Rede Gernot Erlers in der 144. Sitzung des Deutschen Bundestages am 1. Dezember 2004: Die Demokratie in der Ukraine festigen

Die Demokratie in der Ukraine festigen

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute zum zweiten Mal innerhalb einer Woche über die Vorgänge in der Ukraine. Das ist neu. Das hat es bisher noch nicht gegeben. Das ist eine Premiere.

Die ganze Welt schaut im Augenblick auf die Ukraine. Dieses Land tritt auf einmal auf eine Bühne, auf der es bisher noch nie war. Dieses Land handelt plötzlich selber, spricht selber, aber nicht in der Weisheit seiner Führung, sondern mit den Stimmen vieler Tausender, die nicht mehr schweigen und dulden wollen.

Das ist ein faszinierender Vorgang, der unsere neugierige Aufmerksamkeit, unseren Respekt, ja unsere Bewunderung für so viel Zivilcourage findet.

Unsere Sympathie ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Landes.

Uns geht es schlicht darum, dass wir versuchen, im Sinne der Wahrung europäischer Werte zu helfen, damit so viel Mut, so viel persönliche Risikobereitschaft - übrigens auch so viel Disziplin und Umsicht - nicht mit einer Demonstration dumpfer Macht beantwortet wird, damit nicht mit faulen Tricks versucht wird, diese Bewegung ins Leere laufen zu lassen, sondern damit das Ganze mit einem fairen Ergebnis endet, das dem ganzen Land Ukraine hilft.

Was ist das für ein Land, von dem wir hier sprechen? Ukraine heißt Land an der Grenze, Grenzland. Das spielt auf Mitteleuropa an und bedeutet auch immer, zwischen anderen, größeren Mächten eingeklemmt zu sein. Kein anderer hat das besser ausgedrückt als der derzeit populärste ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch in seinem Essay "Mittel-Ost-Revision", aus dem ich eine kleine Passage zitieren möchte. Da schreibt er:

„Der Platz zwischen den Russen und den Deutschen ist die historische Bestimmung von Mitteleuropa. Die zentraleuropäische Angst schwankt historisch hin und her zwischen zweierlei Sorge: Die Deutschen kommen, die Russen kommen. Der zentraleuropäische Tod - das ist der Tod im Lager oder im Gefängnis, dazu kommt noch ein kollektiver Tod: Massenmord, Säuberung. Die zentraleuropäische Reise - das ist die Flucht. Aber von woher und wohin? Von den Russen zu den Deutschen? Oder von den Deutschen zu den Russen? Gut, dass es für alle Fälle noch Amerika gibt."

Vielleicht ist das die kürzeste und prägnanteste Ortsbestimmung von Mitteleuropa und damit vom größten Land dort, der Ukraine. Das weist uns aber auch darauf hin, mit welcher Umsicht und Vorsicht wir auf die Vorgänge bei unserem Nachbarn reagieren müssen.Ich bin froh, dass man diese Sensibilität hier bemerken kann. Ich bin froh, dass Vertreter der EU, der polnische Präsident Kwasniewski, der litauische Präsident Adamkus und der Hohe Repräsentant und Generalsekretär der EU, Solana, jetzt schon zum zweiten Mal in der Ukraine sind, um ihre guten Dienste anzubieten. Ich finde, wir sollten ihnen für diese Bemühungen Dank sagen.

Auch bin ich froh, dass Außenminister Fischer deutlich gemacht hat, dass wir die Menschen und die Demokratie, nicht aber einen einzelnen Kandidaten unterstützen. Im Namen der Koalition und der SPD-Fraktion möchte ich Dank sagen und unsere volle Unterstützung für die Bemühungen des deutschen Bundeskanzlers zum Ausdruck bringen, der seine guten und freundschaftlichen Beziehungen zum russischen Präsidenten hilfreich genutzt hat.

Er hat zwei Telefongespräche mit ihm geführt, die jedes Mal ein gutes Ergebnis gebracht und in Moskau deutlich gemacht haben, dass das Prestige der russischen Politik auf dem Spiel steht.

