Entscheidung über den Einsatz von deutschen Tornado-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan

Persönliche Erklärung:

Bei der Entscheidung am 9. März im Deutschen Bundestag habe ich mit Ja dafür gestimmt, sechs deutsche Aufklärungs-Tornados für die ISAF-Mission in Afghanistan zur Verfügung zustellen. Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen und ich habe sie ganz persönlich und nach gründlicher Abwägung getroffen. Nachfolgend finden Sie meine persönlichen Überlegungen.

Ausgangslage

Die Terroranschläge des 11. September 2001 in New York und Washington, bei denen fast 3000 Menschen ihr Leben verloren haben, wurden nachweislich in Al-Qaida-Standorten in Afghanistan geplant und vorbereitet. Die Vereinten Nationen haben bereits am 12. September 2001 diese Anschläge einem „Angriffskrieg" gleichgesetzt und entsprechende Gegenmaßnahmen legitimiert. Als die Taliban-Regierung sich weigerte, die Tätigkeit Bin Ladens in Afghanistan zu unterbinden, hat eine von den Vereinigten Staaten geführte Koalition deren Herrschaft durch militärische Intervention beendet.

Deutschland hat dabei von vornherein mitgewirkt. Der Schwerpunkt lag dabei nicht auf unseren militärischen Beiträgen (die es aber gab), sondern auf der Vermittlung eines politischen Neuanfangs mit dem sogenannten „Petersberg-Prozess".

Nationbuilding

Dieser Neuanfang war schwer in einem Land, das durch 22 Jahre Bürgerkrieg vollständig zerrüttet war. Aber in den letzten fünf Jahren hat es Fortschritte gegeben: Afghanistan hat heute eine Verfassung, ein gewähltes Parlament, eine gewählte Regierung und einen gewählten Präsidenten. Eine eigene Armee ist im Aufbau, ebenso eine ausgebildete Polizei (hier hat sich Deutschland stark engagiert). Am Anfang gab es außer Kabul nur Sicherheitsinseln rund um die sogenannten PRTs (Provincial Reconstruction Teams), die von den bewaffneten Kräften der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der ISAF-Mission eingerichtet wurden. Inzwischen kann von einer flächendeckenden Kontrolle durch die gewählte Regierung im Westen und Norden des Landes gesprochen werden.

Erst 2006 wurde gemeinsam mit der Regierung in Kabul beschlossen, die flächendeckende Sicherheit der ISAF-Mission auch in den Süden und Osten des Landes auszudehnen. In diese Bergregion, mit der langen und durchlässigen Grenze zu Pakistan, über die immer neue „Gotteskrieger" frisch ausgebildet aus den Koranschulen der Islamisten nach Afghanistan kommen, hatten sich die Reste der Taliban, einige ihnen nahestehende Warlords und die andernorts bedrängten Drogenbarone zurückgezogen. Praktisch gab es bis zum Sommer 2006 eine Doppelherrschaft, die eine Normalisierung und Stabilisierung des ganzen Landes verhinderte.

Seit der zweiten Jahreshälfte 2006, mit der Ausweitung von ISAF in den Süden und Osten des Landes, wird nun um die Kontrolle in diesen Regionen gekämpft: Auf der einen Seite von der afghanischen Armee und Polizei, unterstützt durch 34.000 ISAF-Soldaten und weiteren 10.000 fast ausschließlich amerikanischen Kräften im Rahmen der Operation-Enduring-Freedom-Mission (OEF) - auf der anderen Seite von den Taliban-Verbänden, unterstützt von Warlords und Drogenbossen. Ein Dreh- und Angelpunkt ist der Schlafmohnanbau, der zur Opium-Produktion führt (inzwischen findet 94% der Weltproduktion in Afghanistan statt!): Die Taliban-Leute drängen oder zwingen die verarmten Bauern zum Mohnanbau, organisieren das Opiumgeschäft und bezahlen mit den enormen Gewinnen die bewaffneten Milizen, die sie wiederum aus der männlichen Jugend der Region entweder mit Gewaltanwendung oder per Anreiz rekrutieren - einer Jugend, die bisher kaum alternative Berufs- und Zukunftsperspektiven erkennen kann.

Das „Nationbuilding" ist also noch längst nicht abgeschlossen. Da, wo die internationale Gemeinschaft für Fortschritte bei der Infrastruktur sorgt und einen sicheren Rahmen schafft und wo die afghanische Regierung normal funktioniert, haben die Taliban kaum Chancen. Das ist im Süden und Osten aber bisher nur teilweise der Fall. Wo die Menschen schlechte Erfahrungen mit korrupten Beamten machen, wo nichts voran geht und auch keine Sicherheit besteht, finden die Taliban Unterstützung. Diese Erfahrung zeigt, wo man politisch ansetzen muss.

