Mit einer neuen Ostpolitik aus der Krise?

Realitätscheck für eine Friedenshoffnung

Frankfurter Hefte/Neue Sicherheitspolitik, 7/8 2015

 

Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wir sind noch mittendrin: In der tiefsten Krise zwischen dem Westen und Russland seit dem Ende des Kalten Krieges. Noch immer wird gekämpft, noch immer sterben Menschen in der Ostukraine. Bewaffnete wie Zivilisten. Mitten in Europa. Das Krisenmanagement bindet also weiter unsere Kräfte. Aber die Diskussion über das, was über den Tag hinausgeht, hat längst begonnen. Wir hatten uns an eine ihren Dienst tuende Europäische Friedensordnung gewöhnt. Wir hatten uns darauf verlassen, dass trotz einiger Meinungsunterschiede, Interessenkollisionen und Konflikte das Verhältnis des Westens mit der Russischen Föderation von Partnerschaft und Vertrauen geprägt wurde. Und das 23 Jahre lang – von der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 bis zum Beginn der Ukraine-Krise im Jahr 2014. Jahrelang wurde in vielen offiziellen Dokumenten bei diesen Verhältnissen sogar von „Strategischer Partnerschaft“ gesprochen.

Selbst wenn bis Ende 2015 alle 13 Punkte des Minsker Maßnahmenpaketes vom 12. Februar des Jahres als umgesetzt gelten könnten – aus heutiger Sicht eine gewagt optimistische Best-Case-Annahme –, bliebe die Herstellung des Status quo ante absolut illusionär. Minsk verkörpert die Roadmap zu einer diplomatisch-politischen Lösung des Ukrainekonflikts, spart aber das Krim-Problem vorerst aus und kann unmöglich die Wunden heilen, die zerstörtes Vertrauen und eine offenbar entgrenzte Konfrontations-Bereitschaft dem Corpus der Europäischen Friedensordnung bereits zugefügt haben. Das müsste also definitiv ein anderer politischer Prozess leisten.

In diesem Kontext setzen einige Akteure und Beobachter auf eine Art zweite Phase der Ost- und Entspannungspolitik. Die Erfolge dieser Politik in den 70er und 80er Jahren sind allseits in guter Erinnerung. Sie führten heraus aus dem Kalten Krieg. Nachdem Konrad Adenauers Politik der Westintegration das Vertrauen zu Deutschland bei den westlichen Partnern aufgebaut hatte, gelang dies der Ost- und Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr mit den östlichen Nachbarn, vor allem mit Polen und der Sowjetunion. Es war ein zweifacher Vertrauensbildungsprozess: Die Bundesrepublik erkannte die neuen Grenzen Europas verbindlich an und normalisierte das Verhältnis mit den östlichen Nachbarn über die Ostverträge, auch mit der staatsrechtlich anerkannten DDR. Und parallel dazu wurden die osteuropäischen Staaten in den KSZE-Prozess einbezogen, der am Ende zu verbindlichen Bekenntnissen zu westlichen Werten wie friedlicher Konfliktlösung, Demokratie und Bürgerrechten führte, festgeschrieben in den Unterschriften zur Schlussakte von Helsinki 1975 und zur Charta von Paris 1990. Die einen bekamen die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten und eine Rückversicherung gegen jede Form von Revanchismus, die anderen sahen in der östlichen Zustimmung zu den KSZE-Codices eine normative Basis für eine Europäische Friedensordnung, deren Regelwerke politische Stabilität und zivilisierte politische Lösungen in Konfliktfällen in Aussicht stellen konnten.

Auf dieser Grundlage hat sich das europäische politische System nach der Auflösung der Sowjetunion und nach dem Ende der Blockkonfrontation ab 1991 weiterentwickelt. Die Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow, die Zustimmung Moskaus zur deutschen Vereinigung und die Reformpolitik von Boris Jelzin – das alles schien die Voraussetzungen für eine nachhaltige Partnerschaft auf Vertrauensbasis zwischen dem Westen und der Russischen Föderation weiter auszubauen. Zwischen der EU und Moskau entwickelten sich enge politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen. Dass sich mit der Präsidentschaft von Wladimir Putin in der russischen politischen Elite eine zunehmend kritische Bewertung des westlichen Umgangs mit Russland verbreitete, blieb nicht verborgen. Der eklatante russische Regelverstoß mit der Annexion der Krim und der nachhaltigen militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine war dann aber doch eine böse Überraschung. Erklärungsbedürftig erscheint dabei besonders das Ausmaß der Risikobereitschaft, was die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieses Regelverstoßes angeht – bis hin zur Einkalkulierung eines kaum eingrenzbaren militärischen Konflikts.

Kann – immer vorausgesetzt, die Entschärfung der aktuellen Konfliktlage durch das Minsk-Krisenmanagement lässt das überhaupt zu – eine zweite Entspannungs- und Ostpolitik in dieser Situation irgendetwas erreichen, und wie könnte dies aussehen? Ganz offensichtlich müsste da ein politischer Aufarbeitungsprozess am Anfang stehen, der für beide Seiten nicht einfach werden dürfte. Diese Aufarbeitung wäre eigentlich ein therapeutischer Versuch, eine Defizit-Entwicklung im westlich-russischen politischen Diskurs auszugleichen. Es wurde geredet, aber nicht verstanden. Oder es wurde verstanden, das blieb aber folgenlos.

Vor unseren Augen haben in Russland neue Prioritätensetzungen stattgefunden, die zu einem einschneidenden Spannungsverhältnis zu den Normen der Europäischen Friedensordnung geführt haben. Russland will die Anerkennung als Weltmacht, auf gleicher Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten. Man glaubt, diesen Anspruch nur vertreten zu können, wenn man über eine größere territoriale Einflusszone verfügt – ein Denken in klassischen geopolitischen Kategorien, die aus westlicher Sicht der Vergangenheit angehören. Oder müssen wir uns mit der russischen Wahrnehmung auseinandersetzen, die in der Osterweiterung von EU und NATO sowie in den Regionalstrategien der EU wie etwa der „Östlichen Partnerschaft“ nichts anderes als klassische territoriale Einflusspolitik sieht, also den Versuch, die westliche Einflusszone zulasten der russischen auszudehnen? Zu diesem Komplex gehört auch die russische Klage über Doppelstandards. In keiner Diskussion mit russischen Partnern fehlt als Antwort auf rechtliche und völkerrechtliche Vorhaltungen in Sachen Krim und Ostukraine der Gegenvorwurf des westlichen völkerrechtswidrigen Vorgehens in den Fällen Kosovo und Irak. Der Unterschied sei nur, dass die Unsanktionierbarkeit der Weltmacht USA allseits respektiert werde, während der Westen Russland mit Sanktionsmaßnahmen konfrontiere.

Das Neue ist: Wir haben es hier nicht mit einem internen Diskurs innerhalb einer zahlenmäßig begrenzten russischen Nomenklatur zu tun. Wie auch immer das passiert ist (und die Rolle einer gesteuerten und wirksamen Propaganda wird dabei niemand leugnen), aber die außerordentlich hohe Zustimmung der russischen Bevölkerung zu Putins als „Wiedervereinigung“ ausgegebenen Einverleibung der Krim und zu einer Konfrontationspolitik mit dem Westen, die das Bild einer „von den Knien aufstehenden“ Nation bemüht, ist ein politisches Faktum, auf das sich die gegenwärtige russische Führung beruft. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist bereit, den Preis für eine solche Konfrontationspolitik zu tragen.

Zu diesem Bild passt, dass sich Präsident Putin in letzter Zeit darum bemüht, die russische Politik als Antwort auf Bedrohungen von außen darzustellen und zu versichern, dass sich umgekehrt niemand von Moskau bedroht sehen müsse. Solche Erklärungen fügen sich in das politische „Fighting back“-Muster, tragen aber kaum zur Beruhigung bei – nicht in der Ukraine, nicht in Polen, schon gar nicht in den baltischen Republiken mit ihren starken russischen Minderheiten. Hier hat die Krim-Annexion tatsächlich jedes Vertrauen in die Europäische Friedensordnung zerstört. Man verlässt sich – wie im „Kalten Krieg“ – nur noch auf Hardware und hätte am liebsten vorne stationierte NATO-Kampftruppen statt die zuletzt beschlossenen „Reassurances“ für die Gültigkeit der Sicherheitsgarantien des westlichen Bündnisses. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Litauen steht als Zeichen für diese Entwicklung. Man könnte manchmal verzweifeln, wenn man anschauen muss, wie wenig Sensibilität in Moskau dafür besteht, was die Krim- und Ukrainepolitik hier, in der direkten Nachbarschaft, für eine Schneise von Vertrauenszerstörung und Unsicherheitsgefühlen geschlagen hat.

Und das sind längst nicht alle Herausforderungen für eine neue Entspannungspolitik, die ohne eine gründliche Aufarbeitung der ganzen Entwicklung im Ost-West-Verhältnis von 1991 bis heute keine Chance hätte. Das politische Denken ist in dieser Zeit, trotz der schönen Überschrift der „Strategischen Partnerschaft“, sehr stark auseinander gedriftet. Das wieder zusammenzubringen, ist eine Mammutaufgabe. Sie erinnert an die historische Aufgabe und Leistung der Ost- und Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre. Damals gelang es tatsächlich, ideologische Dogmen und Gewissheiten in einem Zyklus von mehrjährigen Konferenzen infrage zu stellen und eine neue normative politische Basis zu schaffen, auf die sich alle Beteiligten berufen konnten und die sich als einklagbar bewährte.

Die damals gemachten Erfahrungen bilden einen wertvollen Erfahrungsschatz. Wir können diese Erfahrungen nutzen: Kann sein, dass wir dabei auf die Methode mehrjähriger Verhandlungszyklen zurückgreifen werden. Die Erfolgsaussichten entscheiden sich aber an einer anderen Stelle: nämlich an der Frage, ob überhaupt der Wille da ist, die gegenwärtige Konfrontation über einen politischen Austauschprozess zu überwinden und ein neues Vertrauensverhältnis aufzubauen. Im Westen überwiegt die Haltung, Moskau brauche ja bloß die Regelverletzungen einzugestehen, sie aufzugeben und sich erneut zu den Normen der Europäischen Friedensordnung zu bekennen, die es so eklatant verletzt hat. Dann stünde dem business as usual zwischen beiden Partnern nichts mehr im Wege. In Russland weisen die zahlreichen verbalen Bekenntnisse zu dem Minsker Maßnahmenpakt auf ein Interesse hin, vorerst weitere politische Eskalationen zu vermeiden – auch wenn die Defizite bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht zu übersehen sind. Aber über die Sinnhaftigkeit oder gar Notwendigkeit, mit dem Westen wieder zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zu kommen, wird offen und kontrovers diskutiert. Die russische Führung zeigt sich überzeugt, dass Moskau auch über andere Optionen verfügt: mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, mit dem Ausbau des strategischen Dreiecks Russland-China-Indien und der Aufwertung von G20 und BRICS.

Das heißt, eine neue Entspannungspolitik kann nur auf den Weg gebracht werden, wenn starke Mehrheiten im Westen wie in Russland diese auch wollen und sich von einem solchen neuen Vertrauensbildungsprozess Vorteile und Verbesserungen im Vergleich zu dem Status quo ante versprechen. Es geht inzwischen um weit mehr als um die Reparatur eines Schadens. Auf dem Spiel steht die Frage, ob eine neue politische Bruchlinie, die quer durch den ganzen eurasischen Kontinent verläuft, noch verhindert werden kann. Ohne eine sorgfältige Aufarbeitung der politischen Prozesse, die beide Seiten in die aktuelle Konfrontationssituation gebracht haben, kann keine neue, auf Vertrauen basierende Partnerschaft entstehen.

Setzt man das in Beziehung mit der historischen Ost- und Entspannungspolitik, die Jahrzehnte zu ihrer erfolgreichen Entfaltung brauchte, dann wird man eines einräumen müssen: Die Dimension der Herausforderung ist eine vergleichbare.

 

Dr. h. c. Gernot Erler MdB, Staatsminister a. D., Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.