Der Preis ist hoch. Präsident Putin hat auf dem EU-Russland-Gipfel in Den Haag davor gewarnt, dass sich andere in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen. Allerdings ist vorher die ganze Welt Zeuge davon geworden, dass sich Russland ziemlich intensiv in den ukrainischen Wahlkampf eingemischt und dabei eine massive Kampagne gegen den Kandidaten Wiktor Juschtschenko organisiert hat, dem man sogar vorgeworfen hat, ein amerikanischer Agent zu sein. Das ist komisch; ich wusste noch nicht, dass sich ein amerikanischer Agent dadurch auszeichnet, dass er ankündigt, die 500 ukrainischen Soldaten alsbald vom Schauplatz Irak zurückzuziehen. In den letzten Tagen des Wahlkampfes haben wir auch demonstrative Besuche von Präsident Putin in der Ukraine beobachtet. Wir haben gesehen, dass, obwohl die Fälschungen offensichtlich waren, zweimal seine Gratulation an den angeblichen Sieger Janukowitsch erfolgt ist.

Wir haben Respekt vor der - so nennt man es - strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der Ukraine. Wir wissen, dass die Ukraine Hilfe aus Russland bekommt, zum Beispiel subventionierte Lieferungen von Energie. Auch wissen wir, dass 5 Millionen Ukrainer als Gastarbeiter in Russland tätig sind und dadurch wesentlich zu Wohlstand und Fortschritt in der Ukraine beitragen. Nach unserer Auffassung kann eine strategische Partnerschaft aber nicht heißen: Kumpanei mit einem Machtclan, der in der eigenen Bevölkerung keinerlei Kredit mehr hat. Sie kann auch keine Diskriminierung eines Kandidaten bedeuten, der im ersten Wahlgang in der eigenen Bevölkerung die überwiegende Zustimmung bekommen hat. Strategische Partnerschaft kann doch nur heißen: intensive Zusammenarbeit zweier souveräner Staaten; Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe.

Es stimmt übrigens: An einigen amerikanischen Schreibtischen sitzen Leute, die geopolitische Spiele aus dem Kalten Krieg im Kopf haben und die diese Präsidentenwahl tatsächlich zu einer Art Endspiel im Kampf um Einfluss und Einflusszonen in Mitteleuropa hochschreiben wollten. All denen - egal wo sie sitzen -, die davon ausgehen, die Ukraine sei ein Spielball anderer Mächte, sie sei Objekt der Politik und nicht Subjekt, rufen wir heute aus dem Plenum des Deutschen Bundestages zu: Ihr irrt euch! Schaut auf die Straßen von Kiew, von Charkiw, von Lemberg, von Ternopil und vielen anderen Städten! Die Menschen in der Ukraine sind fest entschlossen, Subjekt von Geschichte und Politik zu werden. Sie wollen nicht eingeklemmt bleiben und zerrieben werden, sie wollen endlich selber über ihren Weg bestimmen. Im 21. Jahrhundert kann die Ukraine nicht mehr Hinterhof von irgendwem oder passives Objekt irgendwelcher geopolitischen Spiele sein.

Wir werden Partner dabei sein, diese Situation zu beenden und dieses von Jurij Andruchowytsch beschriebene Trauma zu überwinden.

Meine Damen und Herren, es gibt keine politische Einmischung von uns - und es wird auch keine geben -, aber es gibt auf allen Ebenen Sympathie für die orangene Revolution. Zum Beispiel hat der Freiburger Gemeinderat gestern einstimmig, über alle Fraktionen hinweg, ein Unterstützungsschreiben an den Gemeinderat in Lemberg geschickt. Ich wünsche mir, dass so etwas "von unten" vielerorts passiert. Das ist Sympathie mit Menschen, die nicht bereit sind, die groben Wahlfälschungen vom 21. November zu akzeptieren.

Wir wissen und wir haben Belege dafür, welchen Umfang diese Wahlfälschungen angenommen haben: dass Wählerlisten gefälscht wurden, dass Busse mit Mehrfachwählern herumgefahren sind, dass Kisten mit vorab ausgefüllten Wahlzetteln gefunden wurden. In diesen Stunden treten vor dem obersten Gericht der Ukraine Zeugen auf, die von Hunderten von Wahlbezirken berichten, in denen eine Wahlbeteiligung von mehr als 100 Prozent festgestellt wurde. Es ist eindeutig: Diese Wahl kann nicht anerkannt werden. Kein Präsident, der nach einer solchen Wahl sein Amt antritt, kann irgendeine Autorität beanspruchen, weder in seinem eigenen Land noch bei uns.

