Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan gefordert

Rede von Gernot Erler in der 47. Sitzung des Deutschen Bundestages am 11. Juni 2010:

Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen

 

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor dreieinhalb Monaten, am 26. Februar 2010, hat der Deutsche Bundestag einem neuen Afghanistan-Mandat zugestimmt. Vorausgegangen war ein intensiver Diskussionsprozess – ganz besonders auch bei den Sozialdemokraten. Unsere Vorschläge sind damals von der Regierungskoalition weitgehend übernommen worden und in das neue Afghanistan-Mandat eingeflossen.

Wichtigste Punkte waren dabei: Neufestsetzung der Prioritäten auf die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften – sowohl Polizei als auch Soldaten – durch eine Erhöhung der Ausbildungskapazitäten mit dem Ziel, dass die afghanischen Sicherheitskräfte so rasch wie möglich selber in den Stand versetzt werden, sich gegen die Aufständischen zu verteidigen; Erstellung eines Stufenplans zum Abzug aus Afghanistan mit einer ersten Übergabe von einzelnen Distrikten in die Verantwortung Afghanistans ab 2011 und einem Abschluss möglichst in einem Zeitkorridor zwischen 2013 und 2015; Verdoppelung der zivilen Anstrengungen für den Aufbau, damit die Bevölkerung mehr Vertrauen in die eigene Zukunft gewinnt; Verbesserung der Regierungsführung in Kabul, um eine größere Zustimmung der eigenen Bevölkerung zu erreichen – nach der Londoner Afghanistan-Konferenz sollte eine Afghanistan-Konferenz in Kabul stattfinden, auf der entsprechende Kriterien und Zwischenschritte verbindlich vereinbart werden sollten –; schließlich verstärkte Unterstützung des internen Versöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesses, für den auch erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden und wozu die Ende Mai in Kabul stattgefundene Friedensjirga einen entsprechenden Beitrag geleistet hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese erheblichen Veränderungen des Einsatzkonzeptes sind auf der Londoner Afghanistan-Konferenz auf breite Zustimmung gestoßen. Parallel dazu hat auch die amerikanische Regierung erhebliche Veränderungen an ihrem Afghanistan- Konzept vorgenommen. All das kommt aber nicht von ungefähr. So viel ändert man nur, wenn das bisherige Konzept zu wenig erfolgreich war, wenn also ein entsprechender Druck entstanden ist, das eigene Vorgehen kritisch zu überprüfen. Das war in der Tat der Fall und sichtbar an der erschreckenden Zunahme von sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfällen, deren Anzahl allein im Jahr 2009 im ganzen Land um 80 Prozent gestiegen ist – in den Nordprovinzen in Afghanistan sogar um 300 Prozent –, sichtbar an den zunehmenden Verlusten von afghanischen und internationalen Sicherheitskräften, aber auch sichtbar an den wachsenden Vertrauenslücken zwischen der afghanischen Bevölkerung und der afghanischen Führung; diese erkennt man insbesondere an der Tatsache, dass die Unterstützung für die Aufständischen leider nicht abnimmt, sondern in bestimmten Regionen sogar zunimmt.

Das ist nach der Afghanistan-Konferenz in London aufgrund der zögerlichen Regierungsbildung von Präsident Karzai und der mehrfachen Verschiebung dieser wichtigen Afghanistan-Konferenz in Kabul auch nicht besser geworden. Sie sollte erst im Mai und dann im Juni stattfinden. Jetzt können wir nur hoffen, dass sie im Juli tatsächlich stattfinden wird.

Ausbleibende Erfolge des Afghanistan-Einsatzes erhöhen auch die Kritik und Skepsis im eigenen Land. Das wird in den Umfragen in der deutschen Öffentlichkeit deutlich sichtbar.

