Presseerklärung vom 5. Juni 2003

Irak-Krieg: Beweisnot stärkt die Vereinten Nationen

Zur Diskussion über die ausbleibenden Belege für irakische Massenvernichtungswaffen (MVW) und die Legitimation des Irak-Krieges erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Vor dem Krieg waren sich George Bush und Tony Blair hundertprozentig sicher, dass Saddam Hussein über gefährlichste, einsatzfähige Massenvernichtungswaffen verfügt, die Amerika und England, angeblich sogar innerhalb von 45 Minuten, in tödliche Bedrohung versetzen können. Es war dieses Bedrohungsszenario, das die Parlamente in Washington und London dazu brachte, den Regierungschefs die Vollmacht zum Führen eines Krieges zu geben, und das andere Länder zur Kriegsbeteiligung im Rahmen der "Coalition of the Willing" motivierte.

50 Tage nach Kriegsende fehlt jedoch jede Spur eines Belegs für diese Massenvernichtungswaffen oder für Programme zu ihrer Herstellung. Dieser Umstand führt zu drei wichtigen Konsequenzen:

1) Die beiden betroffenen Parlamente stellen mehr als berechtigte Fragen zu den Beweismitteln, die Bush und Blair zu ihrer Gewißheit über die irakischen Bedrohung geführt haben, und bilden entsprechende Untersuchungsausschüsse. Damit stellen diese beiden traditionsreichen parlamentarischen Systeme ihre Vitalität und ihre Fähigkeit unter Beweis, ohne jedes Zutun von außen die problematischen Umstände der Kriegsentscheidungen aus eigener Kraft aufzuklären.

2) Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind auch für die Partner von Amerika und Großbritannien von großer Bedeutung. Es besteht hier schon deshalb eine Aufklärungsverpflichtung im Sinne einer Bringschuld, da sich die internationale Politik beider Länder, gerade auch in der Nahost-Region, weiterhin auf Faktenannahmen stützt, die aus geheimdienstlichen Ermittlungen stammen. Jüngste Vorhaltungen aus Washington gegenüber Syrien und Iran belegen dies. Solange die Frage der Belastbarkeit der Entscheidungsgrundlagen für den Irak-Krieg ungeklärt bleibt, besteht bei allen weiteren amerikanischen und britischen Faktenannahmen, die sich auf entsprechende Quellen stützen, eine belastende Glaubwürdigkeitslücke.

Zu den Dingen, die einer Aufklärung bedürfen, gehört auch die amerikanische Prioritätensetzung bei der militärischen Invasion des Irak. Das erklärte Ziel des amerikanischen Präsidenten war es zu verhindern, dass irakische ABC-Waffen-Bestände oder Komponenten davon in die Hände von Aktivisten oder Anhängern terroristischer Netzwerke gelangen. Dass es den amerikanischen Besatzungstruppen zwar gelang, alle Ölanlagen rechtzeitig zu besetzen und damit auch verheerende Umweltschäden durch potentielle Akte der Selbstzerstörung zu verhindern, nicht aber die irakische Atomanlage El Tuwaitha vor Plünderung zu schützen, muss irritieren. Erst jetzt werden Inspektoren der IAEO feststellen können, ob im Verlauf dieser Vorgänge radioaktive Materialien in unbefugte Hände gelangt sind, was aus der Sicht der amerikanischen Kriegsziele gesehen einen "Worst Case" darstellen würde.

3) Es gibt auch einen weiteren, bisher nicht angesprochenen Aspekt der nichtaufgefundenen irakischen MVW-Potentiale. Das gerade in der Entscheidungsphase des Irak-Kriegs vielfach kritisierte und sogar als unwirksam geschmähte Sanktions- und Inspektionsregime der Vereinten Nationen muss neu bewertet werden. Wenn sich herausstellt, dass die Sanktionen in Verbindung mit der Arbeit von UNSCOM und UNMOVIC das Regime Saddams an einer Fortführung seiner MVW-Programme gehindert hat, ist die Behauptung widerlegt, dass gegen Regime wie das irakische nur militärische Interventionen im Sinne eines "Entwaffnungskrieges" Wirkung zeigen. Die von UN-Generalsekretär Kofi Annan und seinen Inspektoren gegen die Kriegsparteien verteidigte Perspektive einer garantierten Entwaffnung und Kontrolle des Irak mit nichtmilitärischen Mitteln erlangt damit neue Zukunftskraft. Aus der Beweisnot bei der Kriegslegitimation geht damit eine wichtige zivile Handlungsalternative für den internationalen Umgang mit regelverletzenden Staaten gestärkt hervor. Und dies ist auch eine Stärkung und ein Bedeutungszuwachs der Vereinten Nationen.