Presseerklärung vom 30. September 2003

SPD teilt Sorgen Kofi Annans um die Zukunft von UNO und Weltsystem

Zu den Reden von Generalsekretär Kofi Annan und Präsident George W. Bush vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärt Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion:

Das war Kofi Annans wichtigste Rede in seiner bisherigen Amtszeit. Der Generalsekretär sieht das ganze Weltsystem bedroht und herausgefordert durch die im Irakkrieg erstmals angewandte amerikanische Erstschlagsdoktrin gegen Länder, von denen vermutliche, potenzielle oder künftige Gefahren ausgehen. Er sieht die UNO am Scheideweg. Es reicht nicht, dass sie auf ihr alleiniges Recht zur Legitimation von Gewaltanwendung pocht. Die Vereinten Nationen müssen auf die neuen Gefahren von Terrorismus und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen auch neue Antworten durch "kollektive Aktion" finden. Eine Chance zur Eindämmung sich selbst legitimierender unilateraler Gewaltanwendung wird, so der Generalsekretär, nur eine Weltorganisation erhalten, die ihre Organe stärkt, ihre Arbeit verbessert und die überfälligen völkerrechtlichen Antworten auf die neuen Herausforderungen zu geben imstande ist. Und Kofi Annan hat konkrete Vorschläge für die Einleitung einer solchen Renaissance der Vereinten Nationen gemacht.

Auf diesen Alarmruf haben wir mit vielen anderen lange gewartet. Der Zeitpunkt scheint strategisch gewählt. Nicht nur, dass in New York gerade so etwas wie ein Weltkonzil für globale Politik zusammenkommt. Die UN-Vollversammlung trifft auch zeitlich mit einem Wendepunkt in der Nach-Irakkriegs-Phase zusammen: Nach dem militärischen Triumph gerät Amerika im Irak in eine zunehmend prekäre Lage und braucht Unterstützung, auch von den Gegnern des Irakkriegs. Das gemeinsame Interesse daran, ein Desaster für die gesamte Nahost-Region zu vermeiden, ist so groß, dass die Bereitschaft zu dieser verlangten Unterstützung wächst - und damit automatisch die Auseinandersetzung um den weltpolitischen Präzedenzfall Irakkrieg an den Rand drängt.

Es war die Rede von Präsident Bush, die umgehend Kofi Annans These von der weltpolitischen Wegegabelung bestätigte. Sie enthält nicht einmal Spurenelemente von Einkehr oder Umkehr. Afghanistan und Irak, beide so unterschiedliche Interventionsfälle, werden einfach zusammengerührt. Die Rechtfertigung dafür bietet die doppelt unbewiesene Tatsachenbehauptung, Saddam habe Massenvernichtungswaffen gebaut und parallel dazu seine Beziehungen mit dem Terror kultiviert. Also sei der militärische Erstschlag gerechtfertigt gewesen, den sich Amerika auch gegen andere "gesetzlose Regime" mit verdächtigen Waffenprogrammen vorbehalte. Für Präsident Bush bildet der Irakkrieg nicht etwa eine Ausnahme, sondern er repräsentiert die neuen Regeln der internationalen Politik aus amerikanischer Sicht.

Kofi Annan besteht darauf, dass diese Sichtweise von der ganzen Weltgemeinschaft diskutiert werden muss, und er hat konkrete Vorschläge gemacht, wie der Einstieg in dieses Ringen um die Regeln des globalen Zusammenlebens aussehen könnte. Es ist überzeugend, dass dieser notwendige Dialog mit einer gemeinsamen Risikoanalyse in Sachen Terrorismus und Proliferation beginnen muss, also genau an den Punkten ansetzen soll, von denen die neuen amerikanischen Regelsetzungen herkommen.

Die Ziele und Vorschläge des UN-Generalsekretärs verdienen unsere volle Unterstützung. Kofi Annans Sorgen sind auch unsere. Das darf nicht untergehen, wenn wir jetzt ganz viele inspirierende und hoffnungsgebende Nachrichten und Bilder von wichtigen Begegnungen in New York erhalten.