Stoppschild für Raketen

Interview in der Berliner Zeitung, 27. März 2007 • Als Staatsminister im Auswärtigen Amt muss Gernot Erler eigentlich die Formelsprache der Diplomaten benutzen. Anders ist das, wenn man mit dem Sozialdemokraten über die Aufrüstung der Atommächte und die richtige Strategie gegenüber Iran spricht,

Berliner Zeitung: Herr Erler, SPD-Chef Kurt Beck sagt, wir brauchen nicht mehr Raketen in Europa. Was halten Sie davon?

Erler: Das ist ein Stoppschild, das die SPD aufgestellt hat. Die SPD hat sich immer für Abrüstung engagiert. Wir warnen deshalb auch heute wieder vor den Gefahren, die von dem Raketenschild für den Vertrag über nukleare Nichtweiterverbreitung ausgehen. Ich zähle dazu nicht nur das Abwehrsystem, sondern auch die auffällig hintereinander geschalteten Beschlüsse der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs zu massiven Investitionen in Atomwaffen. Das kann von den Nicht-Atomstaaten als Provokation aufgefasst werden.

Berliner Zeitung: Ist das Abwehrsystem nötig? Die Iraner haben noch keine Waffen, mit denen sie Europa erreichen können.

Erler:Das ist eine Frage, die mit der nationalen Bedrohungsrezeption in Amerika verbunden ist. Dort hat man erklärt, es gehe um potenzielle nordkoreanische und iranische Bedrohungen. Interessant ist: Wenn die Atom-Gespräche mit Nordkorea erfolgreich sein sollten, dann kommen 50 Prozent der Bedrohungsperzeption abhanden.

Berliner Zeitung: Bleiben immer noch 50 Prozent.

Erler: Es ist aber problematisch, wenn man mitten in den Verhandlungen mit dem Iran über sein Atomprogramm ein pessimistisches Signal aussendet: Wir verhandeln zwar, rüsten uns aber zeitgleich gegen eine Bedrohung, die Mitte des kommenden Jahrzehnts auf uns zukommen könnte. Da fehlen mir auf Seiten der USA ein bisschen das Selbstvertrauen und die Entschlossenheit, diese Verhandlungen mit dem Iran tatsächlich zu einem guten Abschluss zu bringen.

Berliner Zeitung: Die USA behaupten, sie wollten auch Europa mit dem Schild schützen. Sollen wir das nicht wollen?

Erler: Der US-Ansatz richtet sich gegen das Denken in gemeinsamer Sicherheit. Die logische Fragestellung lautet immer noch: Warum haben fünf Mächte auf der Welt das Recht, Atomwaffen nicht nur zu besitzen, sondern sie sogar zu modernisieren, obwohl sie sich bereits 1970 einer fortdauernden atomaren Abrüstung verpflichtet haben. Und warum erheben sie den Anspruch, für ihre Sicherheit einen Raketenschild zu haben, während den anderen Staaten gesagt wird: Ihr dürft zu eurem Schutz keine Atomwaffen haben! Ihr braucht die auch nicht! Und ihr braucht auch kein Raketenschild. So eine Haltung ist das Gegenteil von gemeinsamer Sicherheit. Zur Sicherung des Weltfriedens und zur Stabilität trägt das nicht bei.

Berliner Zeitung: Das sieht nicht jeder in der großen Koalition so. Aus der Union werden Sie der Verteufelung des Abwehrschildes bezichtigt.

Erler: Der SPD ist einfach vorschnell unterstellt worden, sie wolle innenpolitisch punkten. Das ist aber falsch. Wir werden schon noch zu gemeinsamen Positionen mit dem Koalitionspartner kommen.

Berliner Zeitung: Schwächt die US-Politik die Verhandlungsposition gegenüber Iran?

Erler: Das ist meine größte Sorge. Irans Präsident Ahmadinedschad hat in der letzten Zeit nicht ohne Wirkung versucht, zu einem Sprecher der frustrierten Nicht-Atomstaaten zu werden. Wir haben 2005 ein völliges Desaster bei der Überprüfungskonferenz des Atomwaffen-Sperrvertrages erlebt. Da ist nichts herausgekommen - keine Kompromissbereitschaft der Atomstaaten, völlige Frustration der Nicht-Atomstaaten. Das setzt sich jetzt fort. Amerika entwickelt neue "Verlässliche Ersatz-Sprengköpfe". Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Sind die bis jetzt nicht verlässlich gewesen? Großbritannien will vier neue Atom-U-Boote bauen. Frankreich will 18 Prozent der Verteidigungsausgaben für die Modernisierung seines Atomarsenals ausgeben. Wie will man dann noch sagen: Wir brauchen das für unsere Sicherheit, alle anderen brauchen das nicht. Das ist doch sehr problematisch.

Berliner Zeitung: Wo war der Protest, als Pakistan und Indien Atommächte wurden?

Erler: Auf die Dauer wird das Prinzip, wonach Atomwaffen kein Problem sind, wenn sie in verlässlichen Händen sind, nicht zu halten sein. Gelegentlich ändern sich die Verhältnisse. Wer will garantieren, dass etwa die pakistanischen Atomwaffen für alle Zeit in der Hand pro -westlicher Regierungschefs sind? Dieses Denken, für das George W. Bush steht, spiegelt das Gegenteil von der gemeinsamen Sicherheit wider. Das ist ein dichotomisches Weltbild: Es gibt Gute und es gibt Böse. Die Guten dürfen alles, die Bösen dürfen nichts. So kann aber Weltpolitik nicht funktionieren.

Berliner Zeitung: Wäre es nicht an der Zeit für eine Initiative der Bundesregierung, um diese militärische Logik zu durchbrechen?

Erler: Ich sehe ein dynamisches Aufrüstungsszenario, das als Modernisierung daher kommt. Aber auch Modernisierung ist Aufrüstung, weil Investitionen in das Atomarsenal erfolgen. Das ist politisch nicht vereinbar mit den Verpflichtungen aus dem Atomwaffen-Sperrvertrag. Eine Initiative kann aber erst am Ende einer intensiven Diskussion stehen. Darauf müssen wir uns zunächst konzentrieren. Es hat zwar bislang technische Berichte in den verschiedenen Gremien gegeben, aber noch keine intensive politische Debatte über die Folgen dieser Aufrüstung.

Das Gespräch führten Damir Fras und Holger Schmale.

Gernot Erler Ist Staatsminister im Auswärtigen Amt seit Herbst 2005. Zuvor war der 62-jährige SPD-Politiker Vize-Fraktionschef im Bundestag.