Russland - Ein spürbares Gefühl von Verunsicherung

Interview mit Gernot Erler im Deutschlandradio Kultur vom 28.11.2007     

Moderation: Marie Sagenschneider.

Das gewalttätige Vorgehen der russischen Regierung gegen staatskritische Demonstranten bewertet Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, als ein Ausdruck der Verunsicherung über die künftige Rolle von Präsident Wladimir Putin. Dabei habe dieser eine "massive Zustimmung" im Land, sagte der SPD-Politiker.

Marie Sagenschneider: Die Duma-Wahlen am Sonntag in Russland werden schon etwas ganz Besonderes sein, schließlich geht es für Präsident Putin in erster Linie darum, seine Macht zu sichern, denn eine dritte Amtszeit als Präsident sieht die Verfassung nicht vor und seine zweite Amtszeit läuft im kommenden März aus. Dass seine Partei Einiges Russland - die eigens gegründet worden war, um Putin zu unterstützen -, dass die bei den Duma-Wahlen eine Zweidrittelmehrheit erlangen wird, gilt als so gut wie sicher, dafür sorgt allein schon das neue Wahlrecht mit einer 7-Prozent-Hürde, die wohl keine der Oppositionsparteien nehmen wird. Warum aber geht Putin dann so rüde gegen die Opposition vor, so rüde, dass er sich deutliche Kritik aus der EU und den USA eingehandelt hat? Gernot Erler ist Staatsminister im Auswärtigen Amt, er war letzte Woche gerade erst in Moskau und ist nun am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Guten Morgen, Herr Erler!

Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Sagenschneider!

Sagenschneider: Wie erklären Sie sich das Verhalten Putins? Diese gewalttätigen Aktionen gegen die Opposition, auch das Beschwören von Feindbildern - ist das Nervosität?

Erler: In der Tat gibt es so ein spürbares Gefühl von Verunsicherung im ganzen Land, und das ist ja erstaunlich genug, wenn man sich überlegt, dass das eigentlich eine sehr stabile Entwicklung durchmacht mit geradezu bewundernswerten Wachstumsraten jedes Jahr. Die Regierung und der Präsident, die haben wirklich etwas zu verteilen, es gibt Wohlstandszuwächse, es gibt enorm positive Staatseinnahmen durch die hohen Energiepreise, also, was macht eigentlich dieses ganze System so unsicher? Aber das ist spürbar und das hängt mit der Unklarheit über die künftige Rolle des Präsidenten, der sehr populär ist, zusammen.
Sagenschneider: Es geht also für Putin um die Frage, wie er an der Macht bleiben kann. Er hat ja diese Wahl zu einem Referendum über sich stilisiert.

Erler: Ja. Er hat tatsächlich auch einen Strategiewechsel vorgenommen. Zunächst mal ist ja eine zweite Kreml nahe Partei gebildet worden, Gerechtes Russland, das ganz bewusst eher im linken Bereich Zustimmung finden sollte und damit den Kommunisten das Leben schwer machen wollte, also, man wollte zwei Kreml nahe Parteien, dann eine Teilung organisieren des Elektrates, der Wählerschaft. Das ist jetzt vorbei, offenbar war das nicht eine tragbare Strategie, vor allen Dingen, weil man auch gemerkt hat, dass es sein könnte, dass zu wenig Wähler überhaupt zur Wahl gehen. Und jetzt soll die Mobilisierung bringen, dass Putin sich als Spitzenkandidat von der Partei Jedinaja Rossija, also der großen Pro-Kreml-Partei, aufstellen hat lassen und das Ganze eben als Referendum über sich, über seine Person, bezeichnet, was dazu führen wird, dass Sprawedlivaja Rossija, also diese zweite Kremlpartei, gar keine Chancen mehr hat. Die sind in den Umfragen deutlich unter die 7-Prozent-Grenze - und die gilt für die Duma-Wahlen - druntergerutscht.

Sagenschneider: Bleiben wir noch mal bei der Frage: Wie will Putin an der Macht bleiben? Er ist ja immer für eine Überraschung gut. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wie er das bewerkstelligen will?

Erler: Es sieht beinahe so aus, dass wir auch vor dem 2. Dezember, also vor den bevorstehenden Wahlen, gar nicht genau erfahren werden, wie er sich seine eigene Zukunft weiter vorstellt. Er will alles zuspitzen auf eine Abstimmung über seine Person, um erst mal auch in der Duma über eine entsprechende Gestaltungsmehrheit bis hin zu einer Kontrolle über Verfassungsänderungen zu erreichen, das ist ganz offensichtlich. Und die Prognosen sehen so aus, dass ihm das gut gelingen könnte, entweder in einem Zwei- oder Dreiparteienparlament, dann eben mit seiner Partei, dem Einheitlichen Russland, mit Sicherheit dann mit der KP, mit der Kommunistischen Partei, womöglich mit der LDPR, das ist die Partei der Liberaldemokraten unter dem sattsam bekannten Herrn Schirinowski, und mehr wahrscheinlich nicht. Und dann ist die Chance, dass er die Zweidrittelmehrheit hat, sehr groß, und dann wird die Öffentlichkeit wahrscheinlich erst erfahren, wie er sich seine persönliche Zukunft vorstellt.

