Vertrag von Lissabon

Gernot Erler in der 844. Sitzung, des Bundesrats, 23. Mai 2008: Vertrag von Lissabon

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als am 1. Januar 2007 die deutsche EU-Präsidentschaft begann, gab es in Europa noch erhebliche Zweifel, ob es wohl gelingen kann, den nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken gekommenen Prozess der EU-Vertragsreform wieder in Gang zu setzen.

Der Gegensatz zwischen damals und heute könnte kaum größer sein. Der Vertrag von Lissabon ist am 13. Dezember 2007 unterzeichnet worden, und der Ratifizierungsprozess ist in vollem Gange. Die Parlamente von 13 Mitgliedstaaten haben dem Vertrag bereits zugestimmt. Mit der heutigen Zustimmung des Bundesrates am Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes folgt Deutschland als 14. Mitgliedstaat.

Der Vertrag von Lissabon enthält die notwendigen institutionellen Reformen, damit die EU die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Zukunftsaufgaben erfolgreich anpacken kann. Die Gestaltung unserer wirtschaftlichen und sozialen Zukunft, die Sicherung der Energieversorgung, die Bekämpfung von Terrorismus und internationaler organisierter Kriminalität, die langfristige Stabilisierung unseres geografischen Umfeldes und das Eintreten für die Zukunft unseres Planeten - einem Großteil dieser Herausforderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir heute nur noch im Verbund mit unseren europäischen Partnern erfolgreich begegnen.

Der neue Vertrag stärkt Handlungsfähigkeit und Effizienz in der EU. Gleichzeitig macht er die Politik in der EU - das liegt mir ganz besonders am Herzen - demokratischer und für den Bürger besser nachvollziehbar. Wir haben während unserer Präsidentschaft erreicht, dass die Menschen in Europa wieder mit deutlich mehr Zuversicht in die Zukunft blicken. Der neue Vertrag bildet die Grundlage dafür und enthält den politischen Auftrag, dass wir Europäer die Zukunftsaufgaben zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam angehen.

Die Bundesregierung verdankt ihren Erfolg bei der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und der nachfolgenden Regierungskonferenz in hohem Maße auch der breiten parteiübergreifenden Unterstützung in Bundestag und Bundesrat, die sich während der Ratifizierungsphase fortgesetzt hat. Für die exzellente Zusammenarbeit mit Ihnen, den Vertretern des Bundesrates, danke ich Ihnen im Namen der gesamten Bundesregierung.

Lassen Sie mich einige der aus meiner Sicht wichtigsten Verbesserungen des neuen Vertrags herausgreifen:

Erstens. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, d. h. die Abstimmung im Rat mit qualifizierter Mehrheit und die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments, wird künftig zum Regelfall. Beides bedeutet auch in Verbindung mit der Einführung der doppelten Mehrheit ab 2014 eine deutliche Stärkung von Handlungsfähigkeit und Demokratie in Europa.

Zweitens die Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente - in Deutschland Bundestag und Bundesrat - und damit einhergehend eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips in der EU.

Drittens die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates. Dies wird Kontinuität, Kohärenz und Sichtbarkeit der EU-Politik deutlich erhöhen.

Viertens die Schaffung des Amtes eines Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik, der zugleich Vizepräsident der Kommission ist und den Vorsitz im Außenministerrat führt. Dieses neue Amt sowie zahlreiche weitere Verbesserungen im Bereich der Außenpolitik werden dazu beitragen, dass die Rolle Europas in der Welt künftig weiter an Bedeutung zunimmt.

Fünftens. Im Bereich der Sachpolitiken möchte ich die Fortschritte in den Feldern Energiepolitik, Klimaschutz, Kriminalitätsbekämpfung sowie Soziales hervorheben.

Sechstens die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta.

Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen - da brauchen wir uns nichts vorzumachen -, haben wir nicht alles erreicht, was wir uns gewünscht haben. Der neue Vertrag enthält gegenüber dem Verfassungsvertrag Abstriche, die nicht unerheblich sind: z. B. der Verzicht auf das Verfassungskonzept, die verzögerte Einführung der doppelten Mehrheit oder der Verzicht auf den Artikel zu den Symbolen. Insgesamt können wir mit dem neuen Vertrag aber mehr als zufrieden sein.

Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die Initiative von Ministerpräsident Kurt Beck für eine Erklärung zu den Symbolen der EU. Die Bundesregierung hat diesen Vorschlag des Bundesrates, der ja auch im Bundestag auf breite Zustimmung  gestoßen ist, sofort aufgegriffen. Wir haben 15 weitere Mitgliedstaaten für diese Erklärung gewinnen können, in der betont wird, dass die Symbole auch künftig die Zusammengehörigkeit der Menschen in der EU und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen.

Zu den zentralen Fortschritten des neuen Vertrags gehört die deutliche Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente, insbesondere durch die neu eingeführten Instrumente der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage. Die Bundesregierung misst diesen neuen Instrumenten mit Blick auf eine konsequente Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in der EU großes Gewicht bei.

Entsprechend groß ist auch die politische Bedeutung der gesetzlichen Regelungen zur innerstaatlichen Umsetzung der den nationalen Parlamenten neu eingeräumten Rechte in Deutschland. Die Bundesregierung unterstützt voll und ganz das vorliegende Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in EU- Angelegenheiten, das sogenannte Begleitgesetz, sowie das in diesem Zusammenhang vorgelegte Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes.

Das vorliegende Begleitgesetz korrespondiert in weiten Teilen mit dem im Jahre 2005 verabschiedeten Begleitgesetz, das wegen des Scheiterns des Verfassungsvertrages allerdings nicht in Kraft getreten ist. Es ist notwendig, das Begleitgesetz durch eine Grundgesetzänderung zu flankieren, um alle rechtlichen Zweifel auszuschalten.

Es freut mich, dass es darüber hinaus gelungen ist, in den Gesprächen zwischen der Bundesregierung und den Ländern Einvernehmen über eine Anpassung der Bund-Länder-Vereinbarung über die Zusammenarbeit in EU- Angelegenheiten zu erzielen.

Wichtig erscheint mir, dass wir den neuen Vertrag und die gefundenen innerstaatlichen Regelungen nun politisch mit Leben erfüllen. Mit den neuen Rechten wächst dem Bundesrat ebenso wie dem Bundestag eine nochmals gestärkte Verantwortung in der Europapolitik zu. Ich möchte dem Bundesrat eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft in Europa anbieten.

Wir brauchen den Vertrag von Lissabon, damit wir Europäer die großen Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, erfolgreich bewältigen können. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in Europa insgesamt erwarten, dass wir die institutionelle Debatte abschließen, so dass sich die Europapolitik voll und ganz auf die Zukunftsaufgaben konzentrieren kann. Ich bin zuversichtlich, dass der weitere Ratifizierungsprozess in allen Mitgliedstaaten erfolgreich zum Abschluss gebracht und der neue Vertrag wie vorgesehen am 1. Januar 2009 in Kraft treten kann. - Ich danke Ihnen.

Staatsminister Gernot Erler