Rede Gernot Erler, 240. Sitzung des Deutschen Bundestages, 22. Juni 2017: Verlängerung KFOR

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich muss man eine Debatte über die Verlängerung des deutschen Anteils an der Kosovo Force einleiten mit den Worten: Alle Jahre wieder. Tatsächlich reden wir hier seit 18 Jahren – immer fast genau am gleichen Tag im Juni – über diesen Dauereinsatz. Das Einzige, was sich dabei wirklich ändert, sind die Obergrenzen der Einsatzkräfte. Beim ersten Bundestagsmandat lag diese noch bei 8 500 Mann. Im vergangenen Jahr ging dann die Obergrenze runter auf 1 350 Soldatinnen und Soldaten. Damit belegt Deutschland Platz drei bei den Truppenstellern für KFOR, die gegenwärtig eine Gesamtstärke von 4 400 Kräften aufweist. Jetzt soll für das bevorstehende Jahr die Obergrenze für die Bundeswehrsoldaten erneut herabgesetzt werden, nämlich auf 800, also gerade noch ein Zehntel der Startgröße von 8 500 Kräften. Auch der Text von Antrag und Begründung der Bundesregierung zur KFOR-Verlängerung ist übrigens jedes Jahr fast derselbe. Wir finden dort vertraute Formeln: Die Lage im Kosovo sei überwiegend ruhig und stabil, aber es gebe immer noch ein Konflikt- und Eskalationspotenzial, und es könne zu unerwarteten Zwischenfällen kommen. Ich füge hinzu: wie etwa zuletzt im Januar, als plötzlich die Serben einen Zug nach Mitrovica schickten, auf dem geschrieben stand: Kosovo ist Serbien. Ja, es gibt die einheimischen Polizeikräfte der Kosovo Security Force und auch die Einsatzkräfte der Kosovo Armed Forces, aber es besteht eben ein Restbedarf an der internationalen Streitmacht von KFOR, auch wenn sich das Aufgabenspektrum immer mehr verschiebt: weg von Eingreiffällen hin zu Aufklärungs- und Beratungsaufgaben. Wer die Lage im Kosovo ein wenig kennt und dann noch den Blick auf die Gesamtsituation in der Westbalkanregion richtet, der wird nicht der Aussage widersprechen, dass KFOR tatsächlich immer noch gebraucht wird, auch im 18. Jahr nach dem Kosovo-Krieg. Und weil das so ist, wird die SPD-Fraktion dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, wie alle Jahre wieder, und es ist schon richtig: Das anerkennenswerte Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten im Kosovo liegt in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse, und es entspricht unserer Verantwortung als Beteiligte an dem Kosovo-Krieg von 1999. Dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden, auch noch nach 18 Jahren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Also alles gut? – Nein, es ist nicht alles gut. Die Lage im Kosovo bereitet uns Sorgen, und zwar erhebliche. Am 11. Juni fanden vorgezogene Neuwahlen statt, nach einem Misstrauensvotum der Opposition, das auch von einer der Regierungsparteien unterstützt wurde. Als stärkste Kraft ging aus den Wahlen die sogenannte Koalition der Kommandanten hervor, eine Dreierkoalition ehemaliger UCK-Kriegsherren. Ihr Kandidat für den Regierungschef ist Ramush Haradinaj, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, der nur deswegen nicht hinter Gittern sitzt, weil Zeugen ihre Aussage zurückzogen oder unter ungeklärten Umständen ums Leben kamen. Zweitstärkste Kraft wurde die linksnationalistische Gruppierung Vetevendosje, auf Deutsch Selbstbestimmung, mit Albin Kurti als Premierministerkandidat. Dieser fordert öffentlich eine Vereinigung des Kosovo mit Albanien und den Abbruch der Verhandlungen mit Serbien, solange Belgrad nicht die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt hat. Einer dieser beiden Wahlgewinner ist auf jeden Fall an der nächsten Regierung beteiligt. Da bleibt es rätselhaft, wie die Hauptaufgaben des Kosovo gelöst werden sollen, und die heißen: Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption sowie