Sagenschneider: Diese Entwicklung, die Russland genommen hat unter Putin in den letzten Jahren - würden Sie da noch sagen, Herr Erler, Russland ist eine Demokratie?

Erler: Es ist auf jeden Fall ein Land in der Transformation, wobei wir sehr starke autoritäre Züge in der letzten Zeit sehen, aber es ist auch ein Land massiver Zustimmung für die Führung, es ist kein Zweifel, dass es eine echte Zustimmung der Bevölkerung zu Putin gibt. Die Umfragewerte liegen bei bis zu 80 Prozent, und mit ihm werden eben die Fortschritte, die das Land gemacht hat, verbunden, und man wundert sich vor allen Dingen eben immer über diesen Widerspruch zwischen dieser Machtkonzentration in der Hand eines Einzigen auf der einen Seite und dann diese Unsicherheit - die offensichtlich dazu führt, dass es auch keinen Königsweg, keinen Masterplan sozusagen, für die Zukunft gibt - auf der anderen Seite. Und wahrscheinlich vieles von dem, was wir auch kritisch begleiten müssen jetzt in diesen Tagen - zum Beispiel diese Unverhältnismäßigkeit von auch gewaltsamer Administration im Umgang mit Demonstranten, die nur ein wirklich verschwindendes Häuflein darstellen -, das alles hängt ganz offensichtlich mit dieser Unsicherheit zusammen. Und es kann gut sein, dass das auch schnell wieder Vergangenheit ist, wenn erst mal diese Phase dieser Wahlen vorbei ist.

Sagenschneider: Angesichts dieser Entwicklung hin zum Autoritären - würden Sie Wladimir Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnen oder nicht?

Erler: Ich halte insgesamt gar nichts von solchen Schubladen, die man da macht. Ich finde, man kommt der Realität näher, wenn man die Probleme und die Antworten beschreibt, die da in Russland gesucht werden.

Sagenschneider: Wie deutlich, Herr Erler, kann sich die EU zum Beispiel gegenüber Putin äußern, denn der Tonfall Putins gegenüber dem Ausland wird ja immer gereizter? Der Umgang ist jetzt schon schwierig und die EU steckt eben in diesem grundsätzlichen Dilemma: Sie ist abhängig von Energielieferungen aus Russland. Also, wie deutlich kann sie da Moskau oder Putin überhaupt kritisieren?

Erler: Also, ich finde, dass eigentlich die EU hier durchaus einen Weg findet. Es gibt ein sehr breites Bewusstsein davon, dass man ja aus verschiedenen Gründen nicht nur wegen der Energieverhältnisse, die ja eine doppelseitige Abhängigkeit bedeuten. Zwar ist die EU zwischen 30 und 40 Prozent von den Öl- und Gaslieferungen Russlands abhängig, aber Russland liefert 70 Prozent aller Energieprodukte in die EU. Das ist ja auch eine Form von Abhängigkeit. Auf dieser Basis gibt es ja nun auch die Notwendigkeit, mit Russland bei großen, internationalen Problemen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel bei mehreren regionalen Konflikten, ob das aktuell im Nahen Osten ist, ob das - das für uns ganz schwierige - Kosovo-Problem im Augenblick ist, ob das die Frage Iran ist. Hier geht es gar nicht ohne eine Zusammenarbeit mit Russland! Und schließlich gibt es ja auch noch die globalen Fragen wie Klimapolitik, wo zum Beispiel mit Russland, das das Kyotoprotokoll unterzeichnet hat, auch ein sehr guter Partner zur Verfügung steht. Also, ich finde, die EU berücksichtigt das ohne nun zu schweigen über die Dinge, die man da auch kritisch aufgreifen muss, die ich schon genannt habe.

Sagenschneider: Wir haben nicht mehr viel Zeit, Herr Erler, aber lassen Sie uns doch noch ganz kurz über die Nahost-Konferenz in Annapolis sprechen, wo sich ja Israelis und Palästinenser doch überraschend darauf verständigt haben, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Wie zuversichtlich sind Sie denn, dass sich daraus etwas entwickeln wird?

Erler: Also, es ist schon etwas mehr als erwartet da rausgekommen in Annapolis, weil man da ja zum Teil auch gesagt hat, das sei nur ein Fototermin, aber es ist, glaube ich, zweierlei festzuhalten. Das Eine, dass wir hier eine Beteiligung auch von bisher in den Prozess nicht eingebundenen arabischen Staaten hatten, vor allen Dingen mit Saudi-Arabien und Syrien, das ist auch ganz in dem, was Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister, immer angestrebt hat bei diesem revitalisierten Nahost-Friedensprozess - wir haben ja auch vor allen Dingen sehr dafür gekämpft, dass das Nahost-Quartett wieder arbeitet -, und dann eben die konkrete Vereinbarung, doch in formelle Verhandlungen zu treten. Das ist doch mehr, als viele weltweit erwartet haben, und das begrüßen wir natürlich sehr.

Sagenschneider: Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen!