Russland, die Ukraine und der Westen: Autopsie einer Krise und ihrer Folgen

Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft, 9/2014

Drei Fragen stellen sich im Kontext der Ukraine-Krise, die längst zum ernsthaftesten Konflikt zwischen dem Westen und der Russischen Föderation seit dem Ende des Kalten Krieges geworden ist: Was ist passiert? Was wurde dabei zerstört? Und wo wollen wir politisch hin?  

Was ist passiert? Als 2004 in Kiew die „Orangene Revolution“ obsiegte, wollte die neue Führung mit Präsident Juschtschenko sofort das Land in die EU bringen. Das war aussichtslos. Die EU sagte aber nicht nur Nein, sondern bot als Ersatz eine Art Assoziierung an. Jahrelang wurde über ein entsprechendes Abkommen verhandelt, nach dem Scheitern der Orangenen seit 2010 mit dem neuen, prorussischen Präsidenten Viktor Janukowytsch. 2012 war der Vertragstext fertig. Aber die EU glaubte, für das Inkrafttreten des Abkommens etwas verlangen zu dürfen, vor allem die Freilassung der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko – eine komplette Fehl-Kalkulation! Denn kurz vor dem EU-Gipfel in Vilnius im November 2013 verweigerte Präsident Janukowytsch die Unterschrift. 

Er stand dabei unter russischem Druck. Erst sehr spät, nämlich im Frühjahr 2013, hatte die russische Führung eine ernsthafte Gefahr in dem Assoziierungsvertrag entdeckt, der mit einem umfassenden Freihandelsabkommen gekoppelt war. Konnte Kiew nach einer Unterschrift auch noch eine Rolle in der russisch-geführten Zollunion oder gar in Putins Lieblingsprojekt, der schließlich am 31. Mai 2014 auf die Schienen gesetzten „Eurasischen Wirtschaftsunion“, spielen? Ratspräsident Barroso antwortete plötzlich öffentlich mit Nein und stellte die Ukraine vor eine Entweder-Oder-Entscheidung.   

Die Nichtunterschrift des ukrainischen Präsidenten löste Proteste aus. Vor allem Studierende beteiligten sich an zunächst friedlichen Straßenprotesten, die nach ihrer brutalen Niederknüppelung dann aber zu einem blutigen Systemkonflikt mutierten. Der „Euromaidan“ wollte das ganze ukrainische politische System kippen: die Oligarchenherrschaft, die endemische Korruption, das Clansystem mit der kleptokratisch agierenden Janukowytsch- Family an der Spitze. Das gelang auch nach bewaffneten Auseinandersetzungen, als der Präsident am 21. Februar 2014, etwas unerwartet, aus dem Land flüchtete.

Genau der Maidan-Triumph machte aber aus dem Fall Ukraine einen Fall Westen contra Moskau. Denn aus russischer Sicht hatte der Westen zwei rote Linien überschritten: Jetzt wurde das EU-Assoziierungsangebot als geopolitische Attacke gegen russische Interessen im Sinne des Einziehens einer Trennlinie zwischen Russland und der Ukraine gewertet. Und der erfolgreiche Regime-Change von unten in Kiew kam wie ein Schock in Moskau an, sofort als Produkt westlicher antirussischer Konspiration eingeordnet wie einst die „farbigen Revolutionen“ zwischen 2003 und 2005 in Georgien, der Ukraine und Kirgistan. Das altbekannte Einkreisungssyndrom entfaltete einmal mehr seine Wirkung. 

Im Ergebnis musste sich der Westen im März 2014 die perfekt inszenierte und in lediglich fünf Tagen durchgezogene Annexion der Krim anschauen und hinterher die nur halbherzig camouflierte Unterstützung der ostukrainischen Separatisten. Die Reaktion war eine doppelte: Am 6. März 2014 beschloss die EU ein abgestuftes Sanktionsregime gegen Russland, das seitdem in vorsichtigen Schritten auch umgesetzt wurde. Und es gab die eindeutige Aussage, dass der Westen eine militärische Lösung des Konflikts zwischen der ukrainischen Interimsregierung mit dem am 25. Mai neu gewählten Petro Poroschenko als Präsident und den Separatisten in Donezk und Luhansk nicht für möglich hält und stattdessen auf eine politische Lösung setzt. Dabei wurde Deutschland wegen seiner besonders intensiven politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen mit Russland in eine Führungsrolle gedrängt, die von Berlin mit wiederholten Vermittlungsversuchen in Gemeinsamkeit mit den Vereinigten Staaten, Frankreich und Polen auch wahrgenommen wurde. Mit der Tragödie des MH17-Todesfluges vom 17. Juli 2014 hat die Internationalisierung dieses zunächst regional begrenzten Konfliktes eine neue Dimension erreicht. 

Was wurde bisher bei diesem Konflikt zerstört? Leider muss man sagen: viel! Aus westlicher Sicht hat sich – trotz mancher Probleme und Interessenkollisionen – das Verhältnis mit Russland in den 23 Jahren seit der Auflösung der Sowjetunion konstruktiv entwickelt. Am sichtbarsten wird dies bei den wirtschaftlichen Beziehungen und den russischen Energielieferungen für die Länder der EU. Es entstand eine tiefe Verflechtung, ja im Energiebereich eine wechselseitige Anhängigkeit, die ohne ein Mindestmaß von gegenseitigem Vertrauen weder denk- noch verantwortbar wäre. Der Westen hat dabei auf Partnerschaft mit Moskau gesetzt. Dieser Begriff prägt die Sprache aller programmatischen Dokumente: Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (seit 1997), Modernisierungspartnerschaft (in Deutschland ab 2008, in der EU offiziell seit 2010), Strategische Partnerschaft, beschworen auf allen Gipfeltreffen. 

