Kosovo: Unzeitgemäße Überlegungen zu den Aporien des Internationalen Systems

 

von Gernot Erler

Die Flamme des Krieges züngelt, mitten in Europa. Die Bilder brennender Häuser und ins Elend getriebener Flüchtlingsströme sind plötzlich aus der Nachbarschaft, nicht von Schauplätzen weit entfernter Drittweltländer, deren geographische Verortung man erst im Atlas nachschlagen muß. Diese Bilder lassen sich nicht in die Tagesrandlage irgendwelcher Nachrichtensendungen verdrängen. Die 19 Mitgliedsstaaten der NATO haben den Krieg des Slobodan Milosevic gegen einen Teil seines Staatsvolkes mit Krieg beantwortet. Der Krieg ist damit bei uns, mitten unter den Menschen von 19 westlichen Staaten.

Das Tagesgeschehen bemächtigt sich des gesamten öffentlichen Lebens. Es sperrt den Blick zurück und den nach vorne. Es blockiert jedes Verstehenwollen als unzeitgemäß. Es denunziert Versuche, die Aporien unseres internationalen politischen Systems jetzt auszuleuchten und Schlußfolgerungen einzufordern, als Traumtänzerei, wenn nicht Zynis-mus. Die Kriegsaktualität fordert kategorisch ebenso praktische wie um-gehende Antworten: Wie stoppt man die Entvölkerung des Kosovo? Wie rettet man die Flüchtlinge? Wie findet man den Rückweg von den Bom-ben zur Politik?

Andere Fragen zu beantworten erscheint zumindest unzeitgemäß. Es soll hier trotzdem versucht werden. So die Frage unserer Fähigkeit, Krisen rechtzeitig zu erkennen und unter Kontrolle zu bringen.

Kosovo kam nicht überraschend. 1989 hob der damalige serbische Präsident Milosevic den Autonomie-Status der Albaner-Provinz auf und zerstörte damit die vom serbischen Nationalismus seit jeher befehdete austarierte politische Staats-Konstruktion Titos. In der Folge verloren die albanischen Kosovarer immer mehr Rechte - auf eigene Schulen, Uni-versitäten, Krankenhäuser, auf Arbeitsplätze zur Aufrechterhaltung ihrer bescheidenen Existenz. Ohne die Hilfe der besonders in Deutschland ansässigen Arbeitsemigranten wäre eine soziale Katastrophe eingetreten. Die Kosovo-Politik der serbischen Führung der 90er Jahre kann man als Strategie struktureller Vertreibung bezeichnen. Die Albaner versuchten, ohne viel Erfolg, die westliche Öffentlichkeit gegen dieses Unrecht zu mobilisieren. Zuhause organisierten sie eine Art Parallel-Gesellschaft im Verborgenen, versteckt vor der serbischen Obrigkeit. Lange, erstaunlich lange dominierten politisch die gemäßigten Kräfte, die keine Separation von Jugoslawien anstrebten. All das war bekannt. Und trotzdem sucht man im Dayton-Abkommen vergeblich nach einem Kapitel über Kosovo. Das Thema wurde ganz einfach ausgespart.

Noch schwerer wiegt die Tatsache, daß auch nach dem Dezember 1995 (Dayton) die Frage Kosovo in der westlichen Südosteuropa-Politik praktisch nicht vorkam. Die ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Umsetzung des Dayton-Abkommens. Dabei fehlte es nicht an alarmierenden Nachrichten aus dem Kosovo: über die Verschärfung der struktu-rellen Vertreibungspolitik der serbischen Führung, über die Radikalisierung der albanisch-kosovarischen Politik, über das Einsickern von Waffen nach der politischen Implosion in Tirana und über eine wachsende Zahl von Zwischenfällen.

Das wirft die Frage auf: Wie leistungsfähig sind die westlichen Instrumente zur Krisenprävention und zur vorausschauenden Friedenspolitik? Funktionieren die Schnittstellen zwischen der forschenden, analysieren-den und beobachtenden Expertise und der praktischen Politik? Welche Kapazitäten sind hier, auch im Vergleich zu den militärischen Interventionsmitteln, geschaffen worden? Oder anders ausgedrückt: Wie hat denn der Westen die Ratio ausgerüstet, die vor der "ultima ratio" zum Zuge kommen sollte?

Die deprimierende Antwort lautet: unangemessen und unzureichend. Das zeigt ein Beispiel. Die NATO war im Oktober 1998 in der Lage, in wenigen Tagen 450 Kampfflugzeuge einsatzfertig zu machen, um damit (damals erfolgreich) den serbischen Präsidenten zum zumindest vorübergehenden Einlenken auf die von Holbrooke in Belgrad ausgehandelten Regelungen zu bewegen. Diese Abmachungen sahen eine Beobachter-Mission (KVM) der OSZE zur Kontrolle vor. In fünf Monaten schaffte es die OSZE mit ihren 54 Mitgliedsstaaten nicht, die vorgesehenen 2000 Monitore tatsächlich vor Ort zu bringen. Beim den Luftangriffen unmittelbar vorausgehenden Abzug der KVM aus dem Kosovo nach Mazedonien überschritten nicht mehr als 1380 Beobachter die Grenze.

Der OSZE ist kein Vorwurf zu machen. Aber ausgerechnet diese Organisation, die fast alle Länder Europas, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die Vereinigten Staaten und Kanada vereint, die Einrichtun-gen der Frühwarnung und Krisenprävention vorhält und die schon bisher wertvolle Erfahrungen mit Friedensmissionen in einem Dutzend ver-schiedener Länder sammeln konnte, verfügt über völlig unzureichende Mittel und einen Etat, der nicht einmal den 50. Teil der NATO erreicht.

Das ist - leider - nur ein Beispiel. Der Krieg im Kosovo verweist auf eine gefährliche Aporie des internationalen Systems: Im Vergleich zu den mi-litärischen Interventionsmitteln sind die Fähigkeiten für vorausschauende Friedenspolitik und Krisenprävention bestenfalls embryonal ausgebildet. Die Ratio vor der "ultima ratio" ist nackt.

Noch eine andere Fehlentwicklung läßt sich im Kontext mit dem Kosovo-Krieg feststellen. Es können hier nicht die einzelnen politischen Stationen nachgezeichnet werden, aber im Ergebnis war der serbische Präsident für politische Angebote oder Drohungen nicht mehr erreichbar. Am meisten hat er dazu selber beigetragen. Die Gefährlichkeit einer solchen Aufschaukelung von Selbstisolierung und Isolierung, mit einer sogenannten "No-Win"-Situation als Endzustand, hat sich vor Milosevic schon bei anderen Fällen gezeigt. Für diesen Punkt läßt sich auch ein Vergleich mit dem Regime des Saddam Hussein und der Entstehung der Irak-Krisen vertreten. Der Westen hat es nicht geplant, aber auch nicht verhindert, daß Restjugoslawien zum "rogue state" auf europäischem Boden wurde. Trotz der bisweilen irrationalen Bereitschaft der serbischen Führung, diese Rolle - und sei es zum eigenen Machterhalt - anzunehmen, es hätte dazu nicht kommen dürfen. Hier stellt sich eine grundsätzliche Strategiediskussion über die heutigen Mechanismen der internationalen Politik für den Westen auf die Tagesordnung, für die Zeit nach Kosovo. Mit dem transatlantischen Bündnispartner ist dabei auch über dessen "Rogue-Doktrin" zu reden, die als neues Modell für die in-ternationale Politik nach dem Ende des Kalten Krieges wenig geeignet erscheint.

Es fällt schwer, in einem Augenblick, wo der serbische Präsident 1,8 Millionen Menschen aus seinem Herrschaftsgebiet zu vertreiben versucht, die Feststellung zu treffen, daß die Bundesrepublik Jugoslawien ein eu-ropäisches Land ist und daß dieses Land in jede künftige Friedens- und Stabilitätsordnung für Südosteuropa als Mitglied mit eigenen Interessen und Rechten einzubeziehen ist. Die Reintegration Restjugoslawiens wird nur in Verbindung mit einem großen Wiederaufbau-Programm eine Chance haben - Lebens- und Existenzmöglichkeiten müssen im Kosovo, aber auch im Kerngebiet Jugoslawiens wiederhergestellt oder geschaffen werden. Der Krieg zerstört viel, was dieselben wiederaufbauen müssen, die die Kriegskosten bezahlen.

Das führt zu der dritten unzeitgemäßen Frage, die der Kosovo-Krieg aufwirft. Sicher, es gab am Ende des Verhandlungsprozesses von Rambouillet und Paris nach der vorausgegangenen Drohung mit Gewaltanwendung für den Westen und die NATO eine Situation quasi ohne Alternative. Aber die Entstehung dieses Handlungszwangs steht im politischen Kontext einer Entwicklung der Nach-Kalten-Kriegs-Ordnung, die 1991 mit dem 2. Golfkrieg begann. Die Drohung mit militärischer Gewalt zur Erreichung politischer Ziele und ihre Anwendung wird immer mehr zu einem Signum der Alltagspolitik. Abläufe nach dem Modell "Selbstisolierung/Isolierung - militärische Gewaltandrohung - militärische Gewaltanwendung - Reintegration und Wiederaufbau" können kein zukunftsfähiges Weltsystem begründen. So schwierig es ist: Wir brauchen ein nichtvermachtetes und funktionierendes Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, das ohne eine grundlegende Reform der zur Zeit an den Rand gedrängten Weltorganisation keine Chance hat.

Viel zu wenig Fähigkeiten zur Krisenprävention, die Fallen der Ausgrenzungspolitik und der Schurken-Staat-Doktrin, die Zunahme von Gewaltandrohung sowie ihrer Anwendung in der internationalen Politik als politisches Mittel und die Demontage aller Bemühungen um ein verläßliches UN-Gewaltmonopol - auf all diese Fehlentwicklungen hat der Kosovo-Krieg ein grelles Licht geworfen. Es ist unzeitgemäß, aber unverzicht-bar, die notwendigen Schlußfolgerungen für das internationale politische System anzumahnen.