Die Diskussion um die richtige Strategie

Illusionen macht sich inzwischen keiner mehr darüber, was noch geleistet werden muss. Die Meinungen über die Lage in den umkämpften Gebieten gehen bei den Fachleuten auseinander. Aber eines steht fest: Die Herausforderung durch die Taliban und ihre Komplizen kann nicht allein mit militärischen Mitteln gelöst werden, aber auch nicht ohne bewaffnete Kräfte! Die Frage ist, welches Vorgehen am wirksamsten ist.

Deutschland hat die Verantwortung in der Nordregion mit der Hauptstadt Mazar-i-Sharif übernommen und dort gute Erfahrungen gemacht mit einer Strategie, bei der die Bundeswehrsoldaten (Deutschland stellte bisher bis zu 3000 Kräfte für die ISAF-Mission) für ein sicheres Umfeld sorgen, in dem dann die Vertreter der afghanischen Regierung zusammen mit den internationalen Hilfsorganisationen sichtbare Fortschritte bei der Versorgung und der Infrastruktur erzielen können. So konnte Vertrauen aufgebaut werden, eine bestimmte, vergleichsweise aber begrenzte Anzahl von Anschlägen lässt sich trotzdem nicht vermeiden und bedroht die weitere Stabilisierung und den Staatsaufbau auch im Norden und Westen des Landes, solange nicht das ganze Land befriedet ist.

Unsere Erfahrungen im Norden lassen sich nicht 1:1 in die umkämpften Gebiete im Süden und Osten übertragen. Dort gibt es eine andere ethnische Zusammensetzung sowie die Infiltration aus Pakistan. Aber innerhalb der NATO, die in der Verantwortung für die ISAF-Mission steht, hat seit dem Gipfel in Riga im November 2006 eine intensive Diskussion über das weitere Vorgehen begonnen. Wegen unseres überall respektierten Einsatzes in Afghanistan können wir unsere Erfahrungen und Prinzipien mit Erfolg in diese Diskussion einbringen. Nur wenn die Regierung Karsai besser wird, wenn die Zivilbevölkerung Fortschritte bei der Versorgung und bei der Infrastruktur spürt und Zukunftsperspektiven erkennen kann und wenn es gelingt, möglichst viele politische Kräfte, auch solche, die den Taliban nahe stehen oder sich zu ihnen bekennen, in einen nationalen Versöhnungsprozess einzubinden (Kurt Beck hat gerade sehr offensiv diesen Aspekt öffentlich angesprochen) - nur dann wird sich die Kabuler Regierungsgewalt faktisch ausdehnen und die Rückkehr der Taliban in ganz Afghanistan verhindern können.

Und eins ist klar: Die Rückkehr der Taliban wäre nicht nur eine Katastrophe für uns alle, wenn dann das Terrornetzwerk Al Quaida im Triumph an seine alten Wirkungsstätten zurückkehren könnte, um weitere Anschläge vorzubereiten. Es wäre auch eine nicht hinnehmbare Tragödie für Afghanistan.

Auf keinen Fall wäre es irgendeine Form von Frieden. Denn die Vereinigten Staaten und die Weltgemeinschaft könnten und würden kaum tatenlos zusehen, wenn die Mörder des 11. September ihre Strukturen in Afghanistan in aller Ruhe wieder aufbauen würden. Die Alternative zu den jetzigen Versuchen der Weltgemeinschaft, der gewählten afghanischen Regierung Geltung in ganz Afghanistan zu verschaffen, ist in Wirklichkeit ein Dauerbombenkrieg gegen alle verdächtigen Einrichtungen und Aktivitäten in Afghanistan mit einem sicheren Verlierer: der afghanischen Zivilbevölkerung. Schon aus diesem Grund kann ich Parolen wie „Raus aus Afghanistan!", die vorgeben, Friedensforderungen zu sein, höchstens in emotionaler Weise nachvollziehen. Von der Sache her würde ihre Umsetzung große Teile Afghanistans in ein zeitlich unbegrenztes, blutiges Schlachtfeld verwandeln.


