Gernot Erler in der 225. Sitzung des Deutschen Bundestages, 28. Februar 2013: Mali

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Mali wird weiter gekämpft. Die bedrohliche Lage im Norden des Landes hält weiter an, trotz der französischen Intervention seit dem 11. Januar 2013. Auch wenn der Norden nicht mehr unter der Kontrolle von radikalen und terroristischen Gruppierungen wie AQMI, Ansar al-Din und MUJAO steht, muss das Ziel sein, Mali und die Staaten der westafrikanischen Gemeinschaft ECOWAS sowie Frankreich bei der Wiederherstellung der Integrität Malis zu unterstützen. Das auch mit bewaffneten Kräften zu tun, steht aufgrund der Sicherheitsratsresolutionen 2071 und 2085 aus dem vergangenen Jahr auf einer einwandfreien völkerrechtlichen Grundlage.

Hier abseitszustehen und andere die Arbeit machen zu lassen oder gar zu riskieren, dass Mali ein Failed State, ein gescheiterter Staat, wird oder von dort aus die ganze Sahel-Region destabilisiert wird, wäre politisch unverantwortlich.

Deswegen wird die SPD-Bundestagsfraktion heute dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, im Rahmen der Mission EUTM Mali bei der Ausbildung malischer Pioniere zu helfen sowie die ECOWAS-Mission AFISMA mit Lufttransport und der Betankung französischer Flugzeuge im Rahmen dieser Mission AFISMA zu unterstützen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kennen die Unberechenbarkeit und Eigengesetzlichkeit militärischer Interventionen. Nichts spricht dafür, dass dies in Mali plötzlich anders sein könnte. So erfreulich der schnelle Erfolg der vorrückenden französischen und malischen Truppen war, so wenig überraschend ist es, dass die zunächst vertriebenen Terrorgruppen aus ihren Rückzugsgebieten heraus wieder angreifen und dabei zu den gefürchteten Mitteln der asymmetrischen Kriegsführung greifen.

Die Mali zu Hilfe geeilten Truppen aus dem Tschad haben dabei schon ernsthafte Verluste erlitten. Vor diesem Hintergrund ist jede Prognose über Dauer und Erfolgsperspektiven der jetzigen Intervention geradezu fahrlässig. Viel wichtiger sind aus unserer Sicht zwei Fragen, die wir beantworten müssen:

Erstens. Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass ein früher für seine Entwicklung häufig gelobtes Land wie Mali plötzlich bewaffnete Hilfe von außen braucht, um weiter zu existieren? Was ist da schiefgelaufen? Wenn wir über eine internationale militärische Intervention sprechen, ist immer etwas schiefgelaufen. Warum gab es keine politische Reaktion, weder von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS oder der African Union noch von Frankreich, das bis 1960 Kolonialmacht in Mali war, oder anderen europäischen Staaten, als die drei entscheidenden Spannungs- und Konfliktlinien in Mali immer sichtbarer wurden? Ich meine den Konflikt zwischen den alten Eliten und den Putschisten, die am 21. März letzten Jahres zugeschlagen haben. Ich meine den Konflikt innerhalb der malischen Armee zwischen Infanterie und Präsidialgarde, und ich meine den Nord-Süd-Konflikt, in dessen Verlauf sich die unzufriedenen Tuareg unter unseren Augen mit islamistischen Gruppen eingelassen und mit ihnen illegalen Handel mit Zigaretten, Drogen und sogar Menschen betrieben haben. Übrigens bestehen alle drei Konflikte auch jetzt, nach der aktuellen Intervention, weiter. Oder wieso wussten so viele, wie sich jetzt herausstellt, von den Geschäften des gestürzten Präsidenten Amadou Toumani Touré mit den Tuareg, nach dem Motto: „Ich lasse euch bei euren Drogengeschäften in Ruhe, wenn ihr dafür eure separatistischen Azawad- Träume zügelt und mich geschäftlich beteiligt"? War es nicht klar, dass hier über kurz oder lang andere Gruppen kommen und den Wunsch haben würden, sich auch an diesen Geschäften zu beteiligen? Heute wissen wir, dass die so entstandenen Verteilungskämpfe wesentliche Auslöser der aktuellen Krise in Mali waren. Wieso ist eigentlich niemandem im Westen etwas Besseres als Antwort auf den Mali-Putsch eingefallen, als sofort die Entwicklungshilfe einzustellen - für ein Land, das zu den ärmsten auf der ganzen Welt gehört, das unter einer Arbeitslosigkeit von 30 Prozent leidet und das im UNDP-Index für menschliche Entwicklung von 187 Staaten auf Platz 175 steht?

Das alles muss aufgearbeitet werden; denn sonst werden wir auch die zweite Frage nicht glaubwürdig beantworten können. Die lautet: Was ist eigentlich unter der Priorität einer politischen Lösung für Mali zu verstehen? Das ist ein Postulat, das ständig wiederholt wird, auch hier in den Bundestagsdebatten; Kollege Stinner hat es eben auch wieder genannt. Gut, das malische Parlament hat Ende Januar eine Feuille de Route, eine Roadmap, verabschiedet, in der lauter vernünftige Sachen stehen: Wiederherstellung der Integrität des Landes, Rückeroberung des Nordens, transparente und glaubwürdige Wahlen. Es ist mutig, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen schon jetzt auf den 7. und 21. Juli dieses Jahres festzulegen. Aber ich sehe nicht, wie bis dahin die drei von mir genannten intermalischen Konfliktfronten entschärft werden sollten. Ich frage mich, wie die Sicherheit in einem Land mit offenen Grenzen, mitten in der Sahelzone liegend, mit ihren vielen sozialen Herausforderungen und kaum noch überschaubaren radikal-islamistischen Gruppierungen - die übrigens Geld und Unterstützung aus Saudi-Arabien und von radikalen Kräften in Ägypten erhalten -, ohne einen intensiven Prozess auf regionaler Ebene stabilisiert werden kann.

Wir sehen, welche Probleme ECOWAS hat, die zugesagten 5 100 bewaffneten Kräfte vor Ort zu bringen, geschweige denn, sie selber zu bezahlen. Aber African Ownership kann doch nicht darauf reduziert werden, in katastrophalen Situationen Truppen stellen zu dürfen. Wir müssen Wege finden, die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS tatsächlich zu einer nachhaltigen und präventiven Friedens- und Stabilitätspolitik zu befähigen. Wir müssen vielleicht darüber nachdenken, Herr Außenminister, die etwas eingeschlafene Aktivität der Gemeinschaft der Sahel-Sahara-Staaten, abgekürzt CEN-SAD, in dieselbe Richtung wiederzubeleben und zu mobilisieren. Wir brauchen in einem solchen regionalen Stabilisierungsprozess eine proaktive Beteiligung von terrorerfahrenen Staaten wie Algerien und Mauretanien. Wir sind bereit, mit Ihnen von der Bundesregierung über solche tatsächlichen politischen Lösungen zu reden und zusammenzuarbeiten. Aber das wird nur dann glaubwürdig sein, wenn die Versuche einer politischen Lösung Priorität haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)