All das muss uns klarmachen, worin in dieser Situation unsere Verantwortung liegt. Wir haben im Februar konzeptionelle Veränderungen und neue Prioritätensetzungen vorgenommen. Wir haben aber in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass viele gute Ansätze und Pläne an mangelnder oder fehlerhafter Umsetzung vor Ort gescheitert sind. Wir wissen, dass der Preis sehr hoch wäre, wenn uns das im Rahmen des Neuansatzes erneut passieren würde.

Die Konsequenz daraus ist, dass wir nicht einfach abwarten können, was am Ende bei den von uns gefassten Beschlüssen zur Veränderung des Mandates herauskommt. Wir müssen vielmehr seitens des Bundestages den gesamten Afghanistan-Einsatz einer systematischen und regelmäßigen Untersuchung unterziehen. Genau das hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier in unserer Debatte am 26. Februar hier gefordert und angekündigt, dass wir dazu einen entsprechenden Vorschlag vorlegen werden.

Mit dem gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Evaluierung der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen und internationalen Engagements für den Wiederaufbau Afghanistans seit 2001 haben wir diese Ankündigung wahrgemacht. Dieser Antrag zielt auf eine wissenschaftlich fundierte Evaluierung der Umsetzung unserer eigenen Beschlüsse, bei der wir auch auf Expertise von außen angewiesen sind. Diese Expertise gibt es. Sie ist wertvoll und wichtig für uns. Sie besteht in den Erfahrungen und vor Ort gewonnenen Erkenntnissen von Experten, Aktivisten und Mitgliedern engagierter Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft.

Wir müssen so vorgehen, damit wir nicht in einigen Monaten womöglich erneut und ohne Vorwarnung vor vollendeten bzw. nicht vollendeten Tatsachen stehen und damit wir jederzeit die Möglichkeit zur Nachsteuerung und Feinjustierung unserer eigenen Beschlüsse haben, wenn rote Lampen aufleuchten, was die Umsetzung angeht, und damit wir eine sichere Grundlage für eine neuerliche Debatte über dieses Mandat haben, welche ohne Zweifel kommen wird – vielleicht schneller als erwartet.

Deshalb wollen wir nicht auf ein irgendwann vorzulegendes Gutachten warten; vielmehr fordern wir in unserem Antrag, dass der Deutsche Bundestag eine Kommission einsetzt, die die gesamte Evaluierungsaufgabe begleitet. Sie soll den Kontakt mit den Experten und engagierten Truppen von außen halten und im Abstand von drei bis vier Monaten Zwischenergebnisse vorlegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, es ist bedauerlich, dass Sie die Möglichkeit, auf der Basis dieses Antrags zügig zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, nicht genutzt haben. Wir haben Ihnen das alles am 18. Mai zugeleitet. Es ist schade, weil dadurch die Chance, dass wir weiter gemeinsam die Verantwortung tragen, nicht in dem Maße genutzt wird, wie es möglich gewesen wäre.

Aber wir haben quasi unmittelbar vor unserer Debatte erfahren, dass Sie sich einer intensiven und wissenschaftlich fundierten Begleitung des Strategiewechsels im Afghanistan-Einsatz nicht völlig versperren wollen. Das begrüßen wir selbstverständlich. Allerdings helfen uns dabei Hinweise auf die ohnehin bestehenden Berichtspflichten der Bundesregierung und Kontrollrechte des Bundestages nicht wirklich weiter. Für uns ist es wichtig, dass wir bei der Bewertung und Begleitung der Umsetzung der neuen Strategie zu belastbaren Kriterien, sogenannten Benchmarks, kommen. Dabei brauchen wir auch die wissenschaftliche Expertise von außen.

Darüber sollten wir in allernächster Zeit reden. Wir haben Ihr Angebot so verstanden, dass Sie dazu bereit sind. Deswegen macht es Sinn, dass wir jetzt die beiden Anträge an die Ausschüsse überweisen, damit wir die Zeit dort nutzen können, um zu prüfen, ob wir zu gemeinsamen Ergebnissen kommen können. Ich glaube, das wäre im Sinn der Sache.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Rede des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Dr. h. c. Gernot Erler am 11.06.2010 zu humanitären Lage in Afghanistan