Partnerschaft setzt Vertrauen und Berechenbarkeit voraus. Moskaus Krim-Aneignung und der Umgang mit der Ukraine, das hat das Vertrauensverhältnis schwer beschädigt. Wie kann auf ein Land als Partner noch Verlass sein, das selber unterschriebene Garantieverträge für die Souveränität und territoriale Unversehrtheit des Nachbarlandes wie die von 1994 und 1997 regelrecht mit Füßen tritt? Und eng damit zusammen hängt, dass Moskau auf einmal unberechenbar geworden ist. Wir kennen nicht die politischen Ziele des russischen Präsidenten, was seine Ukraine-Politik angeht: Will er Teile der Ostukraine zusätzlich zur Krim-Halbinsel annektieren? Will er den Konflikt in der Ostukraine verstetigen und ihn als Hebel zur Beeinflussung jeder künftigen Politik in Kiew nutzen? Ist es der Plan, bestimmte Forderungen wie Nicht-NATO-Beitritt, Nicht-EU-Beitritt und Föderalisierung der Ukraine politisch durchzusetzen? Wir wissen es nicht. Aber Unberechenbarkeit ist der stärkste Feind von Vertrauen und Partnerschaft. Hier stehen wir tatsächlich vor einem politischen Trümmerfeld. 

Wo wollen wir politisch hin? Kurzfristig kann es nur um Deeskalation, Schadensbegrenzung und eine Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen gehen. Die Maßnahmen als Reaktion auf die Krim-Annexion waren notwendig. Ein stillschweigendes Hinnehmen dieses vertragswidrigen Aktes gegen alle internationalen Normen kann es nicht geben. 

Wir wollen keine Rückkehr zu den Verhältnissen des Kalten Krieges. Je eher es zu einer politischen Lösung des Ukraine-Konfliktes kommt, und der Schlüssel dazu liegt vornehmlich in russischer Hand, desto besser werden die Chancen, das Schlimmste zu verhindern. Die Malaysia-Airlines-Tragödie hat den Druck in Richtung Verhandlungslösung verstärkt. 

Wie sieht es mit unseren mittelfristigen Zielen aus? Auch nach einer politischen Lösung des Konflikts steht die Ukraine vor großen Herausforderungen. Das Assoziierungsabkommen verschenkt nichts, sondern bindet alle Leistungen an Transformations- und Reformfortschritte auf der Seite Kiews. Ohne eine massive westliche Unterstützung und ein Mindestmaß von Kooperation von russischer Seite bleibt eine Stabilisierung dieses zweitgrößten Flächenstaates in Europa mit 45 Millionen Einwohnern undenkbar. Unser Ziel ist aber eine dauerhafte Stabilisierung der Ukraine. 

Eine rasche Rückkehr zum status quo ante mit Russland wird es nicht geben. Es braucht lange, um zerstörtes Vertrauen wieder herzustellen. Aber mittelfristig müssen wir versuchen, wieder zu einer Verantwortungspartnerschaft mit Moskau zu kommen. Die am 11. Juli in Brüssel begonnenen trilateralen Gespräche zur Frage der Kompatibilität der verschiedenen Integrationssysteme von West und Ost können dabei helfen. Es macht Sinn, die Implikationen der EU-Assoziierungspolitik und des Putin-Projekts der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ für beide Seiten auszuloten. Schade, dass das nicht schon früher geschehen ist.

Vor einer erneuerten Partnerschaft zwischen der EU und Russland stünde die Aufgabe, die unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen auf beiden Seiten aufzuarbeiten. Wo die einen von einer Strategischen Partnerschaft sprechen, beklagen die anderen eine unfaire Ausnutzung einer Phase russischer Schwäche. Die ausgestreckte Hand zur Modernisierung von Wirtschaft, Administration, Rechtskultur und Gesellschaft – sie wird, zumindest derzeit, ignoriert. Warum diese Defizite in der Verständigung und Zusammenarbeit? Beide Zivilgesellschaften werden gebraucht, wenn wir hier die Grundlagen für eine bessere Zukunft legen wollen.

Wir benötigen in jeder Zukunft ein die internationalen Werte und Regeln beachtendes Russland als konstruktiven Partner. Das gilt für die Ukraine, aber auch für solche politischen Sprengsätze wie Transnistrien, Nagorno-Karabach, Südossetien und Abchasien. Russlands positiver Einfluss wird ebenso bei internationalen Konflikten gebraucht. Das gilt für Syrien, Irak, Iran und den Nahen Osten. Und schließlich: Ein Land, das sich selbst als Weltmacht sieht, muss auch bei globalen Herausforderungen Verantwortung übernehmen - beim Klimawandel, der Wasserverteilung und der Sicherung von Nahrungsmittel- und Energieversorgung. Ohne Russland geht es nicht.

Dr. h. c. Gernot Erler MdB, Staatsminister a. D., Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.