Gernot Erler in der 81. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16. Dezember 2010: Regierungserklärung zu Afghanistan

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der jetzt vorgelegte „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages" ist in Wirklichkeit nicht in allen Teilen ein Bericht über Fortschritte. Das ist gut so. Er zeichnet auf 108 Seiten und in 27 Kapiteln ein realistisches und detailliertes Lagebild darüber, wie es in Afghanistan in den zentralen Bereichen Sicherheit, Staatswesen und Regierungsführung sowie Wiederaufbau und Entwicklung steht. Er spricht Fehler der Vergangenheit an, er benennt Defizite und kritisiert auch die afghanische Seite, wo dies angebracht ist.

Mit der Vorlage dieses Berichts, in den offensichtlich viel Arbeit investiert wurde ‑ dies erkennen wir an ‑, hat die Bundesregierung auch auf Forderungen der SPD reagiert. Wir brauchen definitiv bessere Grundlagen für die schwierigen Entscheidungen in Sachen Afghanistan, die wir immer wieder treffen müssen. Da die nächste Entscheidung über eine Mandatsverlängerung bereits im Januar des kommenden Jahres ansteht, ist dieser Bericht auch zur rechten Zeit vorgelegt worden.

Der Bericht nutzt verschiedene Informationsquellen, stellenweise auch von außen kommende wissenschaftliche Expertisen. Dadurch wird er aber natürlich nicht zu einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, wie sie SPD und Grüne eingefordert haben.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

 Bis heute verstehe ich nicht, warum die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung uns hier so brüsk vor den Kopf gestoßen haben, nachdem eine Verständigung über einen solchen Auftrag schon zum Greifen nahe schien.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau hier liegt die Quelle einiger Leerstellen und Defizite des Berichts, die nicht zu übersehen sind. Die Entwicklung wird generell kritisch beleuchtet. Aber eine selbstkritische Überprüfung der deutschen Aktivitäten in Afghanistan unter Hinzuziehung der Erfahrungen von vor Ort tätigen NGOs und wissenschaftlicher Experten findet eben nicht statt, und das ist bedauerlich.

(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vorgestern hat die SPD ihre zweite große Afghanistan-Konferenz in Berlin durchgeführt, mit mehr als 400 Teilnehmern, unter Heranziehung ganz verschiedener Experten. Wir haben dabei übrigens kein einziges verwertbares Bild produziert und auf keinen Effekt abgehoben, sondern eine sehr ernsthafte und lehrreiche Debatte geführt.

(Beifall bei der SPD)

Auf dieser Konferenz wurde das Problem angesprochen, dass durch die zusätzlichen 5 000 US-Soldaten und die ganzen zusätzlichen amerikanischen Programme in der Region des Nordkommandos, wo Deutschland eine besondere Verantwortung trägt, eine Art Überangebot entsteht. Es gibt mehr Geld und mehr Programme, als die afghanische Gesellschaft vor Ort überhaupt aufnehmen und umsetzen kann. Die Folge ist, so wird uns berichtet, dass sich dadurch die Gefahr der Korruption erhöht. Das leuchtet ein, und darauf muss man reagieren.

Vorher aber muss man solche kritischen Betrachtungen natürlich erst einmal an sich heranlassen, um dann das eigene Verhalten korrigieren zu können. Das ist der Grund, meine Damen und Herren, warum wir bei aller Würdigung des vorgelegten Fortschrittsberichts an unserer Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des gesamten deutschen Afghanistan-Einsatzes unter systematischer Heranziehung von wissenschaftlichen Expertisen und der vor Ort gewonnenen Erfahrungen von Nichtregierungsorganisationen festhalten.

(Beifall bei der SPD)

Was die Gesamtanalyse der Entwicklung in Afghanistan im zu Ende gehenden Jahr angeht, so decken sich die Feststellungen des Fortschrittsberichts in vielen Punkten mit unseren Eindrücken. In der Tat: Es gibt Licht und Schatten nebeneinander. Am düstersten sieht es immer noch bei der Sicherheitslage aus. Nicht zufrieden sein können wir mit der unverzichtbaren Verbesserung der Regierungsführung, mit den Fortschritten beim Kampf gegen die Korruption und beim Kampf gegen den Drogenanbau ‑ alles auch wichtige sicherheitspolitische Bereiche.

Nicht ohne Erfolgsaussicht scheinen die innerafghanischen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramme zu sein, die allmählich anlaufen. Messbaren Fortschritt gibt es beim zivilen Aufbau, wo wir unsere Anstrengungen verstärkt haben. Deutlich mehr müsste im Bereich der regionalen Stabilisierung passieren. Dabei geht es um die Frage, welche Rolle eigentlich Länder wie Pakistan, China, Russland, Iran, die Türkei und die zentralasiatischen Staaten für eine bessere Zukunft Afghanistans spielen können. Hier würden wir uns in der Tat noch mehr Engagement des Außenministers in der Tradition seines Vorgängers erhoffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wie hören, soll der amerikanische Bericht zur Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie zu einer ähnlichen gemischten Bilanz kommen; er wird heute vorgelegt. Botschafter Richard Holbrooke hat bis zu seinem plötzlichen Tod, den wir als schmerzlichen und schwer auszugleichenden Verlust empfinden, unermüdlich an dieser Strategie und an dem Bericht gearbeitet. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Amerikanern, die um diesen großartigen Diplomaten trauern.

