Last Exit Minsk

Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft, 4/2015

Alles ist gewöhnungsbedürftig an diesem Ukrainekonflikt, der längst zum gefährlichsten Zerwürfnis zwischen dem Westen und der Russischen Föderation seit dem Ende des Kalten Krieges geworden ist. Auch diese eigenartige Geographisierung von politischen Prozessen. Wenn sich die „Normandie“ in Minsk trifft (einem Ort, mit dem sich nicht automatisch positive Assoziationen verbinden), dann gibt es Hoffnung auf eine diplomatisch-politische Lösung für diesen Konflikt. Das war der Fall, als am 5. September 2014 „Minsk I“ verabredet wurde, konkretisiert in dem „Minsker Memorandum“ vom 19. September 2014, was die geplante Umsetzung anging.

Aber Umsetzung war nicht. Kein wirklicher Waffenstillstand, kein Abzug der schweren Waffen zur Schaffung einer Pufferzone, schon gar kein Schritt zur konsentierten internationalen Kontrolle der löchrigen russisch-ukrainischen Grenze. Ein unvollständiger Austausch von Gefangenen, das war alles, was von Minsk I Realität wurde. Der Krieg ging weiter, mit wachsenden Opferzahlen. Ein Schockerlebnis für den Westen, der die Bringschuld vor allem auf Seiten der Separatisten und ihrer russischen Unterstützer als nicht erfüllt sah. Die Sinnfrage stellte sich für den EU-Ansatz, vollständig auf eine politische Lösung zu setzen, wenn das Vereinbarte einfach ignoriert wurde. Kein Wunder, dass die Diskussion über eine vermeintliche Alternative aufbrach, nämlich Waffenlieferungen an die Ukraine.

Was sollte man machen? Sich einfach nochmals an den Verhandlungstisch setzten und wieder von vorne anfangen? Es bestand die Gefahr, dass man sich lächerlich machte. Die deutsche Bundeskanzlerin zögerte, die Einladung zu einem weiteren Normandie-Treffen (also mit ihr und den Präsidenten Hollande, Poroschenko und Putin) ins kasachische Astana anzunehmen: Das mache nur Sinn bei einer belastbaren Erfolgswahrscheinlichkeit neuer Verhandlungen. Aber dann spitzte sich die Lage im Kampffeld zu. Die Separatisten aus den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk machten riesige Geländegewinne und drängten die ukrainischen Verbände immer weiter in verlustreichen Kämpfen zurück. Die Erfolgsgarantie musste zurücktreten. Kurzfristig erfolgte eine neue Normandie-Verabredung für den 11. und 12. Februar 2015 im näher gelegenen Minsk.

Minsk II unterscheidet sich inhaltlich kaum von Minsk I. Eigentlich ist es – so auch der Titel – ein „Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsk-Vereinbarungen“, also von Minsk I. Aber trotzdem gibt es zwei gravierende Unterschiede. Bei den 13 Einzelpunkten sind jeweils konkrete Zeitvorgaben für die Umsetzung gemacht worden. Und dann gibt es eine politische Erklärung der drei Präsidenten und der deutschen Kanzlerin zur verbindlichen Unterstützung des ganzen Maßnahmenpakets vom 12. Februar 2015. Das nimmt die Autorität der vier Staats- und Regierungschefs in die Pflicht. Eine nachweisliche Nichtbeachtung der 13 Punkte wäre mit erheblichen Glaubwürdigkeits- und Ansehensverlusten verbunden.

Aber diese politische Vierer-Erklärung vom 12. Februar sendet noch ein anderes, wichtiges politisches Signal aus. Ausdrücklich wird unterstützt, dass die trilateralen Gespräche zwischen EU, der Ukraine und Russland über Energiefragen fortgesetzt werden, was zwischenzeitlich mit einem zeitgewinnenden Erfolg auch passiert ist. Ausdrücklich werden zudem die trilateralen Gespräche über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zur Klärung von Kollisionen mit russischen Interessen unterstützt, Gespräche, die bereits im Juli 2014 begonnen, inzwischen aber ins Stocken geraten waren. Und schließlich bekennen sich die Vier wörtlich „zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der OSZE“.

