Gernot Erler in der 101. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. April 2015: Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginns der Vertreibung und Massaker an den im Osmanischen Reich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor den Opfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tun
dies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafte und Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtens und im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewan und ganz Armenien, sondern an vielen Orten der welt­weiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksal der Opfer erinnert wird.

Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zur deutschen Mitverantwortung für das Geschehen. Und Mitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld, die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest - es ist gut belegt -, dass deutsche Diplomaten über die Ausrottung und Vernichtung der christlichen Armenier nach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türki­schen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung aber mit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündeten keinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungs­politik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauen und Stillschweigen Deckung verschaffte.

Was Deportation damals bedeutete, das hat Armin Theophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Otto­manischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmar von der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Be­richt überliefert. Ich zitiere:

„Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, ver­dursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euph­rat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie."

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sind dazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerar­beit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diaspora zerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnen auch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen.

Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armeni­schen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wie folgt zitiert: „Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum für das armenische Volk und die internationale Ge­meinschaft.

Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauen und über historische Fakten nachdenken". „Niemals wieder" müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz ver­dient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das tra­ditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen und den engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nicht nur zurückschauen" heißt in der Konsequenz, sich für eine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabei das immer noch verbissen geführte Ringen um die Völ­kermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getra­genen Versöhnungsprozess münden zu lassen.

Ohne ei­nen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Trau­mata in beiden Ländern nicht aufhören können.

Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normali­sierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zum Greifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle - Produkt zweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimver­handlungen - sahen die Aufnahme diplomatischer Be­ziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich ei­ner gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Sie zerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte in beiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemesse­ner, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangs­punkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungs­prozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegende Antrag der Koalition, der die Bundesregierung nach­drücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstüt­zen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossener Antrag des Europäischen Parlaments.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf tür­kischer Seite positive Signale. Schon im vergangenen Jahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armeni­schen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertrei­bungen gesprochen. In einem Schreiben von Minister­präsident Davutoglu heißt es - ich
zitiere -: „Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Ar­menier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir spre­chen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus."

Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwor­tung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. In Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehun­gen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach Auswegen zu helfen.

Wir wissen aber auch um die schwierige Situation der kleinen Republik Armenien: mit den geschlossenen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem un­gelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessen Grenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenleben zu verzeichnen waren als in
allen Jahren zuvor, mit den besonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind, als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkom­men ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 den Entschluss fasste, Mitglied der von Russland geführten Zollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunion zu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eige­nen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problems und die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Je­rewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen für die 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Land braucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Von unserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und das klare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Ab­geordneten der LINKEN)