Gernot Erler in der aktuellen Stunde des Deutschen Bundestags am 4. März 2015 zur Auswirkung der Ermordung des russischen Politikers Boris Nemzow auf die Politik Russlands
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir Abschied vom russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow genommen. Es war ein eindrucksvoller Akt der Trauer, als Tausende von russischen Menschen an dem aufgebahrten Leichnam im Andrej-Sacharow-Zentrum in Moskau vorbeizogen, um Boris Nemzow die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ihnen haben dafür stundenlang in der Kälte ausharren müssen. Es waren auch zahlreiche Ausländer dabei, darunter Teilnehmer aus allen 28 EU-Staaten.
Ich habe als Vertreter der Bundesregierung an der Panichida, der russisch-orthodoxen Totenmesse, für Boris Nemzow teilgenommen, gemeinsam mit unseren ehemaligen Bundestagsmitgliedern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Wolfgang Gerhardt von der FDP sowie dem deutschen Botschafter von Fritsch.
Unser allererster Gedanke der Anteilnahme gilt der Familie, den Angehörigen und den Freunden von Boris Nemzow, aus deren Mitte er plötzlich und unerwartet durch einen feigen und heimtückischen Mord herausgerissen wurde. Dann fällt unser Blick auf den Verlust, den diese vier Kugeln der russischen Opposition, aber auch ganz Russland zugefügt haben.
Ich habe Boris Nemzow persönlich schon Anfang der 90er-Jahre als blutjungen Gouverneur von Nischnij Nowgorod mit seinem unbändigen Lockenkopf, mit seiner schwarzen Lederjacke, von der er sich nie trennen wollte, und seiner Reformbegeisterung, mit der er westliche Investoren für seine Region zu gewinnen versuchte, kennengelernt. Persönlich war er in diesen Jahren erfolgreich. Er stieg 1997/98 zum Vize-Ministerpräsidenten auf, aber auch er wurde wie seine wirtschaftsliberalen Mitstreiter Gajdar, Tschubajs, Jawlinskij und andere Opfer einer tragischen Entwicklung, dass nämlich die Menschen in Russland die ersten Schritte zur Demokratie und Marktwirtschaft als Verlust ihrer sozialen Sicherheit verbunden mit Rubelabsturz und Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern erleben mussten.
Diese Schulterlast konnte die Reformergeneration von Nemzow nie mehr abwerfen. Da half auch nicht die Gründung immer neuer oppositioneller Parteien, die eher zur Zersplitterung beitrugen. Boris Nemzow hat sich trotzdem nie entmutigen lassen. Er wurde zu einer unerschrockenen Stimme der Kritik am politischen Establishment. Er machte all denen Mut, die sich ein künftiges Russland ohne Demokratie, ohne Bürgerrechte, ohne Freiheitsrechte nicht vorstellen konnten. Zuletzt hat er schonungslos die aktuelle Ukraine-Politik von Präsident Putin öffentlich angegriffen. Vielleicht musste er deshalb sterben. Es gibt viele Spekulationen. Sich an ihnen zu beteiligen, hat keinen Sinn.
Aber eines ist mit Händen zu greifen: Dieser zynische Mord hat etwas mit der künstlich aufgeheizten und aggressiven Atmosphäre in einem Land zu tun, in dem sich NGOs mit internationalen Verbindungen selber zu ausländischen Agenten erklären müssen und in dem der Präsident alle, die seinen Kurs kritisieren, als Nationalverräter und Anhänger einer fünften Kolonne ins Abseits stellt. Wo ein unerklärter Krieg im Nachbarland geführt wird, können Nationalverräter nicht geduldet werden. Eine solche Sprache allein kann tödliche Folgen haben, wenn sie unbequeme Stimmen kriminalisiert und letztlich für vogelfrei erklärt. Deswegen ist es unverzichtbar, die russische Führung aufzufordern, alles nur Mögliche zu veranlassen, um den Mörder und seine Hintermänner dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen.
Aber es ist ebenso unverzichtbar, eine Änderung der gesellschaftlichen Atmosphäre einzufordern, die Hemmungen abbaut, auf vermeintliche Vaterlandsverräter loszugehen, auf Bürgerinnen und Bürger, die in Wirklichkeit nur von ihrem verbrieften Recht, eine andere Meinung zu haben und diese auch öffentlich kritisch zu äußern, Gebrauch machen. Von dieser Debatte im Deutschen Bundestag sollte – das wünschte ich mir – ein starkes politisches Signal in diese Richtung ausgehen.
Vielen Dank.