Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in Russland in Gefahr

 94. Sitzung des Deutschen Bundestages, 26. April 2007 

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse vom 14./15. April in Moskau und Sankt Petersburg haben wir alle mit großer Sorge beobachtet. Die Nachrichten und die Bilder von den gejagten Demonstranten haben die Frage aufgeworfen, ob die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Russland noch gewährleistet ist. Auf diese Frage zu antworten, ist nicht leicht. Man muss differenzieren.

Ich möchte zunächst einige Worte zur Situation der Menschenrechte in Russland sagen. Russland garantiert in der Tat in seiner Verfassung alle Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Präsident Putin und die russische Regierung bekennen sich immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten. Russland ist zahlreichen internationalen Menschenrechtskonventionen beigetreten. Als dies ist angesichts der sowjetischen und der russischen Geschichte nicht gering einzuschätzen. Dennoch kommt es immer wieder zu Verstößen gegen die von Russland selbst anerkannten Regeln. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Ein wichtiger Grund etwa ist das Fehlen rechtsstaatlicher und demokratischer Traditionen. Darauf wurde eben schon hingewiesen.

Die bestehenden Defizite und Probleme werden durchaus auch offiziell angesprochen, etwa von dem Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin, zuweilen auch von Präsident Putin selbst. Allerdings hat das bisher zu keiner durchgreifenden Änderung der Verhaltensweise der Exekutive geführt, was diese hochrangige Problematisierung erst überzeugend machen würde.

Rechtsschutz vor russischen Gerichten gegen Menschenrechtsverletzungen ist nur schwer zu erhalten. Daher nimmt die Zahl der Klagen russischer Bürgerinnen und Bürger vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu - häufig mit Erfolg. Mit besonderer Sorge beobachten wir seit einiger Zeit auch die Tendenz, die Pressefreiheit durch zunehmende staatliche Kontrolle einzuschränken. Das sukzessive Verschwinden kritischer Diskussionssendungen aus landesweit ausgestrahlten TV-Programmen illustriert den fortschreitenden Bedeutungsverlust der elektronischen Massenmedien für die politische Meinungsbildung.

Ähnlich stellt sich die Situation im Hörfunkbereich dar. Die landesweiten Sender Radio Rossija und Radio Majak sind staatlich. Ausnahme ist Echo Moskwy, das zwar Gasprom gehört, jedoch immer noch unabhängig berichtet. Die Reichweite des Senders ist allerdings auf Moskau, Sankt Petersburg und einige regionale Zentren begrenzt.

Mit Erwerb der Mehrheitsbeteiligung an der Tageszeitung „Iswestija" durch den staatlich kontrollierten Konzern Gasprom-Media und der Übernahme der Tageszeitung „Kommersant" durch Gasprom und Metallinvest weitet sich der bei den elektronischen Medien begonnene und weit fortgeschrittene Trend zu mehr Kontrolle auch auf den Printbereich aus. Gleichwohl werden Themen und Sachverhalte von nationaler Bedeutung von wichtigen Printmedien und dem Radiosender Echo Moskwy nach wie vor prominent aufgegriffen sowie offen und kontrovers diskutiert. Gerade nach den jüngsten Demonstrationen vom 14. und 15. April in Moskau und Sankt Petersburg war die Berichterstattung einiger Zeitungen durchaus kritisch. „Kommersant" beobachtete - ich zitiere - „Hackfleisch aus Nichteinverstandenen". „Moskowskij Komsomolez" titelte: Alle Macht - dem OMON. „Nowye Iswestija" sprach von belagerter Festung und präzedenzloser Härte. Allerdings gab es auch eine Berichterstattung, die die Ereignisse herunterzuspielen versuchte.

