Gernot Erler in der 2. Sitzung des Deutschen Bundestages, 18. November 2013: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin - Gipfel der Östlichen Partnerschaft am 28./29. November 2013 in Wilna

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Mit Ihrer Genehmigung komme ich gleich auf den Tagesordnungspunkt „Östliche Partner­schaft" zu sprechen; ich habe auch vor, dabei zu bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Östliche Part­nerschaft hat sich aus der EU-Strategie der ENP, der Eu­ropäischen Nachbarschaftspolitik, heraus entwickelt, die ihren Beginn 2003 hatte. Damit ordnet sich die ÖP in eine der wichtigsten EU-Strategien neben der EU-Erwei­terung ein, nämlich die Schaffung von Regionen koope­rierender Staaten rund um die Europäische Union mit dem Ziel, Stabilität in der EU-Nachbarschaft vor allem durch gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit und Ver­trauensbildung zu erreichen. Zu diesem Programm ge­hörten und gehören neben der Östlichen Partnerschaft die Ostseekooperation, der Stabilitätspakt für Südost­europa, die EMP, der Barcelona-Prozess, die Union für das Mittelmeer, die Black Sea Synergy und die Zentral­asienstrategie der EU, zuletzt auch die Donauraumstrate­gie.

Der Ansatz ist immer derselbe: Die EU prämiert - auch mit finanzierten Programmen und Projekten - die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und wirbt dabei auch für europäische Werte und Verhaltensweisen. So steht das auch in dem Programm der Östlichen Partner­schaft, die im Mai 2009 auf dem Gipfel in Prag auf den Weg gebracht wurde.

Hier war sehr deutlich, dass es da ein besonderes Inte­resse von Polen gab, das auch noch etwas anderes im Sinn hatte, nämlich möglichst die Ukraine, das Nachbar­land von Polen, näher an die europäische Integration he­ranzuführen. Offiziell sollte die Östliche Partnerschaft aber eben gerade nicht eine Beitrittsperspektive für die sechs beteiligten Länder schaffen. Das haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, eben auch noch einmal unterstrichen.

Es gibt einen Arbeitsrhythmus der ÖP mit Gipfeln alle zwei Jahre und jährlichen Außenministertreffen. Es gab schon zwei Gipfel, und wir stehen jetzt vor dem drit­ten in Vilnius. Viereinhalb Jahre sind jetzt vergangen. Deshalb ist es vielleicht sinnvoll, einmal eine kritische Zwischenbilanz zu ziehen, und das will ich versuchen.

Dabei will ich zunächst die regionalen Konflikte be­trachten. Es war ein Anspruch der Östlichen Partner­schaft, diese Konflikte zumindest zu entschärfen. Ich muss feststellen, dass die Probleme bei den drei soge­nannten Frozen Conflicts weiter virulent sind: Das gilt für Nagornij Karabach, wo die beiden Konfliktpartner Armenien und Aserbaidschan eher auf Aufrüstung set­zen, als dass es Fortschritte bei dem sogenannten Minsk-Prozess gegeben hätte. Das gilt leider auch für Ab­chasien und Südossetien, wo es nach wie vor starre Fronten zwischen Russland und Georgien gibt; vielleicht können wir jetzt Hoffnung haben, dass sich durch die Veränderungen in Georgien im Verhältnis der beiden Länder etwas ändert. Das gilt auch für den Transnistrien-Konflikt, in den die Meseberg-Initiative zunächst Bewe­gung gebracht hat - es hat auch wieder die Fünf-plus-Zwei-Verhandlungen gegeben -; die meisten Beobachter sind sich jedoch darin einig, dass das Momentum der Meseberg-Initiative allmählich ausläuft, aber zumindest war das ein Teilerfolg.

In der Summe kann man bezogen auf die Konflikte nicht sagen, dass die regionale Zusammenarbeit beson­ders gestärkt wurde.

Ganz anders sieht das bei der Heranführung an die EU aus: Hier setzt Brüssel auf eine Verbindung von As­soziationsagreements mit Freihandelsabkommen, über die jahrelang verhandelt wurde, verbunden mit einer ver­lockenden Zugabe, nämlich der Visaliberalisierung. Herr Bartsch, das, was Sie hier fordern, gehört also ganz offi­ziell längst zur EU-Politik vor Ort. Daneben gibt es auch eine vertiefte Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften, der Civil Societies, der beteiligten Länder. Näheres dazu wird gleich meine Kollegin Katarina Barley sagen.

Von Anfang an war Belarus wegen der innenpoliti­schen Situation und auch wegen der Zugehörigkeit zur Zollunion aus diesen Angeboten ausgenommen. Aser­baidschan musste als Nicht-WTO-Land zunächst auch in den Wartestand und bekommt jetzt so etwas wie eine strategische Modernisierungspartnerschaft. Mit den an­deren vier Ländern - Ukraine, Moldova, Georgien und Armenien - wurden erfolgreich entsprechende Assoziie­rungsabkommen ausgehandelt. Armenien entschied sich allerdings kürzlich, im Oktober, doch dafür, der Zoll­union von Putin beizutreten.