Aufarbeitung der Kriegsverbrechen. Es ist deprimierend, dass trotz KFOR und der größten Rechtsstaatsmission, die je von der EU entsandt worden ist, nämlich EULEX Kosovo, der zwischenzeitlich bis zu 2 000 Polizisten, Richter, Gefängnis- und Zollbeamte angehörten, und trotz aller Anstrengungen der Fortschritt so gering ist. Die Neue Zürcher Zeitung hat die Lage im Kosovo kürzlich mit einem Satz auf den Punkt gebracht. Dieser lautet – ich zitiere –: „Arbeitslosigkeit, Korruption und Auswanderung lähmen die Gesellschaft …“ Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei annähernd 70 Prozent. Die korrupten Eliten plündern weiter das Land aus. Kritiker sagen: Sie lassen sich ihr Stabilitätsversprechen teuer bezahlen, auch aus den umfangreichen Hilfszahlungen, die aus dem Ausland kommen. Wer soll sich da wundern, dass vor allem junge Leute die Flucht ergreifen? Wir haben in Deutschland nicht vergessen, wie viele Menschen im Jahr 2015 aus dem Kosovo und anderen Westbalkanstaaten nach Deutschland flohen, weil sie einfach in ihrem eigenen Land keine lebenswerte Perspektive für sich erkennen konnten. Man kann nicht über KFOR reden und beschließen, ohne die Frage zu stellen, wie es eigentlich politisch im Kosovo und in der ganzen Westbalkanregion weitergehen soll und welchen Herausforderungen wir uns dort stellen müssen. Seit 2014 gibt es den sogenannten Berlin-Prozess, aber Beobachter vermissen da konkrete Fortschrittsprojekte. Eine neue Südosteuropastrategie der EU wird immer dringlicher, nachdem die 2003 gegebene EU-Beitrittsperspektive mit ihren quälend langsamen Umsetzungsschritten längst nicht mehr die erhofften positiven Wirkungen erzielt. Vor diesem Hintergrund hat der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel am 31. Mai bei der Aspen-Südosteuropa-Außenministerkonferenz einige sehr konkrete Vorschläge gemacht, die aus meiner Sicht die Unterstützung dieses Hauses verdienen. Er hat dafür geworben, dem Erweiterungsprozess mit den Westbalkanländern einen neuen Push zu geben. Er fordert, mehr Mittel konkret zur Linderung sozialer Notlagen einzusetzen. Es gehe darum, in einem Berlin-Prozess reloaded die regionale Kooperation zu stärken und dabei sichtbare Verbesserungen für die Menschen zu erreichen. Große Infrastrukturprojekte wie etwa die Autobahn, die Serbien, Kosovo und Albanien verbinden soll, müssten beschleunigt werden, aber auch die IT-Infrastruktur müsse verbessert werden, zum Beispiel über einen regionalen IT-Gipfel. Schließlich sollte ein Fonds aufgelegt werden, um die duale Ausbildung, mit der Deutschland so gute Erfahrungen gemacht hat, vor Ort zu etablieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus solchen Bausteinen sollte eine neue EU-Strategie für Südosteuropa errichtet werden. Europa konnte die vier blutigen Balkankriege der 90er-Jahre nicht verhindern. Die EU hat daraus aber gelernt und hat der ganzen Region ab 1999 mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa und 2003 mit der EU-Beitrittsperspektive das Tor zu einer positiven Europazukunft aufgestoßen. Jetzt muss eine Erosion dieser positiven Europavision in einer Region verhindert werden, in der sich längst andere Player an einer offensiven Einflusspolitik alter Schule versuchen, ohne dabei das Wohlergehen der Menschen in dieser Region im Auge zu haben. Es ist jetzt Zeit, politisch zu handeln – jenseits der Sicherungsaufgaben, für die wir KFOR weiter brauchen. Aber das ist bereits eine Aufgabe für den nächsten Bundestag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Rede verabschiede ich mich nach mehr als 30 Jahren und nach acht Wahlperioden aus dem Deutschen Bundestag. Ich habe mich in dieser ganzen Zeit vor allem mit der internationalen Politik beschäftigt, mit dem Schwerpunkt auf