Von besonderer Bedeutung ist, dass es bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar vorangeht. Die für Ende Oktober dieses Jahres formulierten Zwischenziele wurden sogar übertroffen, bei der Ausbildung afghanischer Soldaten um 8 000, bei der Ausbildung von Polizisten sogar um 12 000 Mann. Das ist deswegen so wichtig, weil die gesamte internationale Afghanistan-Strategie darauf abzielt, diese Ausbildungsprozesse zu beschleunigen, um Schritt für Schritt die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergeben zu können.

Die SPD hat Anfang dieses Jahres für den Abschluss dieses Prozesses den Zeitkorridor 2013 bis 2015 genannt. Wir sind froh, dass jetzt mit dem Zieldatum 2014 ein international anerkannter Konsens erzielt worden ist. Wir glauben, dass es auch realistisch ist, das zu erreichen, wenn wir tatsächlich auf dem Pfad dieser neuen Strategie bleiben und wenn wir rechtzeitig mit den Truppenreduzierungen beginnen.

Leider mussten wir aber feststellen, Herr Außenminister, dass Sie selber es waren, der hier Unsicherheiten und sogar ein Durcheinander geschaffen hat. Sie sind soeben auf Ihre Erklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 10. Februar zurückgekommen. Da hatten Sie gesagt, dass Ende 2011 mit der Reduzierung begonnen werden soll. Aber wir haben natürlich auch gelesen, was Sie am 6. Dezember in einer Presserklärung gesagt haben ‑ ich darf das zitieren:

„Wir werden mit aller Konsequenz darauf hinarbeiten, dass 2011 regional mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung begonnen werden kann. Unser Ziel ist, damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass 2012 das deutsche Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmalig reduziert werden kann."

In dem jetzt vorgelegten Zwischenbericht gibt es einen Satz auf Seite 9, der auf Seite 34 wiederholt wird. Da heißt es ‑ das ist die dritte Variante ‑:

„Im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung beabsichtigt die Bundesregierung, einzelne nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage dies erlaubt, ab Ende 2011/2012 zu reduzieren."

Sie müssen verstehen, dass man da Klarheit braucht. Man kann in dieser Frage nicht wie ein Schilfrohr schwanken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen zu diesem Fahrplan.

Ich hoffe, dass wir uns jetzt auf das, was Sie hier gesagt haben und was wir nur begrüßen können, verlassen können und dass das auch Ausdruck in dem Text des Mandates findet. Das ist außerordentlich wichtig für uns.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können sich dabei durchaus auf den Fortschrittsbericht berufen. Ich hatte ja schon gesagt, dass der genau festhält, dass in dem zentralen Bereich der Ausbildung tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind.

Meine Damen und Herren, das ist kein kleinliches Gezerre über Monate, Wochen oder Tage, wie man es manchmal in der Öffentlichkeit hört. Bei dieser Frage geht es um ziemlich viel, nämlich darum, ob wir selber dem vertrauen, was wir uns mit der neuen Strategie in Afghanistan vorgenommen haben, ob wir bereit sind, auch den notwendigen Druck auf die afghanische Seite aufrechtzuerhalten, ihrerseits alles für die Umsetzung der politischen Fahrpläne zu tun, und ob wir in zeitlicher Tuchfühlung mit der amerikanischen Planung bleiben. Hier gibt es nach wie vor die Ankündigung von Präsident Obama, im Juli nächsten Jahres mit der Reduzierung zu beginnen. Dabei wird es mit Sicherheit bleiben.

Wir sprechen heute nicht bereits über die Mandatsverlängerung. Wir sprechen über Fortschritte und ausbleibende Fortschritte. Aber wir fordern Sie heute hier schon auf, Herr Außenminister und die ganze Bundesregierung: Machen Sie nicht noch einmal den Fehler wie mit dem Evaluierungsauftrag. Vermeiden Sie unnötige Provokationen und Irritationen. Es gibt offene Fragen. Wir sind heute durch das, was Sie gesagt haben, weitergekommen. Ich habe den Eindruck, dass es bei gutem Willen auf beiden Seiten möglich ist, die Gegensätze zu überbrücken. Sprechen Sie mit uns. Sprechen Sie mit uns, bevor Sie den Mandatstext festlegen. Wir sind dazu bereit.

(Beifall bei der SPD)