Gernot Erler in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages, 11. November 2010: Debatte zum neuen Strategischen Konzept der NATO

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinen Beitrag muss ich leider mit einer Unmutsäußerung beginnen. Ich finde es nicht angemessen, dass wir acht Tage vor dem NATO-Gipfel, auf dem das neue Strategische Konzept beschlossen werden soll, hier im Deutschen Bundestag diskutieren, ohne den Wortlaut des Textentwurfs zu kennen.

 (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mehr Offenheit und Transparenz hätten der Diskussion und damit auch dem Bündnis mehr genutzt als geschadet.

Nach 1991 und 1999 versucht die NATO zum dritten Mal in 20 Jahren, sich an neue Rahmenbedingungen und Herausforderungen anzupassen. Es gibt einige internationale Entwicklungen, die uns Sorge machen. Aber es ist auch nicht zu übersehen, dass gerade in den letzten zwei Jahren viel passiert ist, was eine besondere Gunstsituation geschaffen hat.

Im Jahr 2007 sah das alles noch ganz anders aus. Ich entsinne mich noch gut an die berühmte Wutrede des damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin am 10. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz, an seine Ankündigung, Russland werde eine weitere Ausnutzung seiner vermeintlichen Schwäche durch den Westen nicht mehr hinnehmen und dabei jede Konfliktscheu ablegen. Auf diese Worte folgten Taten: Spannungen mit den baltischen Staaten, mit Großbritannien, Widerstand gegen die US-Pläne zur Stationierung von Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik, das Moratorium beim KSE-Vertrag, Versuche, eine dritte Erweiterungsrunde der NATO mit Georgien und der Ukraine zu verhindern. Und schließlich führte der Kaukasuskrieg im August 2008 Moskau in die politische Isolierung.

Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich die Situation vollständig verändert. Die russische Regierung fühlt sich von Präsident Obama als ebenbürtig akzeptiert. Die Missile-Defense-Pläne wurden auf Eis gelegt, die nächste NATO-Erweiterung wurde vorerst von der Tagesordnung genommen. Mit seiner Prager Rede vom 5. April 2009 bekannte sich der neue amerikanische Präsident zum Ziel einer Welt ohne Atomwaffen und öffnete damit die Tür - auch der Außenminister hat es hier gerade vorgetragen - für das START-Nachfolgeabkommen zur Reduzierung strategischer Nuklearwaffen mit Russland und für einen Erfolg der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag in New York im Mai dieses Jahres.

Die am 6. April beschlossene neue US-Nuklearstrategie schließt einen Einsatz von Nuklearwaffen gegen Nichtnuklearstaaten aus, wenn sich diese an den Nichtverbreitungsvertrag halten, und reduziert damit im Vergleich zu früher eindeutig die Rolle von Atomwaffen in der amerikanischen Sicherheitsdoktrin.

Alle diese Schritte haben große Erwartungen und Hoffnungen geweckt, dass der erfolgreiche Neuanfang mit Russland - auch ?Reset? genannt - den Weg zu einer echten globalen Sicherheitspartnerschaft mit Moskau öffnet und dass der neue START-Abrüstungsvertrag nicht nur hoffentlich bald ratifiziert und umgesetzt wird, sondern dass ihm weitere Abrüstungsschritte auch im konventionellen Bereich folgen.

(Beifall bei der SPD)

Besser und prominenter kann man diese Erwartungen nicht zum Ausdruck bringen, als dies 34 Elder Statesmen Europas in ihrer Erklärung vom 27. September dieses Jahres - von deutscher Seite mit Unterschriften von Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr - getan haben. Die SPD-Fraktion macht sich diese überparteiliche Position zu eigen und unterstützt die dort formulierten Vorschläge und Erwartungen.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen, dass die neue NATO-Strategie dieser Gunstsituation Rechnung trägt, dass sie das Momentum bei der Abrüstung aufnimmt und verstärkt und dass sie die konstruktiven Ansätze im Verhältnis zu Russland als Chance erkennt und ausbaut. Was heißt das konkret? Wir wollen, dass sich auch die NATO zu einer Eingrenzung der Rolle von Nuklearwaffen bekennt und nicht der neuen Einsatzdoktrin hinterherhinkt, die im April dieses Jahres in Washington beschlossen worden ist. Wir können für die taktischen Atomwaffen, die noch heute in fünf Ländern auf dem europäischen Kontinent - Deutschland inklusive - stationiert sind, keine plausible Funktion mehr erkennen. Wir wollen, dass diese vollständig abgezogen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Außenminister, wir haben bei Ihren Ankündigungen gehört, dass auch Sie das für ein prioritäres Ziel halten. Sie haben aber auch diese Debatte leider wieder nicht genutzt, um uns konkret zu sagen, welche Anstrengungen Sie bisher unternommen haben und welche Erfolgsaussichten diese haben. Sie haben hier nur ein enttäuschendes allgemeines Statement von sich gegeben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen weiter, dass sich die NATO zu einer intensiven Sicherheitspartnerschaft mit Russland bekennt und den Dialog mit Moskau ausbaut und erweitert. Dazu gehört eine andere Nutzung des NATO-Russland-Rates. Herr Westerwelle, ich bin mit dem, was da bisher passiert ist, nicht einverstanden. Die Möglichkeiten werden bei weitem nicht ausgeschöpft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es kann doch nicht sein, dass der NATO-Russland-Rat ausgerechnet in einer Krisensituation wie im August 2008 außer Betrieb gesetzt wird, also dann, wenn man den Dialog am ehesten gebraucht hätte.

(Zurufe von der FDP: Wer war denn da an der Regierung?)

Damit wurde nebenbei auch noch der fatale Eindruck erweckt, der NATO-Russland-Rat sei eine Art Gunsterweisung, die bei Fehlverhalten des Partners beliebig entzogen werden kann. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wir haben ein klares Interesse an einem nachhaltigen Funktionieren dieses politischen Scharniers und dieser Dialogplattform. Dazu sollte in der neuen Strategie der NATO etwas Konkretes stehen.

Schließlich kann es nicht dabei bleiben, dass die Frage einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, zu der Präsident Medwedew vor zwei Jahren konkrete Vorschläge vorgelegt hat, lediglich in irgendwelchen Arbeitsgruppen des sogenannten Korfu-Prozesses erörtert wird. Es wäre wichtig, dass in dem neuen Strategischen Konzept die Bereitschaft, mit der russischen Führung in einen verbindlichen Dialog zu diesem Thema einzutreten, erkennbar wird, ein Dialog im Geiste des Helsinki-Prozesses, ergebnisoffen und ohne Vorfestlegung auf ein bestimmtes Vertragsergebnis.

Nur wenn die neue NATO-Strategie diese besondere Gunstsituation tatsächlich nutzt und konkrete Fortschritte in den beiden Bereichen macht, die ich exemplarisch herausgehoben habe - Abrüstung und Verhältnis zu Russland -, wird das Bündnis gestärkt von dem Gipfel in Lissabon zurückkehren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)