im Namen der anderen Fraktionen möchte ich Ihnen, Herr Nolting, für Ihr langjähriges Engagement für die Sicherheitspolitik Deutschlands - die meiste Zeit als Sprecher Ihrer Fraktion und immer als ein sachkundiger und fairer Kollege auftretend - herzlich danken und Ihnen alles Gute wünschen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vor zehn Tagen haben in Afghanistan erst die dritten Parlamentswahlen in der Geschichte dieses Landes stattgefunden, übrigens die ersten mit mehr als 20 Prozent Beteiligung. In Deutschland war dieses Ereignis durch unsere eigenen Parlamentswahlen ein bisschen überdeckt. Aber es lohnt sich, noch einmal auf das zu schauen, was da eigentlich passiert ist und geleistet worden ist; denn mit dieser Wahl war eine ganze Reihe von Schwierigkeiten verbunden.

1,7 Millionen Menschen mussten als Wähler nachregistriert werden. Es war eigentlich eine dreifache Wahl: Das Unterhaus, die Wolesi Jirga, mit 249 Mitgliedern und ein Teil des Oberhauses, der Meschrano Jirga, mussten gewählt werden und gleichzeitig fanden auch noch Wahlen zu den Provinzräten statt. 5 732 Kandidaten hat es gegeben, davon etwa 10 Prozent Frauen. 6 267 Wahlbüros waren zu betreuen. 160 000 Wahlhelfer kamen zum Einsatz. 200 000 Wahlbeobachter haben dafür gesorgt, dass diese Wahlen korrekt ablaufen. Das Ganze geschah immer noch unter der Bedrohung von bewaffneten Kräften, die versucht haben, diese Wahlen zu stören, was ihnen aber nicht gelungen ist. Ich finde, das ist eine große Leistung. Deshalb halte ich es für angemessen, dem afghanischen Volk und der afghanischen Regierung von diesem Hohen Hause aus unsere Gratulation zu den erfolgreichen Wahlen auszusprechen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir stehen jetzt im Prozess der Auszählung. Auch diese ist sehr kompliziert. Es hat 69 verschiedene Wahlzettel gegeben. Es gab Zettel, die man schon Hefte nennen musste, mit - so in Kabul - bis zu etwa 400 Kandidaten. Entsprechend erwarten wir erst am 22. Oktober das amtliche Endergebnis.

Die Eröffnungssitzung des Parlamentes ist für den 19. Dezember vorgesehen. Die Situation dieses Parlamentes wird schwierig sein. Es ist ein Parlament, in dem es keine Organisation durch Parteien geben wird, ein Parlament, in dem auch eine ganze Menge Warlords und Drogenbarone sitzen werden. Aber trotzdem ist dieser Akt ein Erfolg der internationalen Gemeinschaft, der Abschluss des so genannten Bonn-Prozesses. Ich denke, es war gut, dass dieser politische Prozess unter maßgeblicher Beteiligung von Deutschland unmittelbar nach der Intervention in Afghanistan auf den Weg gebracht worden ist.

Erinnern wir uns daran, wie die Situation nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war. Erinnern wir uns daran, dass das Talibanregime den Schutz der al-Qaida-Organisationen vor Ort nicht aufgegeben hat. Erinnern wir uns, dass erst die Militärintervention das Talibanregime beseitigt und die Basen von al-Qaida zerstört hat.
Danach wurden uns zwei Dinge sehr schnell klar: Ein schneller Abschluss des Prozesses war nicht möglich, schon wegen der Situation, dass sich bewaffnete Truppen im Land zurückziehen können, die noch heute hoffen, dass sie ihre Basen für den internationalen Terrorismus wieder aufbauen können. Ganz besonders wichtig war für uns damals aber die Vorgeschichte des Konfliktes: 20 Jahre Bürgerkrieg und das Talibanregime waren auch die Folge einer Politik von militärischen Interventionen, etwa der Sowjetunion, sowie von indirekten Interventionen anderer Länder, auch der Vereinigten Staaten, bei denen hinterher keine Verantwortung für die weitere Entwicklung übernommen wurde. Deswegen war der ganze Petersberg-Prozess eigentlich eine Lehre, die daraus gezogen wurde: Nie wieder ein Handeln, das zu einem solchen Ergebnis führt; stattdessen muss Verantwortung übernommen werden, bis eine stabile Ordnung existiert! An diesem Punkt stehen wir heute.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es war ein sehr ambitioniertes Programm, das damals auf den Weg gebracht wurde. Ich weiß noch, wie wir hier im Bundestag, als wir zum ersten Mal über den Petersberg-Prozess debattiert haben, Zweifel hatten, ob diese ambitionierte Abfolge - Loya Jirga, Verfassungsprozess, Präsidentschaftswahlen, endgültige Verfassung, Parlamentswahlen - wirklich in der angedachten Zeit zu schaffen sei. Da gab es große Zweifel und auch viele Rückschläge. Die Bedingungen im Lande selbst waren außerordentlich schwierig - zudem die Mittel der internationalen Gemeinschaft immer begrenzt -, sodass man längst nicht das an Sicherheit schaffen konnte, was eigentlich notwendig gewesen wäre.

