Gernot Erler in der 187. Sitzung des Deutschen Bundestages, 28. Juni 2012: 25 Jahre Reagan-Rede vor dem Brandenburger Tor

TOP 25: 25 Jahre Reagan-Rede vor dem Brandenburger Tor - „Mr. Gorbatchev, tear down this wall!" - Deutschland sagt „Danke!" für die Unterstützung der USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung

(die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben worden)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Wir haben es heute mit einem Antrag der Regierungskoalition zu tun, der Passagen enthält, denen man nicht widersprechen kann. Zwar wird man etwas misstrauisch bei der Wortwahl im Titel der Antrags, wo es heißt: „Deutschland sagt ‚Danke‘! für die Unterstützung der USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung." Weil das so klingt, als ginge gleich der Vorhang auf zu einer Fernsehshow mit Benefizcharakter.

Aber prinzipiell möchte man sich einem Ausdruck von Dankbarkeit nicht verweigern: gegenüber der Schutzmacht Amerika, die tatsächlich viel zum Schutz Berlins und auf dem Weg zur deutschen Vereinigung beigetragen hat.

Allerdings kann die SPD-Fraktion wohl dem Dank, aber nicht dem Antrag zustimmen. Und das hat folgende Gründe:

Der Koalitionsantrag zerfällt in zwei Teile: in einen ideologie- und pathosschwangeren Begründungsteil und in einen armseligen, ja im wahrsten Sinne des Wortes nichtssagenden Forderungsteil.

Geschichtsklitterung ist noch ein Euphemismus für die Zusammenfassung des Kalten Krieges und seiner Überwindung, die wir da geboten kriegen: Demnach hat Deutschland den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung in erster Linie den Vereinigten Staaten und der Inspiration von Präsident Reagan mit seiner Rede vom 12. Juni 1987 zu verdanken. Geholfen haben dann noch die NATO, Helmut Kohl sowie der, ich zitiere, „maßgebliche Einfluss liberaler Außenpolitiker" wie Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher.

Lobend erwähnt wird die Schlussakte von Helsinki und Walter Scheels Rolle bei dem ganzen Prozess, verschwiegen aber wird, dass ausgerechnet die CDU/CSU wegen der gleichberechtigten Teilnahme der DDR am Ende gegen die Unterzeichnung gestimmt hat. Willy Brandt, dessen neue Ost- und Deutschlandpolitik den Weg zum Helsinki-Prozess erst geebnet hatte, wird in einem einzigen Satz erwähnt. Helmut Schmidt, während dessen Amtszeit als Bundeskanzler die Schlussakte unterzeichnet wurde, wird unterschlagen. Aber richtig empörend ist, dass zwei Akteure praktisch ausgeblendet werden: die Menschen in der ehemaligen DDR und in Osteuropa, deren Bürgerbewegungen das Ende der östlichen Regime herbeigeführt haben, und die Rolle von Michail Gorbatschow, ohne dessen mutigen Reformkurs mit Glasnost und Perestrojka und ohne dessen ebenso mutige Zustimmung zur deutschen Vereinigung diese historische Zäsur gar nicht oder nur mit erheblichen Opfern hätte stattfinden können!

Ich frage mich, was für ein Geschichtsverständnis haben eigentlich die Autoren des Antrages, also die Kollegen Mißfelder, Beyer und Wegner von der CDU/CSU sowie Leibrecht, Stinner und Brüderle von der FDP? Auf jeden Fall eines, das schon im 19. Jahrhundert als veraltet galt. Nämlich eines, wo Männer Geschichte machen und wo Geschichte nicht etwa gesellschaftlichen Bewegungen und Veränderungen folgt und von den Menschen selbst geprägt wird!