Jeder wird hier unschwer erkennen, was gemeint ist: Präsident Putins im Jahr 2010 erstmals erklärter Vorschlag eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok. Auch wenn der ausdrückliche Hinweis auf Völkerrecht und OSZE-Prinzipien für Moskau unbequem klingt – wirft der Westen Russland doch vor, genau diese Regeln mit der Krim-Annexion und der Unterstützung der ostukrainischen Separatisten zu missachten -, sollen diese drei Punkte in der gemeinsamen Erklärung doch klar machen: Der Westen ist bereit, und das mit ukrainischer Zustimmung, in den Dialog über russische Interessen und Ordnungsvorschläge einzutreten und nach konstruktiven Lösungen zu suchen. Das Signal lautet: Das gemeinsame Bekenntnis zu „einer ausschließlich friedlichen Lösung“ kann sich für Russland durchaus politisch gewinnbringend auswirken und insofern Präsident Putin eine gesichtswahrende Änderung seiner bisherigen Politik erleichtern.

Was macht Minsk II also aussichtsreicher als Minsk I? Die konkrete Formulierung der 13 Punkte, verbunden mit Zeitvorgaben, die „Garantieerklärung“ der Staats-und Regierungschefs und die Tatsachen, dass die Vierer-Erklärung unübersehbar mit einem positiven politischen Signal an Moskau verbunden wurde. Die ersten Wochen nach Minsk II boten eine gemischte Erfahrung. Am Anfang stand das entmutigenden Debalzewe-Debakel: Noch nach der Gültigkeit des Waffenstillstands arrondierten die von starken russischen Kräften unterstützten Separatisten ihr Gebiet um diesen wichtigen Verkehrsknotenpunkt, von Präsident Putin dabei mit schulterzuckenden bis zynischen Kommentaren unterstützt. Aber es gab auch hoffnungweckende Umsetzungsschritte: ein nach der Einnahme von Debalzewe weitgehend eingehaltener Waffenstillstand sowie ein Rückzug schwerer Waffen auf beiden Seiten, der letztlich zu einer von der OSZE kontrollierten Pufferzone von 50 bis 140 Kilometern Tiefe führen soll und der endlich den Zugang für humanitäre Hilfsleistungen zugunsten der notleidenden Zivilbevölkerung öffnet.

Keine Frage: Der Weg ist noch weit! Jeder Implementierungsschritt kostet Kraft und Zeit, bleibt aber kurzfristig reversibel. Beobachtungskapazitäten werden dabei immer wichtiger. Es war überfällig, eine massive Aufstockung der OSZE-Mission vor Ort zu beschließen, wobei es bemerkenswerterweise schwierig wird, kurzfristig geeignete und geschulte Beobachter zu entsenden, aber jede Anstrengung lohnt sich. Denn wir haben quasi eine Situation „Last Exit Minsk“. Scheitert dieser zweite große Anlauf, wäre automatisch die europäische Festlegung auf eine diplomatisch-politische Lösung der Krise delegitimiert. Die Rufe nach Waffenlieferungen an die Ukraine würden lauter und wirksamer werden, auch wenn sie nichts daran ändern, dass eine militärische Lösung ausscheidet. Die Rüstungsweltmacht Russland würde eine Niederlage der Separatisten durch ukrainische Waffen mit allen Mitteln verhindern. Und über ausreichende Mittel verfügt sie. Insofern bliebe auch bei einem Scheitern von Minsk II nur die Möglichkeit, ein Minsk III zu versuchen, wenn dies überhaupt politisch durchsetzbar wäre. Minsk II darf also nicht scheitern.