Auch zwischendurch gab es Zweifel; denn zunächst einmal konnte die internationale Gemeinschaft Sicherheit nur um Kabul herum schaffen. Dann wurde das Konzept mit den regionalen Wiederaufbauteams umgesetzt. Dadurch entstanden aber nur Sicherheitsinseln. Viele hatten Zweifel - auch Herr Nolting ist ja eben darauf eingegangen -, ob dieses Konzept das richtige auf dem Weg zu allgemeiner Sicherheit in Afghanistan ist.

Es gab immer auch Unterschiede in den verschiedenen Regionen. Noch heute wird im Süden und im Osten des Landes gegen die Restbestände der Taliban und von al-Qaida und gegen die Gruppen des Warlords Hekmatyar gekämpft. Anschläge gibt es weiterhin im ganzen Land.

Vieles ist erreicht worden: der Aufbau einer nationalen Armee sowie - unter der Führerschaft von Deutschland - der Aufbau einer nationalen Polizei einschließlich einer Grenzpolizei und einer Drogenpolizei. Der Kampf gegen den Drogenanbau hat erste positive, wenn auch noch völlig unzureichende Ergebnisse gezeigt. Ich glaube, wir können froh darüber sein, dass Peter Struck als zuständiger Minister deutlich gesagt hat, es werde dabei bleiben, dass die Verantwortung für den Kampf gegen den Drogenanbau auf afghanischer Seite liegt, auch wenn wir diesen Kampf logistisch unterstützen werden.

Aber eines ist klar: Ein Abbruch der internationalen Bemühungen und der internationalen Hilfe für Afghanistan kann im Augenblick nicht infrage kommen. Er wäre unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen im Gegenteil eine weitere Phase, die man etwas technisch Post-Bonn-Prozess nennt. Präsident Karzai hat am 5. September dieses Jahres schriftlich um die Verlängerung des Mandats gebeten. Der Weltsicherheitsrat hat diese am 13. September beschlossen. Wir wissen, dass eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz - möglicherweise in der zweiten Januarhälfte nächsten Jahres in London - in Vorbereitung ist.

Die Mandatsverlängerung, die wir heute beschließen, führt in eine neue Phase der Sicherheitsarbeit in Afghanistan. Aus den Inseln der Provincial Reconstruction Teams werden jetzt Regionen. Die Verantwortung unter den einzelnen Ländern ist bekanntlich aufgeteilt: Deutschland im Norden, Italien im Westen, Großbritannien im Süden, die Vereinigten Staaten im Osten und Frankreich in Kabul und Umgebung.

Ich möchte Peter Struck ausdrücklich dafür danken, dass er sich mit der wichtigen Trennung von ISAF auf der einen Seite und OEF, also Operation Enduring Freedom, auf der anderen Seite durchgesetzt hat. Dies ist wichtig, weil es eine unterschiedliche Wahrnehmung dieser beiden Missionen im Lande gibt. Dies ist auch wichtig für die Sicherheit der von uns dort eingesetzten Soldaten der Bundeswehr.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Jetzt passiert genau das, was wir immer wollten, nämlich dass aus diesen Inseln der Sicherheit Regionen von flächendeckender Stabilität erwachsen können. Da es jetzt darum geht, die gesamte Nordregion und nicht nur wie bisher die beiden Inseln Kunduz und Faizabad zu betreuen, werden mehr Kräfte benötigt. Deswegen ist es sachlich geboten, die Obergrenze - dabei handelt es sich nicht um eine dauerhafte Stationierung - auf 3 000 Mann zu erhöhen.

Angesichts der neuen Verantwortung ist eine wechselseitige Unterstützung im Einzelfall notwendig. Ich bin dankbar dafür, dass klar angekündigt wurde: Der Bundestag wird jederzeit zeitnah unterrichtet, sodass wir immer auf dem Laufenden bleiben werden.

Ich möchte deutlich machen, dass der Bundestag heute mit großer Mehrheit der Kampagne \"Raus aus Afghanistan!\" eine Absage erteilen muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Diese Kampagne wird als Friedenspolitik verkauft. Sie ist aber das Gegenteil. Wer heute \"Raus aus Afghanistan!\" fordert, der bereitet den Weg für die Rückkehr von Krieg und Bürgerkrieg in diesem Land, der gefährdet die Sicherheit in Afghanistan, aber auch die Sicherheit der Weltgemeinschaft, weil dies letzten Endes der Rückkehr der Organisationsstrukturen von al-Qaida den Weg bereiten würde.

Vom Bundestag wird heute eine klare Botschaft ausgesandt: Wir stehen zu unserer Verantwortung, die mit dem Petersberg-Prozess begonnen hat und die sich hauptsächlich auf politische, aber eben auch, sicherheitspolitisch flankiert, auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse stützt. Die Mission ist erst beendet, wenn wir von Präsident Karzai die Nachricht bekommen, dass unsere Hilfe nicht mehr benötigt wird und dass die afghanischen Kräfte selber für Sicherheit vor Ort sorgen können. Vorher ist eine Beendigung dieser Mission nicht zu verantworten. Das muss die Botschaft unseres gemeinsamen Beschlusses sein.

Abschließend möchte ich sagen: Wir sind sehr dankbar dafür, dass die Bundeswehr ihre Aufgabe vor Ort zusammen mit den vielen zivilen Organisationen und NGOs aus aller Welt wahrnimmt, damit wir diese Mission erfolgreich zu Ende führen können. Mit diesem Dank, den ich im Namen meiner Fraktion, aber auch, wie ich denke, im Namen aller anderen Fraktionen ausspreche, möchte ich meinen Beitrag beenden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)