Zur aktuellen Lage in Tibet

Deutscher Bundestag, 154. Sitzung, Donnerstag, den 10. April 2008 

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Aktuelle Lage in Tibet           

Dr. h. c. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind erschüttert und tief besorgt über die Nachrichten und Bilder, die uns seit dem 14. März aus der tibetischen autonomen Region und den angrenzenden Provinzen erreichen und die so gar nicht zu dem olympischen Geist des Friedens, der Freundschaft zwischen den Völkern und des edlen sportlichen Wettbewerbs passen.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das stimmt!)

Viele Tausende Menschen haben sich dafür eingesetzt und sich angestrengt, diesen Geist nach Peking zu tragen, viele Hoffnungen haben sich damit verbunden. Viele Millionen Menschen haben sich darauf gefreut, einfach bei diesen traditionsreichen Spielen im bevölkerungsreichsten Land der Erde zuschauen zu dürfen.

Bilder der Gewalt und der Zerstörung haben uns jäh aus dieser Vorfreude herausgerissen. Der Blick in die Tiefe, ja, in die Abgründe eines Konflikts war eine böse Überraschung und die Erfahrung beidseitiger Gewaltanwendung ein Schock. Das bezieht sich ebenso auf die blutigen Übergriffe tibetischer Protestler gegen wehrlose und unbewaffnete chinesische Mitbewohner wie auf die Reaktion der chinesischen Staatsgewalt, die nach Augenzeugenberichten erst zurückhaltend, dann aber brutal reagierte: mit massenhaften Festnahmen, mit Einschüchterungsversuchen, mit Umerziehungsmaßnahmen bei den Mönchen und mit einer völligen Abriegelung der betroffenen Gebiete.

Die Bundesregierung ist zutiefst davon überzeugt, dass diese beiderseitige Gewaltanwendung kein einziges Problem lösen kann.

(Beifall im ganzen Hause)

Sie nutzt der tibetischen Seite nicht und kann sogar sehr schnell die berechtigten Forderungen der Tibeter nach kultureller und religiöser Autonomie diskreditieren, eine Gefahr, auf die übrigens der Dalai Lama, der Gewaltanwendung strikt ablehnt, selber hingewiesen hat. Die Gewaltanwendung schadet aber auch der chinesischen Seite, die notwendigerweise mit ihren Zusagen konfrontiert wird, die sie im Zusammenhang mit der Vergabe der Olympischen Spiele gemacht hat, und der es nicht gelingen wird, allein mit Repression die tibetischen Probleme zu lösen, geschweige denn, dass sie auf dieser Basis die gewünschte positive Präsentation des Landes im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen erreichen wird.

Deshalb appellieren wir mit allem Nachdruck an beide Seiten, auf jegliche Gewaltanwendung zu verzichten, sich ernsthaft um eine Deeskalation der Situation vor Ort zu bemühen und damit dazu beizutragen, den Weg zu einer zivilisierten und nachhaltigen Lösung des sichtbar gewordenen politisch-kulturellen Konflikts zu ebnen.

(Beifall im ganzen Hause)

Es gibt einen zweiten Punkt, der uns Sorgen macht. In der chinesischen Öffentlichkeit wird jetzt die westliche Berichterstattung mit harten Worten kritisiert, ja angeprangert, als läge hier das Hauptproblem. Einzelne Berichterstattungen mit falsch zugeordnetem Berichtsmaterial werden als Belege für eine antichinesische Verschwörung dargeboten.

Ich möchte hier klarstellen: Die Bundesregierung hat großen Respekt vor den Entwicklungsleistungen, die in den letzten Jahren in China zu beobachten waren. Sie hat einen vielleicht noch größeren Respekt vor der immensen Herausforderung, ein Land mit 1,4 Milliarden Menschen zusammenzuhalten und zugleich den vielen Erwartungen und Notwendigkeiten zur Veränderung und Reform zu entsprechen.

Niemand von uns will China an den Pranger stellen. Niemand ist an einer einseitigen oder unfairen Berichterstattung interessiert. Der beste Weg, das zu vermeiden, sind Transparenz, Offenheit und die Chance auf eine Meinungsbildung auf der Basis selbst gesammelter Fakten. Man kann nicht in einer solchen Krisensituation die Region abriegeln, alle ausländischen Journalisten ausweisen und sich dann darüber beklagen, dass unzutreffend berichtet wird.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir sehen in den drei organisierten Reisen der letzten 14 Tage - zwei mit Journalisten, eine mit Diplomaten - ein Bemühen in die richtige Richtung. Aber erst wenn die gesamte tibetische autonome Region und die Nachbarprovinzen wieder frei zugänglich sind, entsteht überhaupt die Chance auf eine auf Eigenrecherchen beruhende, pluralistische und insofern ausgewogene Berichterstattung.

Unser dringlicher Rat an die chinesische Führung ist deshalb: Beenden Sie die Abriegelung! Machen Sie Tibet für alle Besucher und alle unabhängigen Journalisten wieder zugänglich!

(Beifall im ganzen Hause)

Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der politisch wichtigste. Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Augenblick für die Wiederaufnahme des sino-tibetischen Dialogs? Ich sage bewusst  Wiederaufnahme, da es solche Dialogphasen in der Vergangenheit durchaus gegeben hat, etwa in den 80er-Jahren zur Zeit des KP-Generalsekretärs Hu Yaobang oder in Ansätzen auch zwischen 2002 und 2007.

Mit wem, wenn nicht mit dem Dalai Lama selbst, macht es in der jetzigen Situation Sinn, das Gespräch zu führen? Das ist der Mann, der bei der Vertretung tibetischer Interessen noch immer die höchste Autorität genießt, der ausdrücklich eine echte kulturelle und religiöse Autonomie und eben nicht die Loslösung Tibets von China als seine Ziele nennt und der sich glaubwürdig und durchaus mit eigenem Risiko von jeder Gewaltanwendung, auch wenn sie von seinen eigenen Landsleuten kommt, distanziert.

Wir hören von der chinesischen Seite schwere Vorwürfe gegen das geistliche Oberhaupt der Tibeter: Der Dalai Lama trage die Verantwortung für die gewaltsamen Proteste, vertrete in Wirklichkeit separatistische Ziele, wofür es Beweise gebe. Solange diese schweren Vorwürfe aufrechterhalten werden, ohne dass man Beweise vorlegt, handelt es sich objektiv um Unterstellungen, allerdings solche, die in diesem Fall schwerwiegende Folgen haben, weil sie eine Lösung des Tibet- Konflikts auf der Basis eines Dialogs und eines verhandelten Interessenausgleichs blockieren.

Dieser Weg ist falsch. Die Bundesregierung ist überzeugt, dass es zu einer Deeskalation und zu einer politischen Lösung des Konfliktes über den Dialog keine vernünftige Alternative gibt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Aus unserer Sicht heißt deswegen das Gebot der Stunde - ich fasse das einmal stichwortartig zusammen -: Beendigung der Gewaltanwendung auf beiden Seiten, Verzicht auf einseitige Repressionsmaßnahmen, Aufklärung der tragischen Ereignisse, Aufhebung der Abriegelung, stattdessen Öffnung und Transparenz und vor allem Ebnung des Weges für einen neuen Abschnitt des sino-tibetischen Dialogs unter Einbeziehung des Dalai Lama. Dafür hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier in mehren Gesprächen mit seinem chinesischen Kollegen geworben. Dafür wird sich die Bundesregierung bilateral und international auch in Zukunft weiter intensiv einsetzen. Für diesen Ansatz und für diese Botschaft erbitten wir die Zustimmung des Hohen Hauses.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)