Verlängerung von ISAF

Rede von Gernot Erler in der 7. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. November 2009: ISAF

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deutschen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verweigern.

Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu großer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können, dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deutschen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vorläufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehbaren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhindern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins, alle zivilen und bewaffneten Kräfte - es handelt sich schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan schicken - erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai. Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt. In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die traditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, einberufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheitsverantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentlichen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit, einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel. Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internationale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen, sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aussehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht gelungen.

Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt werden, das heißt bis zu der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar. Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum Beispiel im Antrag der Bundesregierung: Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der afghanischen Polizei. Die Bundesregierung beabsichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu diesem Zweck personell erheblich aufzustocken. Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir allerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Afghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstverteidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben vorgetragen.

Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesregierung mit dem Titel „Afghanistan. Auf dem Weg zur ,Übergabe in Verantwortung‘" einsteigen, um überhaupt einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen. Auf Seite 15 steht dazu: Die Bundesregierung strebt an ..., den Personaleinsatz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken, was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte 2009 bedeutet ...Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afghanistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Aufgabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze 70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Soldaten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur 70 Leute zum Einsatz. In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 afghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizisten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbilden? Die 70 deutschen Ausbilder oder die - wenn es überhaupt jemals so viele werden - 400 Ausbilder der EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen, um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortübergreifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich geklärt werden.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stinner?

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Nein, das möchte ich jetzt nicht. ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind notwendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanistan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu verlangen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Seitens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (FDP): Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwortung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegründung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erstmals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ersten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich für außerordentlich peinlich. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiausbildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sollen, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausgebildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Konzept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60 bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehrlichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten, ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen, dies anzusprechen.

(Beifall bei der SPD)