Afghanistan-Strategie der Bundesregierung hat keine nachhaltige Verbesserung der Lage gebracht

Gernot Erler in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestags, 9. Juli 2010: Regierungserklärung: Afghanistan und die Konferenz von Kabul - Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung

 

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben versucht, hier eine positive Zwischenbilanz nach sechs Monaten der neuen Strategie vorzutragen, und uns Ihre hohen Erwartungen an die bevorstehende Konferenz in Kabul geschildert. Ich muss ehrlich sagen: Bei diesem Bericht habe ich mich öfter fragen müssen, über welches Land und welche Situation Sie eigentlich reden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der LINKEN: So ist es!)

Nach meiner Einschätzung werden Sie im Zuge der Debatte hier erfahren, dass die Sorgen und die konkreten Fragen, die die Mitglieder des Hauses haben, sich deutlich von den Darstellungen unterscheiden, die Sie hier abgegeben haben.

Was ist denn die Lage vor Ort? Wir haben am 26. Februar 2010 im Deutschen Bundestag eine Fortsetzung des deutschen Engagements in Afghanistan beschlossen, und zwar auf der Grundlage einer neuen Strategie, die im Januar dieses Jahres in London beschlossen worden ist. Ich will noch einmal daran erinnern, welche Punkte dabei die entscheidenden waren.

Es war die Konzentration auf die Ausbildung von Soldaten und Polizisten, damit sich Afghanistan so schnell wie möglich selber gegen die Aufständischen verteidigen kann.

Es war die Erstellung eines Stufenplans zum Abzug, der im nächsten Jahr beginnen soll, das aufgreifend, was Präsident Karzai selber gesagt hat, nämlich dass dieses Land möglichst bis 2014 vollkommen in afghanische Verantwortung übergehen soll.

Es war eine Verdopplung der zivilen Anstrengungen, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu stärken.

Es war eine Verbesserung der Regierungsführung in Kabul, damit die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber der eigenen Gesellschaft wächst. Die Kabuler Konferenz, die jetzt bevorsteht, sollte dazu eigentlich schon im April dieses Jahres konkrete Festlegungen, auch auf Zwischenschritte, erreichen.

Es war schließlich die verstärkte Unterstützung des Versöhnungs- und Integrationsprozesses, für den auch erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Ursprünglich sollte schon im Mai dieses Jahres die Friedensjirga weitere Beiträge leisten.

Diese neue Strategie wurde bereits in großer Sorge verabschiedet: in Sorge über die wachsende Zahl sogenannter sicherheitsrelevanter Vorfälle, über die zeitliche Unabsehbarkeit des Afghanistan-Einsatzes, über das anhaltende Misstrauen der afghanischen Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung oder, anders ausgedrückt, über den mangelnden Erfolg der Bemühungen von 44 Staaten, die in Afghanistan an dieser Mission teilnehmen.

Herr Minister, heute, ein halbes Jahr später, müssen wir feststellen, dass diese neue Strategie noch keine nachhaltige Verbesserung der Lage gebracht hat.

(Beifall bei der SPD)

Unsere Sorgen sind eher gewachsen, und unsere Geduld wird wirklich auf eine harte Probe gestellt. Lassen Sie mich dafür nur drei Anlässe aufzeigen.

Erster Anlass: Obwohl jetzt 150 000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft im Einsatz sind, hat sich die Zahl der Anschläge weiter erhöht. Der Juni 2010 war mit 102 gefallenen Soldaten der internationalen Streitkräfte der bisher blutigste und verlustreichste Monat in der gesamten Geschichte des Afghanistan-Einsatzes.

Wichtige Verbündete - darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen, Herr Außenminister - wie Kanada, die Niederlande und Polen werden ihre Truppen komplett abziehen. Großbritannien hat angekündigt, die eigenen Soldaten aus einem besonders umkämpften Gebiet zurückzuziehen.

Zweiter Anlass: Die Aufstandsbekämpfung nach neuem Muster begann mit der Operation ?Muschtarak? im Februar und führte zur Eroberung eines Ortes namens Mardscha. Danach sollte eine groß angelegte Offensive zur Rückeroberung Kandahars stattfinden. Sie ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

Dritter Anlass: Für das so wichtige Ziel, die Arbeit der Kabuler Regierung qualitativ zu verbessern und so das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung zu stärken, sollten auf der Kabuler Konferenz konkrete Ziele und Zwischenschritte vereinbart werden. Erst sollte diese Konferenz im April 2010 durchgeführt werden. Die Regierungsbildung hat sich aber verzögert; noch heute sind fünf Ministerien nicht besetzt. Jetzt soll sie am 20. Juli dieses Jahres stattfinden.