Der Höhepunkt des Gipfels sollte die Unterzeichnung des Abkommens mit der Ukraine sein. Dieser Erfolg - das wissen wir leider aus den aktuellen Mitteilungen - ist im Augenblick alles andere als gesichert, weil nicht klar ist, ob die Werchowna Rada, also das ukrainische Parlament, in letzter Minute noch über einige wichtige Gesetze, zum Beispiel ein Gesetz über die Reform des Wahlrechts und ein Gesetz über die Reform der Staats­anwaltschaft, sowie eine Lösung für Frau Timoschenko entscheidet. Es gibt eigentlich nur noch den morgigen Tag als Chance dafür, und die Außenminister in Brüssel schauen im Augenblick tatsächlich nach Kiew, ob das noch gelingt.

Wie konnte die Östliche Partnerschaft in eine solch kritische Situation geraten, und wie lässt sich erklären, dass wir hier womöglich vor einem regelrechten Schei­tern der Ostpolitik der EU stehen, wenn morgen in Kiew nicht noch ein kleines Wunder passiert?

Bei dieser Frage stößt man sehr schnell auf den Fak­tor Russland. Viereinhalb Jahre nach dem verheißungs­vollen Auftakt der Östlichen Partnerschaft muss man feststellen: Die EU ist nicht müde geworden, zu versi­chern, dass sich ihre Annäherungspolitik gegenüber den sechs östlichen Nachbarn nicht gegen die Interessen Russlands richtet - Frau Bundeskanzlerin, auch Sie ha­ben das eben noch einmal bestätigt -, aber es ist leider nicht gelungen, die russische Führung davon zu überzeu­gen. Diese hat sich in einem Denken in geopolitischen Einflusskonkurrenzen als Nullsummenspiel verfestigt. Danach versucht die EU ganz einfach, den russischen Einfluss in dieser Region zulasten von Russland zurück­zudrängen.

Der EU ist es auch nicht gelungen, die Russische Fö­deration von Anfang an in die Aktivitäten der Östlichen Partnerschaft zum eigenen Nutzen einzubinden. Insofern steht hier die Zollunion in einer Konkurrenz zu den As­soziationsabkommen der EU. Vielleicht ist es auch nicht immer von Anfang an klar geworden, dass es hierbei ei­nen logischen Unterschied bzw. ein logisches Entweder-oder gibt: Man kann nicht beiden Organisationen ange­hören.

Dieser Konflikt wurde durch das verstärkt, was Wladimir Putin im Wahlkampf mit der sogenannten Eurasischen Union und dem Plan entwickelt hat, bis 2015 eine erweiterte Zollunion zu schaffen und dafür weitere Mitglieder zu gewinnen. Das ist zwar vielleicht jetzt mit Armenien und Kirgistan gelungen, aber es ist völlig klar: Die Ukraine spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob diese Idee einer Neuorganisation des post­sowjetischen Raumes gelingen kann oder nicht.

Vor diesem Hintergrund ist zu bedauern, dass sich tat­sächlich eine Art geopolitisches Ringen zwischen Russ­land und der EU entwickelt hat. Wir sehen auch mit gro­ßem Bedauern, in welcher Weise Russland hier Druck ausübt. Es gibt eine Person namens Gennadij Onischenko,die es zu einer traurigen Berühmtheit gebracht hat. Das ist der oberste russische Lebensmittelkontrolleur. Er hat plötzlich festgestellt, dass es bei ukrainischer Schoko­lade, bei Wein aus Moldova und bei Milchprodukten aus Litauen schwerwiegende Probleme gibt, die allerdings bisher kein anderer Lebensmittelkontrolleur weltweit festgestellt hat. Natürlich hat das zu Embargosituationen geführt. Das Signal ist klar: Wer mit der EU kooperiert, hat Nachteile im Handel mit Russland.

Es gibt auch ein zweites Instrument: den Gaspreis. Ganz plötzlich hat Armenien, als es sich für die Zoll­union entschieden hat, eine Reduktion des Gaspreises in erheblichem Umfang gewährt bekommen. Der stellver­tretende Ministerpräsident Rogosin hat dem kleinen Land Moldova, nebenbei bemerkt dem ärmsten Land in ganz Europa, mit einem kalten Winter gedroht. Dieser Hebel wird also ebenso eingesetzt wie schließlich auch der Sicherheitshebel. Armenien hat sich auch deshalb so entschieden, weil es nicht weiß, wie es anders zu einer größeren Sicherheit in Bezug auf den Konkurrenten Aserbaidschan kommen soll. Es gibt auch Angebote für erhebliche Waffenlieferungen an Kiew von russischer Seite.

Nach viereinhalb Jahren Östlicher Partnerschaft steht also die EU leider vor einer ziemlich deprimierenden Al­ternative: Entweder es gibt einen Rückschlag für die Ostpolitik der EU, oder es gibt einen Dauerkonflikt zwi­schen Russland und den Ländern der Östlichen Partner­schaft, die dann auch zu Konflikten mit der EU werden.

Insofern brauchen wir tatsächlich eine Initiative auch von Deutschland aus, uns kreativ mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen. Wir brauchen Ideen, wie wir aus dieser Konfliktlage herauskommen. Denn die Östliche Partnerschaft ist wertvoll. Sie muss unterstützt werden, und sie braucht Unterstützung in dieser schwierigen Si­tuation.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)