Die Pressefreiheit in Russland leidet jedoch nicht nur unter Ausweitung staatlichen Einflusses. Ein weiteres irritierendes Problem - auch das wurde bereits angesprochen - besteht in der Gefährdung kritischer Journalisten. Das hat die Ermordung der engagierten Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in dramatischer Weise belegt. Die Bundesregierung und die EU haben mehrfach die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass Täter und Drahtzieher dieses Verbrechens schnell ermittelt und bestraft werden. Die Ermittlungen laufen noch. „Nowaja Gazeta", die Zeitung, für die Anna Politkowskaja arbeitete, hat die Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft bei der Aufklärung bisher als gut bezeichnet. Ich stelle aber hier erneut fest: Die Frage der raschen und überzeugenden Aufklärung dieses feigen und abscheulichen Mordes wird ganz wesentlich über das internationale Prestige Russlands entscheiden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit anbelangt, so garantiert die russische Verfassung das Recht russischer Bürger, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, Kundgebungen und Demonstrationen, Umzüge und Mahnwachen durchzuführen. Die Art und Weise, wie die russischen Behörden am 14. und 15. April gegen friedliche Demonstranten vorgegangen sind, verletzt diese verfassungsgemäßen Rechte, auch wenn die Demonstrationen behördlich nicht genehmigt waren - übrigens mit fadenscheinigen Begründungen. Zur Unangemessenheit der Reaktionen gehören auch die Übergriffe auf russische und ausländische Journalisten einschließlich deutscher Medienvertreter. Während einige russische Regierungsstellen das Vorgehen verteidigten, hat zum Beispiel der Menschenrechtsbeauftragte Lukin eingeräumt, dass die Polizei in beträchtlichem Maße ihre Befugnisse überschritten habe. Die Gouverneurin von Sankt Petersburg, Matwijenko, hat angeordnet, dass alle Beschwerden zu Übergriffen der russischen Polizeieinheiten untersucht werden sollen. Gleiches forderte Sergeij Jastrschemskij, der Berater des russischen Präsidenten in EU-Fragen. Ella Pamfilowa, die Vorsitzende des „Rats zur Förderung von Instituten in der Zivilgesellschaft" hat darauf hingewiesen, das Vorgehen der Miliz habe das weltweite Ansehen Russlands beschädigt.

Die Bundesregierung hat, auch in ihrer Eigenschaft als EU-Ratsvorsitzende, auf diese Vorgänge rasch reagiert und am 16. April in einer international stark beachteten EUPräsidentschaftserklärung ihre Sorge öffentlich zum Ausdruck gebracht. Vizeregierungssprecher Thomas Steg sprach am selben Tag von exzessiver Gewaltanwendung, die Besorgnis errege, und von inakzeptablem Vorgehen gegen Journalisten. Die Bundesregierung erwartet von der russischen Seite weiter eine lückenlose Aufklärung dieser Vorgänge.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Die Deutsche Botschaft in Moskau hat nach den Vorfällen in Moskau und Sankt Petersburg umgehend auf hoher Ebene demarchiert und ebenfalls eine umgehende und lückenlose Aufklärung gefordert. Die Lage der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wird auch am 3. Mai bei den Menschenrechtskonsultationen zwischen der EU und Russland gegenüber der russischen Seite mit Nachdruck angesprochen werden. so vorgetragen werden, dass sie von den mutigen Vertretern der russischen Zivilgesellschaft, deren Proteste gegen die jüngsten Vorfälle ich gerade zitiert habe, als Unterstützung wahrgenommen werden. Es gibt in Russland alles: Es gibt die Kräfte der Vergangenheit, gewohnt an autoritäre Strukturen. Es gibt ein neues, schnell reich gewordenes Establishment, das Demokratie und Meinungsfreiheit als potenzielle Besitzstandsgefährdung wahrnimmt. Ein Teil der politischen Klasse in Russland fordert Russlands neue Weltgeltung lautstark ein, hat zugleich aber Angst vor einer Zukunft ohne den vertrauten Präsidenten Putin. Es gibt in Russland aber auch viele Menschen, die entschlossen auf eine Demokratisierung und Modernisierung der russischen Gesellschaft setzen und die Partnerschaft mit der EU und speziell mit Deutschland dabei als unverzichtbar ansehen. Außerdem gibt es Vertreter der engagierten Zivilgesellschaft, Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und von Oppositionsgruppierungen, die sich nicht einschüchtern lassen und unseren vollen Respekt verdienen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Klare Signale an die russische Politik sind notwendig; da stimme ich dem zuvor Gesagten zu. Diese Debatte im Deutschen Bundestag gehört übrigens dazu. Wir alle müssen uns dabei aber auch darum bemühen, die Wege in eine gemeinsame gute Zukunft Russlands in seiner Partnerschaft mit Europa offenzuhalten. Die Bundesregierung bringt ihre Sorgen über die genannten Vorfälle - wir sprechen hier darüber - klar zum Ausdruck; zugleich erklärt sie aber auch ihre Bereitschaft, in partnerschaftlicher Kooperation mit Russland an dieser gemeinsamen Zukunft weiterzuarbeiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)