Der Konsens darüber wird breiter. Aber wir müssen auch erkennen, dass es nicht nur um diese Wahl geht; diese Wahl hat eigentlich nur ein Fass überlaufen lassen, das schon vorher voll war. Ich meine damit die Wahlkampagne, bei der die Anhänger von Wiktor Juschtschenko in unfairster Weise behindert wurden. Seine Flugzeuge konnten plötzlich nicht starten, seine Busse kamen nie an den Bestimmungsorten an. Man nennt das "die administrativen Ressourcen nutzen". Es ist schon zynisch, dass nach dem unaufgeklärten Giftanschlag auf diesen Kandidaten, der sein Gesicht bekanntlich sehr entstellt hat, die Gegner sagten: Wie kann eigentlich jemand, der so aussieht, die Ukraine nach außen vertreten? Das ist blanker Zynismus.

Es gab eine neue Studentenbewegung; sie heißt "Pora", das heißt "Es ist Zeit". Schon vor der Wahl sind viele der Studenten, die sich engagiert haben, die sich politisch betätigt haben, festgenommen worden. Sie sind bedroht worden, verhaftet worden, zum Teil aus den Universitäten ausgeschlossen worden. Übrigens gab es dafür ein Vorbild: Das war die Studentenbewegung im Jahr 2000 in Serbien; sie hieß "Vreme", auf Deutsch auch "Es ist Zeit".

Es gab eine massive Einschüchterung und Vermachtung der Medien. Der einzige unabhängige Kanal der Ukraine ist der Kanal 5. Er ist immer wieder in seiner Arbeit behindert worden. Wir kennen die berühmten und berüchtigten "Temniki", die Anweisungen des Chefs der ukrainischen Präsidialverwaltung, Wiktor Medwedtschuk, der den Medien jeweils im Detail vorschrieb, was zu berichten ist und was nicht. Wir haben großen Respekt vor den über 330 ukrainischen Journalisten, die schon vor dem Wahltag ihren Protest gegen diese Bevormundung angekündigt haben und sich damit praktisch die eigene Entlassungsurkunde ausgestellt haben.

Immer mehr Menschen in der Ukraine sagen einfach: Wir machen nicht mehr mit. Wir wollen Ehrlichkeit und nicht mehr diesen Sumpf und diese verborgenen Spiele zwischen politischer und ökonomischer Macht, zwischen Oligarchen und dem organisierten Verbrechen. Wir wollen keine politischen Marionetten mehr, an deren Fäden andere ziehen. Wir wollen auch keine Einmischung in unsere Angelegenheiten von außen mehr, egal woher sie kommt. Das ist eine Revolution mit der Farbe Orange, die zum Ziel hat, die Ukraine zum zweiten Mal nach 1991 - dieses Mal aber richtig - unabhängig zu machen. Sie kämpft für eine neue politische Kultur, die den europäischen Werten und der Würde der Menschen in der Ukraine entspricht. Darum geht es in der Tat.

Vaclav Havel hat die Demonstranten ermuntert, durchzuhalten, weil ihre Bewegung ihn an den Prager Frühling von 1968 erinnert. Lech Walesa ist nach Kiew geeilt, um zu vermitteln, weil er sich an die Solidarnosc-Bewegung Anfang der 80er-Jahre erinnert fühlte. Viele denken heute an die Ereignisse vor dem Sturz von Milosevic in Belgrad im Jahre 2000 und an die Rosenrevolution in Georgien, die genau ein Jahr her ist. Wir haben hier so etwas wie einen "Kiewer Frühling im Novemberschnee". Auf den Erfolg dieses Kiewer Frühlings hoffen und warten sehr viele Menschen auch außerhalb der Ukraine. Deshalb gilt unsere Sympathie den Menschen, die hier aktiv werden.

Es ist gut, dass in der Vergangenheit Kolleginnen und Kollegen aus fast allen Fraktionen des Deutschen Bundestages nach Kiew gereist sind, um diesen Menschen ihre Unterstützung und ihre Sympathie zum Ausdruck zu bringen. Das war eben keine Einmischung. Ich möchte diesen Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich danken.

Viele Tricks sind jetzt möglich. Wir müssen damit rechnen, dass Tricks angewandt werden, um Zeit zu gewinnen und die Wahlen zu wiederholen. Es wird heißen, Herr Juschtschenko und Herr Janukowitsch können nicht mehr kandidieren; denn sie haben die Ukraine durch ihren Streit an den Rand des Bruchs gebracht. Ich sage nur: Diese Tricks werden nicht wirken.

Dort sind Menschen aufgebrochen, die nicht wieder zurück in ihre Häuser gehen werden. Wir glauben nicht, dass die Menschen aufhören, für diese neue Ukraine zu kämpfen. Es gibt diese neue Ukraine schon. Wir haben alles Recht und die Pflicht, ihr unsere Sympathie und unsere Unterstützung zuzusagen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Türk [FDP])