Genau in diese Vorbereitungsphase fallen Berichte in den Medien, nach denen kofferweise Geld aus Afghanistan nach Dubai geschafft wird, offenbar auch Geld aus Hilfs- und Wiederaufbauprojekten. - Das ist der augenblickliche Stand der Vorbereitungen für die Kabuler Konferenz.

Wir sind praktisch in der Mitte des laufenden Mandates. Hier wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, eine kritische Zwischenbilanz zu ziehen.

Da taucht eine ganze Reihe von Fragen auf, Herr Minister, zum Beispiel was die Kabuler Konferenz und deren Vorbereitung angeht. Die Vorbereitung ist das Entscheidende, wenn man weiß, dass auf dieser Konferenz eine ganze Reihe von Keynote Speakers auftreten wird und 76 Delegationen gern zu Wort kommen wollen - und das alles an einem Tag. Man muss feststellen, dass die internationale Gemeinschaft verbindliche Benchmarks, also konkrete Zwischenziele, für diese Konferenz will, dass die Afghanen aber ganz offensichtlich vor allem sogenannte Bankable Programs vorbereitet haben, also finanzierungsreife Projekte, die sie den internationalen Partnern vorstellen wollen und für die sie gern Finanzierungszusagen haben wollen. Herr Minister, wie wollen Sie diesen Widerspruch, diesen Gegensatz in den Erwartungen eigentlich beantworten? Wie haben Sie sich auf diese Situation vorbereitet?

Schließlich: Wie sieht es mit der Übergabe in Verantwortung aus? Sie haben vorhin gesagt: eine von neun Provinzen. Die Frage ist: Wie viele von den 124 Distrikten im Norden sollen übergeben werden? Wenn jetzt auf dieser Konferenz nicht klar wird, wie die Vorbereitungen dafür aussehen, wann sonst soll das dann eigentlich passieren?

Schließlich ist die Frage: Wie stehen Sie zu der Forderung der afghanischen Zivilgesellschaft, dass die Ergebnisse der Friedensjirga vom 2. bis 4. Juni Tagesordnungspunkt in Kabul werden sollen? Auch dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt. Wie soll das bei dem vorbereiteten Ablauf dieser Konferenz eigentlich passieren?

All diese Fragen im Kontext der fälligen Zwischenbilanz zeigen, wie wichtig es ist, sich ständig und kritisch mit der tatsächlichen Umsetzung der neuen Strategie zu beschäftigen. SPD und Grüne haben hierzu am 9. Juni einen detaillierten Antrag eingebracht. Wir halten es für notwendig, in den Evaluierungsprozess von vornherein die reichlich vorhandene wissenschaftliche Expertise zu Afghanistan und auch die Erfahrungen von Nichtregierungsorganisationen, die uns außerordentlich wichtig sind, einzubeziehen. Ziel ist dabei, belastbare Grundlagen für die Bewertung der neuen Strategie zu erreichen. Das brauchen wir für die nächste Entscheidung, die gegen Ende des Jahres vorbereitet werden muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir brauchen die Evaluierung auch, weil wir die Chance haben müssen, nachzusteuern und zu korrigieren. Wir können es uns nicht mehr erlauben, nach einem Jahr erneut zu hören, warum vieles von dem, was beschlossen worden ist, wieder nicht geklappt hat. Es muss möglich sein, dass wir hier vom Parlament aus auf der Basis einer solchen Evaluierung vorher dazwischengehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei unseren Gesprächen in den vergangenen Tagen haben wir gehofft, Herr Kollege Schockenhoff, dass wir zu einer Verständigung kommen. Ich bin sehr traurig darüber, dass das bisher nicht gelungen ist. Es ist nicht gelungen, weil Sie nicht wollen, dass die Expertise bei dem Prozess ständig beteiligt wird.

Wenn wir und wenn Sie daran interessiert sind, dass das, was es an parteiübergreifendem Konsens in Sachen Afghanistan gibt, auch in Zukunft noch eine Chance hat, sollten wir in den nächsten Tagen noch einen Versuch unternehmen - das schlage ich vor, und ich meine das sehr ernst -, hier zu einer Verständigung zu kommen. Für uns wird das nicht gehen ohne die ständige Beteiligung von Expertise, von unabhängiger wissenschaftlicher Kenntnis, an der Evaluierung.

(Beifall bei der SPD)

Vielleicht ist es möglich, auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden einen weiteren Versuch zu unternehmen; wir jedenfalls sind dazu bereit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Hier gibt es das Video zur Rede.