Der Antrag erweckt die falsche Vorstellung, am 12. Juni 1987 habe Ronald Reagan Gorbatschow aufgefordert, die Mauer niederzureißen, und 2 ½ Jahre später sei der sowjetische Generalsekretär dieser Aufforderung endlich gefolgt.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Das Prophetische an Ronald Reagans Rede fiel erst viel später auf, als die Mauer tatsächlich bereits gefallen war. Gar nicht so positiv war die Reaktion auf seine konkreten Vorschläge vom 12. Juni 1987, nämlich Westberlin zu einem Luftdrehkreuz zu machen und als Ort für Konferenzen über Menschenrechte und Rüstungskontrolle zu nutzen, Sommeraustauschprogramme mit jungen Ostberlinern zu veranstalten oder sogar die Olympischen Spiele nach West- und Ostberlin zu holen.

Neun Monate später überprüfte der „Spiegel", was aus diesen Vorschlägen geworden ist und kommt zu dem Ergebnis: „Ronald Reagans Berlin-Initiative vom Juni vorigen Jahres erweist sich als Flop - mit womöglich schädlichen Folgen". Der Spiegel-Artikel stellt die These auf, Reagans Vorstoß verfolgte das Ziel, „die Russen weltweit vorzuführen und in die Defensive zu treiben - in Afghanistan wie an der Mauer in Berlin", und er vermutet, das sei auch eine Antwort auf Rechtskonservative in der CDU/CSU, die Kritik an der atomaren Abrüstung übten, und auf den „glücklos agierenden CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen", der bei den westlichen Alliierten als „ungeschickt und vorlaut" gelte.

So ist das manchmal bei historischen Reden: Die Geschichte muss sich erst einmal auf sie zu bewegen, um die historische Aura zu übertragen, und dann verdient das Prädikat des Historischen auch nur ein einziger Satz, herausgebrochen aus einer halbstündigen Rede, die keineswegs von allen - wir haben es gehört - auf Begeisterung stieß!

Eines steht fest: Zu dem schwallenden Pathos, das den Koalitions-Antrag von A bis Z durchzieht, gibt es keine hinreichende Begründung!

Richtig peinlich wird es in dem Antrag aber erst bei den drei Forderungen an die Bundesregierung. Diese soll gemeinsam mit dem Land Berlin Reagan herausragend ehren, heißt es da. Aber das ist längst passiert: Seit 1992 ist Präsident Reagan Ehrenbürger von Berlin, die höchste Ehrung, die die Stadt vergeben kann. Das berühmte Zitat ist im Treppenaufgang des Berliner U-Bahnhofs „Brandenburger Tor" zu lesen. Und vor zwei Wochen sind zwei weitere herausragende Ehrungen dazugekommen. Vor dem Axel-Springer-Haus in der Zimmerstraße wurde eine bronzene Gedenktafel mit dem Reagan-Zitat in die Erde eingelassen. Im Entwurf vorgestellt wurde eine weitere Gedenktafel, die am „Platz des 18. März" beim Brandenburger Tor demnächst aufgestellt werden soll. Es bleibt insofern schleierhaft, was dann noch fehlt - aber dazu schweigt sich der Antrag aus.

Die zweite Forderung, gemeinsam mit den Bundesländern weiterhin den Sieg der Freiheit und die historische Rolle der USA hochzuhalten, ist an Allgemeinheit kaum mehr zu überbieten! Es sei denn, man liest noch die dritte Forderung, die da lautet, „die transatlantische Partnerschaft in allen Bereichen weiterhin engagiert zu fördern".

Nichts, aber auch gar nichts Konkretes ist den Antragstellern dazu eingefallen. Die Bundesregierung soll einfach irgendetwas machen.

Nein! Dieser Antrag wird die transatlantische Zusammenarbeit, die wir hochachten, pflegen und jeden Tag mit Leben zu erfüllen suchen, nicht nach vorne bringen.

Ich sage voraus, er wird im günstigsten Fall zu einem Zitatensteinbruch für Kabarettisten werden, am wahrscheinlichsten aber sofort in Vergessenheit geraten, was für die Autoren vielleicht noch am vorteilhaftesten wäre.