Im politischen Teil handelt das Abkommen vom 12. Februar von einer neuen ukrainischen Verfassung, die eine Dezentralisierung des Landes ermöglicht, von einem gesetzlichen Sonderstatus für Donezk und Lugansk sowie von einer Wiederherstellung der Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen, die Zahlung von Renten und Steuern einbezogen, mit den Konfliktgebieten. Das alles sind Schritte, die zu einer echten Deeskalation des Konfliktes beitragen können. Aber es ist noch nicht der Masterplan, das Grand-Design-Konzept, das die künftigen Beziehungen zwischen der EU, der Ukraine, Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion regelt. Das bleibt einem Nach-Minsk-Prozess vorbehalten, der nur starten kann, wenn das Maßnahmenpaket weiter Schritt für Schritt umgesetzt wird.

Für den Westen wie für Russland wird das ein schwieriger Prozess. Zunächst liegen die Vorteile auf der russischen Seite, denn Moskau verfügt über die sogenannte „Eskalationsdominanz“. Jederzeit können die Kämpfe über die „Proxys“ in der Ostukraine wieder zum Aufflammen gebracht werden, während die EU weiter an der ausschließlichen Diplomatie-Lösung festhält. Für Präsident Putin erscheint es verlockend, seine bisher erfolgreiche „hybride Kriegsführung“ fortzusetzen: Er unterstützt die Aufständischen in der Ostukraine mit Waffen, freiwilligen Kämpfern und camouflierten russischen Streitkräften, hat es aber über wirksame Propaganda geschafft, in der eigenen Bevölkerung das Bild zu erwecken, dass sich dort eine russischsprachige Minderheit gegen den Druck, ja gegen Genozidabsichten einer in Kiew an die Macht gekommenen „faschistischen Junta“ zu wehren hat, was das russische Brudervolk nicht kalt lassen kann. Über die Fernseh-Sender kommen die Bilder von inzwischen schon über 15 Hilfskonvois, während die militärische Intervention konsequent und gegen alle auch unabhängigen Beobachtungsergebnisse geleugnet wird - ein typisches Merkmal der modernen Hybrid-Kriegs-Führung, das „plausible deniability“ genannt wird.

Was macht man aber, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, aus dieser Politik heraus will, wo man selber die nationalkonservativen Kräfte im eigenen Land gestärkt und sich bei ihnen mit der rücksichtslosen Krim- und Ostukrainepolitik populär gemacht hat? Der Blick richtet sich, wenn wir über die Chancen von Minsk II sprechen, plötzlich auf die russische innenpolitische Szenerie. Sie wird bis heute von der Putin-Rede im Georgssaal des Kremls vom 18. März 2014 geprägt, wo der Präsident die „Wiedervereinigung“ mit der Krim gefeiert und zugleich alle seine Kritiker als „National-Verräter“ und Unterstützer einer Fünften Kolonne quasi aus der russischen Gesellschaft gedrängt hat. Seither hat sich der Umgang mit Opposition und kritischer Zivilgesellschaft in Russland brutalisiert, und insgesamt ist eine gesellschaftliche Atmosphäre von Aggression und Hass entstanden.

Die brutale Ermordung des russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow in der Nacht zum 28. Februar 2015 muss, egal welche Attentäter oder Hintermänner dingfest gemacht werden, dieser aufgereizten gesellschaftlichen Atmosphäre, die zum Bestandteil der Hybrid-Kriegs-Führung geworden ist, zugeschrieben werden. Wie immer in solchen Fällen wuchern die verschiedensten Verschwörungstheorien. Eine davon will wissen, dass die Bluttat unter den Fenstern des Kreml ein Warnsignal von Hardlinern war, die Kompromissbereitschaft des Präsidenten im Minskprozess nicht zu übertreiben. Das hieße, die Kräfte, die der Präsident selber stark gemacht hat, melden jetzt ihre Ansprüche an die russische Politik in der Ukraine-Frage an. Nemzow soll ja zuletzt an einer Dokumentation zur militärischen Intervention Russlands in der Ukraine gearbeitet haben, also einem Projekt, das die „glaubhafte Abstreitbarkeit“ dieses Engagements hätte untergraben können.

Es gibt viele andere Spekulationen. Eines steht aber fest: Ob der Last Exit Minsk genutzt wird, hängt längst auch von der weiteren Entwicklung inmitten der russischen Gesellschaft ab.

Dr. h. c. Gernot Erler MdB, Staatsminister a. D., Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.