Gernot Erler in der 214. Sitzung des Deutschen Bundestages, 13. Dezember 2012: ISAF/Afghanistan
Gernot Erler: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede neue Mandatsentscheidung sollte damit verbunden sein, Rechenschaft darüber abzulegen: Wie weit sind wir mit unseren Zielen, Hoffnungen und Erwartungen in Afghanistan?
Einmal mehr müssen wir von einem gemischten Bild sprechen. Die Erreichung des Ziels, ISAF bis Ende 2014 abzuschließen, setzt voraus, dass die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Seite - „transition" genannt oder „intequāl" auf Dari und Paschtu - funktioniert. Hierfür sind im vergangenen Jahr weitere Voraussetzungen geschaffen worden. Von den geplanten 352 000 afghanischen Polizisten und Soldaten galt im November des Jahres eine Zahl von 337 000 als erreicht. Quantitativ wären das 95 Prozent des Planziels. Aber wir hören, in qualitativer Hinsicht gilt der Ausbildungsstand immer noch als problematisch, und die Schwundquote macht weiterhin Sorgen.
Die Transition liegt im Plan. Drei Tranchen, wie man das dort nennt, sind vollzogen; zwei sollen noch folgen. Im Antrag der Bundesregierung heißt es, dass mit der vierten Tranche, die noch in diesem Jahr begonnen werden soll, schon 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter dem Schutz der eigenen Sicherheitskräfte leben werden.
Das darf aber nicht über einen Umstand hinwegtäuschen: In der Logik des Transition-Prozesses liegt es, dass die schwierigsten Gebiete - ich denke einmal an die Taliban-Hochburg Helmand - erst zum Schluss in die afghanische Verantwortung übergeben werden. Hier stehen wir vor einem Berg, dessen Gipfel erst noch erklommen werden will.
Zur Frage der Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle und Angriffe durch Aufständische gibt es unterschiedliche Auskünfte. Fest steht: Im Gang der Transition verschiebt sich die Anzahl der Opfer in Richtung der afghanischen Sicherheitskräfte. Das liegt in der Logik der Verantwortungsübergabe an die afghanischen Kräfte. Aber leider nehmen parallel dazu die sogenannten Internal Attacks zu, also Attentate durch uniformierte afghanische Soldaten auf ihre eigenen Kameraden oder auf ISAF-Kollegen. In diesem Jahr waren das leider schon annähernd 50 Fälle. Das hat auch auf der deutschen Seite - wir sind zum Glück nicht so sehr betroffen - schon zu Veränderungen der Art und Weise der Ausbildung geführt.
Der plangemäße Fortgang der Transition erlaubt eine stufenweise Reduzierung der eingesetzten deutschen ISAF-Kräfte, wie wir sie immer gefordert haben. Über die Grenzen von 5 350, 4 900 und jetzt 4 400 Mann werden wir am Ende dieser Mandatszeit - Herr Minister Westerwelle hat es eben bestätigt - nur noch 3 300 Bundeswehrkräfte im Einsatz haben. Der Ende November vorgelegte fünfte „Fortschrittsbericht Afghanistan", für den wir uns bedanken, ermöglicht es uns allen, aber besonders unserer Taskforce Afghanistan-Pakistan, sich mit allen Einzelheiten der Entwicklung in Afghanistan detailliert auseinanderzusetzen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird mit deutlicher Mehrheit dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der ISAF-Mission zustimmen. Wir machen uns allerdings keine Illusionen über die verbleibende Größe und Gefährlichkeit dieses Einsatzes, und wir werden immer wieder kritische Fragen stellen, zuallererst zur Anpassung des Einsatzkonzeptes angesichts des Fortgangs der Transition und besonders zur Frage der angemessenen Ausrüstung der Bundeswehr für die verbleibenden Herausforderungen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass gerade heute zwei Kampfhubschrauber Tiger von Leipzig nach Masar-i-Scharif verfrachtet werden, auf die unsere Einheiten vor Ort lange - sehr lange - gewartet haben, und dass bis Weihnachten zwei weitere Tiger folgen sollen, bis Frühjahr 2013 dann auch noch vier NH-90, also Sanitätshubschrauber.
(Beifall des Abg. Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU])
Aber wir stellen eben auch fest - das sage ich in Richtung Bundesregierung -, dass diese gerade für den planmäßigen Rückzug wichtige Ausrüstung mit fünf Jahren Verspätung erfolgt. Wir fordern die Bundesregierung auf, rechtzeitig mit uns das Gespräch über das sich erst in allgemeinen Konturen abzeichnende Anschlussmandat ab 2015 zu suchen. Herr Minister, Sie haben darüber jetzt gar nichts gesagt. Vielleicht wird der nächste Redner dazu etwas sagen. Ein Name für dieses Mandat ist schon da - er klingt ein bisschen holprig -: International Training, Advisory and Assistance Mission, abgekürzt: ITAAM. Viel mehr wissen wir aber nicht.
Wir brauchen Auskunft zu den genauen Aufgaben dieser Anschlussmission, zu ihrem Gesamtumfang, zu dem deutschen Anteil, einschließlich der Frage der sogenannten Peripherie, also dazu, wie viele zusätzliche Kräfte pro Ausbilder auf deutscher Seite da eigentlich gebraucht werden. Nicht nur die Opposition, sondern auch die Öffentlichkeit hat hier den Anspruch, zeitnah informiert und einbezogen zu werden. Wir werden es jedenfalls nicht akzeptieren, wenn wir hier irgendwann vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Wir dringen auch darauf, dass die Bundesregierung verstärkte Anstrengungen unternimmt, um in dem politischen Bereich voranzukommen, bei dem es bisher am langsamsten vorangeht. Dazu gehört an erster Stelle das, was wir „Good Governance" nennen, also eine bessere Vertrauensbildung dieser Regierung und des Präsidenten Karzai gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Daneben ist der Versöhnungs-, Verhandlungs- und Reintegrationsprozess zu nennen. Es ist in der Tat so, dass wir hier die wenigsten Fortschritte erkennen können und dass es auch regelrechte Rückschläge gibt. Verhandlungsstränge, die schon etabliert worden waren, sind inzwischen wieder abgerissen, ohne dass man erkennen kann, ob das die Taliban oder das Haqqani-Netzwerk oder Hekmatjar waren. Leider ist wenig von dem übrig geblieben, worauf wir eine Zeit lang große Hoffnungen gesetzt haben.
Es müssen größere Anstrengungen in Richtung Pakistan unternommen werden; darüber haben Sie, Herr Außenminister, auch nichts gesagt. Es ist einfach so, dass wir mit gemeinsamer Anstrengung diesen Prozess voranbringen müssen; denn die Geschichte lehrt uns, dass noch nie ein Land einen Aufstand erfolgreich beenden konnte, das von einem Nachbarland kontinuierlich und nachhaltig unterstützt wurde. Das hat es bisher noch nicht gegeben. Diese Lehre muss in Sachen Pakistan zu international viel intensiveren Anstrengungen führen, als das bisher sichtbar ist.
Wir erwarten auch auf diesem Gebiet ständige Unterrichtung durch die Bundesregierung und einen nachhaltigen gemeinsamen Beratungsprozess.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)