Die Tornado-Entsendung

Im Dezember 2006 wurde Deutschland von der NATO-Führung gebeten, ab April 2007 eine Aufklärungsfunktion im Rahmen der ISAF-Mission zu übernehmen, die bisher durch Großbritannien gestellt wurde. Es ist (auch für Deutschland) normal, solche Beiträge zeitlich zu begrenzen, so dass eine Art Rotation bei den verschiedenen Aufgaben entsteht. Das Bundeskabinett hat am 7. Februar 2007 beschlossen, dieser Bitte nachzukommen und 6 so genannte RECCE-Tornados sowie 500 Mann zu ihrer Bedienung und Wartung bis zum 13. Oktober 2007, also für ein halbes Jahr, zur Verfügung zu stellen. Der Bundestag hat dieser Zusage am 9. März .2007 mit großer Mehrheit zugestimmt. Inzwischen stehen die 6 Aufklärungsflugzeuge einsatzbereit in Mazar-i-Sharif, also in der von Deutschland geschützten Nordregion.

Folgende Punkte sind bei der Bewertung dieses deutschen Beitrags zur ISAF-Mission wichtig:

1. Der Auftrag der RECCE-Tornados heißt Luftaufklärung des gesamten Gebietes von Afghanistan. Mit den Bild-Daten, die von den Tornados gesammelt und hinterher am Boden ausgewertet werden, können Gefährdungen afghanischer Siedlungen, der internationalen Hilfsorganisationen und der eingesetzten afghanischen sowie internationalen Soldaten und Polizisten (einschließlich der deutschen), etwa durch Milizenbewegungen der Taliban oder ihrer Unterstützer, rechtzeitig erkannt und Schutzmaßnahmen getroffen werden.

2. Die RECCE-Tornados haben weder die Bewaffnung noch den Auftrag, aus der Luft in Bodenkämpfe einzugreifen. Außer ihren Kameras verfügen sie lediglich noch über eine Bordkanone zum Schutz gegen eventuelle Angriffe anderer Flugzeuge.

3. Die RECCE-Tornados haben weder die Fähigkeit noch den Auftrag, ein Feuerleitsystem für Luftangriffe auf feindliche Bodentruppen durch andere NATO-Flugzeuge zu liefern. Die Arbeitsweise der Tornados mit den am Boden auszuwertenden Aufklärungsdaten ist dafür völlig ungeeignet. Die von den USA eingesetzten Kampfflugzeuge im Rahmen der OEF-Mission verfügen über ihre eigenen Feuerleitsysteme.

Der deutsche Aufklärungsbeitrag markiert weder einen Strategiewechsel, noch öffnet er - wie manche befürchten - das Tor weit für weitere militärische Beiträge Deutschlands im Afghanistan-Einsatz. Ich sehe es sogar umgekehrt: Jede Verstärkung des balancierten zivil-militärischen Ansatzes, wie wir ihn befürworten, braucht verlässliche Lagebilder und damit eine leistungsfähige Luftaufklärung zum Schutz der Zivilbevölkerung, der Helfer und der bewaffneten Kräfte. Und ein Land, das wie Deutschland jetzt insgesamt 3.500 Soldaten stellt und die wichtige Aufklärungsaufgabe übernimmt, wird sicher nicht als erstes gefragt werden, wenn eine weitere Verstärkung der ISAF-Mission erforderlich wird, was niemand ausschließen kann. Deshalb respektiere ich die Gründe und Argumente, die bei 69 meiner sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen zu einer Ablehnung des Beschlusses der Bundesregierung geführt haben, aber ich teile sie nicht. Für mich darf aus sicherheits- und friedenspolitischen Gründen das Nationbuilding im nach-talibanischen Afghanistan und der internationale Einsatz zu seiner Unterstützung nicht scheitern! Und weil die oben genannten Bedingungen (größtenteils schon aus technischen Gründen) gelten, halte ich die Bereitstellung der Aufklärungs-Tornados für richtig, und sie ist mit meinem Gewissen vereinbar.

Geradezu empört bin ich über die Argumentation von Oskar Lafontaine und der Linkspartei, die ihr Nein damit begründet haben, dass eine weitere deutsche Beteiligung am Antiterrorkampf in Afghanistan die Sicherheit der Menschen hier bei uns gefährdet, weil sich als Antwort verstärkt Terroranschläge auch gegen Deutsche richten könnten. Abgesehen davon, dass längst auch Deutsche zu Terroropfern wurden (u. a. in New York, in Djerba und auf Bali), liefert uns dieses Prinzip von „Feigheit statt Solidarität" jeder Erpressung aus. Die Aufforderung, die Herkulesaufgabe der Stabilisierung Afghanistans andere machen zu lassen, um sich selber in der Hoffnung auf Verschonung wegzuducken, ist erbärmlicher, aber nach meiner Beobachtung auch chancenloser Billig-Populismus.

Gernot Erler, MdB
Staatsminister im Auswärtigen Amt