Russland, Osteuropa, Zentralasien und Südosteuropa. Wir haben in Deutschland eine parlamentarische politische Kultur mit bemerkenswerten Rechten des Bundestages bei internationalen Fragen entwickelt. Dabei sprechen wir nur über einen Ausschnitt, wenn wir auf die strikte Genehmigungspflicht jedes auch noch so begrenzten Auslandseinsatzes der Bundeswehr verweisen. In Wirklichkeit hat sich der Bundestag erhebliche Mitwirkungs- und Kontrollrechte auf allen Feldern der Außen-, Sicherheits- und internationalen Politik unseres Landes gesichert, und er hat bisher alle Versuche abgeschmettert, diese Rechte einzuschränken. Solche Versuche hat es durchaus gegeben. Gerade die heutige 19. Debatte um den Einsatz im Kosovo ist ein guter Hintergrund, um auf dieses Alleinstellungsmerkmal unserer parlamentarischen politischen Kultur hinzuweisen. Wer einmal einen Blick darauf wirft, welche Rechte zum Beispiel unsere französischen Kolleginnen und Kollegen bei der Pariser Außen- und Sicherheitspolitik haben, weiß, wovon hier die Rede ist. Ich plädiere nachdrücklich dafür, an diesem Alleinstellungsmerkmal festzuhalten, so unbequem es für das Regierungshandeln manchmal auch sein mag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Noch nie waren parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle bei der Bewältigung internationaler Herausforderungen so nötig und wichtig wie heute. Wir sind konfrontiert mit den Folgen von politischen Entscheidungen, die sich über Regeln und Prinzipien einschließlich des Völkerrechts hinweggesetzt haben. Der Kosovokrieg, so hat es Kofi Annan einmal gesagt, bewegte sich in einer Grauzone des Völkerrechts. Die Folgen beschäftigen uns bis heute. Der Irakkrieg, an dem Deutschland zum Glück nicht teilgenommen hat, war völkerrechtswidrig und hinterließ eine ganze Failing-State-Landschaft, die sich als Biotop für den islamistischen Terror erwiesen hat. Der Missbrauch der Bengasi-Resolution des UN-Sicherheitsrats vom März 2011 hat uns letztlich vor schier unlösbare Probleme in Libyen gestellt, hat internationales Vertrauen zerstört und nebenbei wahrscheinlich noch das Prinzip der Schutzverantwortung auf Dauer diskreditiert. Wer heute die russische Seite auf ihre Regelverletzungen im Ukraine-Konflikt anspricht, bekommt immer dieselbe Antwort: Und was habt ihr im Kosovo, im Irak und in Libyen gemacht?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht!)

In dieser Falle stecken wir. Da herauszukommen und neues Vertrauen zu schaffen, wird sehr viel Kraft kosten. Eine Anstrengung, die ohne den konstruktiven und kreativen Einsatz von Parlamentariern und Parlamenten nicht gelingen wird. Eine Weltpolitik als Reparaturbetrieb hat keine Zukunft. Unser Ziel muss die globale Verantwortungspartnerschaft bleiben, in die wir alle relevanten Staaten mit einbeziehen müssen. Dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, soll meine letzte Botschaft von diesem Pult aus gewesen sein.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Anfügen möchte ich nur ein kurzes Wort des Dankes: an meine Mitarbeiter, die ich sehr vermissen werde, an die Beschäftigten dieses Hohen Hauses, die ihre Arbeit ebenso lautlos wie effizient und freundlich verrichten, und an alle Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, immer mit Respekt und immer fair. Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: „... immer mit Respekt und immer fair“: Kolleginnen und Kollegen des gesamten Hauses haben Ihnen eben mit ihrem Beifall hier zugestimmt. Ich denke, ich spreche im Namen aller Abgeordneten und auch der von Ihnen angesprochenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, wenn wir Ihnen für Ihre weiteren Unternehmungen – ich bin fest davon überzeugt, wir werden von Ihnen hören – alles Gute wünschen.

(Beifall)