Das organisierte Verhängnis. Die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegenüber Russland

Mit der Politik des Westens gegenüber Russland setzt sich im folgenden Beitrag kritisch der Bundestagsabgeordnete Gernot Erler auseinander. Er analysiert diese Politik eingehend am Beispiel des Internationalen Währungsfonds (IWF) und kommt zu wenig ermutigenden Einschätzungen. Der Sozialdemokrat Erler ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und zuständig für die Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik, Menschenrechte und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir dokumentieren seine Analyse leicht gekürzt.

Man kann nicht gerade behaupten, dass sich das Weltfinanzsystem in stabilen Bahnen bewege. In den letzten Jahren hat sich eine Krisenspur wie von einem globalen Hurrikan über diverse Erdteile gezogen. Erst stand Mexiko im Mittelpunkt, dann folgte 1997 Südostasien, wo wie in einem Dominospiel nacheinander die Wirtschaften von Thailand, Indonesien, den Philippinen, von Malaysia und Südkorea umklappten, bis sich sogar der benachbarte "global player" Japan in gefährlicher Weise ansteckte. Dann kam im August 1998 die Russische Föderation an die Reihe, mit Fernwirkungen in Osteuropa, bis sich die Krisenzone schließlich in Richtung Südamerika verlagerte. Die Welt schaute während dieser Ereignisse gebannt auf die internationalen Finanzinstitutionen, die von den Industrieländern des Westens geschaffen und mit immer weiter Verbesserten und verfeinerten Instrumenten ausgestattet wurden, um genau solche Krisen zu vermeiden oder wenigstens in Schach zu halten. Ernüchterung macht sich breit. Es tauchen Zweifel auf, ob der Internationale Währungsfonds (IWF) in Gemeinschaft mit der Weltbank und den weiteren nachgeordneten Institutionen richtige Analysen und Prognosen trifft, zu geeigneten Maßnahmen bei seiner "Feuerwehr-Funktion" greift und bei seiner globalen Stabilitätspolitik insgesamt auf eine erfolgversprechende Philosophie setzt. Internationale Investoren fragen sich, wie der IWF noch kurz vor Ausbruch der Südostasien-Krise für Indonesien gute Prognosen mit einem jährlichen Wachstum von 3 %, für Thailand gar ein solches von 3,5 % verbreiten konnte und warum er zu Beginn des russischen Katastrophen-Jahres 1998 für Russland jährliche Wachstumsraten von 6 % annahm.

Die öffentliche Debatte über die Effizienz des internationalen Finanzsystems entzündete sich an der Asienkrise, die einige strukturelle Defizite im Krisenmanagement des IWF aufdeckte. Wo der Weltwährungsfonds die Rolle des "lender of last resort" übernimmt, produziert er das "Moral Hazard"-Syndrom: Leichtsinnige Kredite und Spekulationen in Transformationsstaaten oder auf den so genannten "emergent markets" können sich darauf verlassen, letztlich von den internationalen Finanzinstitutionen aufgefangen zu werden. Diese können ein "bail out" der risikofreudigen Privatinvestoren letztlich nicht umgehen, wollen sie nicht ganze Volkswirtschaften aufgeben, die im Falle etwa von Indonesien oder Russland als "too big to fail" angesehen werden. So decken im IWF eingezahlte Steuergelder der 182 Mitgliedsstaaten letztlich die Defizite von Spekulanten ab. Inzwischen sucht man im Rahmen einer "new architecture" nach Möglichkeiten, private Investoren stärker an den Risiken zu beteiligen, ohne dass ein Erfolg schon in Sicht wäre. Gerade das Beispiel von GUS-Staaten wie Russland, Ukraine, Weißrussland und Kasachstan zeigt aber, dass es nicht allein um falsche Prognosen und Mitnahmeeffekte von Spekulanten geht. Die "Philosophie" des IWF, seine ideologische Basis unter dem Namen "Washingtoner Konsens", funktioniert hier nicht. Der Währungsfond setzt überall auf der Welt auf dasselbe "Standardmodell", wie ein Arzt, der jedem Patienten dasselbe Rezept verschreibt, egal welche Krankheit ihn plagt. Das Credo heißt "freie Märkte, freie Preise", koste es, was es wolle. Egal, wie konkurrenzfähig die jeweiligen Volkswirtschaften sind, sie haben sich für den Weltmarkt zu öffnen. Egal, wie instabil die Währungen und wie anfällig sie gegen gezielte Spekulationen sind, der Devisenmarkt muss offen bleiben, in gleicher Weise für herein- wie herausfließendes Kapital. Die globalen Finanzdirigenten lassen sich durch keinen Rückschlag, durch keine Katastrophe von diesem Kurs abbringen. Davor bewahrt sie der feste Glauben, dass die radikale Marktliberalität einfach überall richtig ist und als Prinzip nicht in Frage gestellt werden darf. Nach dem Rubeldesaster im August 1998 erklärte der IWF-Präsident Michel Camdessus auf die Frage nach denkbaren Alternativen: "Wenn wir den Russen Kapitalverkehrskontrollen empfohlen hätten, hätte dies vielleicht auch andere Länder veranlasst, Kontrollen einzuführen. Und dann hätten wir erst recht jede Menge Probleme." Es ging also nicht darum, was gut für Russland gewesen wäre, sondern ums Prinzip: Die russische Krankheit hatte kein Anrecht auf eine andere Therapie als die, die überall und immer angewandt wird.

Die Arbeitsweise des IWF besteht in der Vergabe von Krediten verschiedener Art - von normalen "Ziehungen" über Vergaben im Rahmen der "Erweiterten Fondsfazilität" bis zu den speziellen Fazilitäten zur Kompensierung von Exporterlösausfällen und unerwarteten externen Störungen (CCFF) und den Systemtransformationsfazilitäten (STF). Der Fonds bindet seine Kreditbereitschaft an Auflagen und nennt dieses Prinzip "Konditionalität". Diese Konditionen können sehr detailliert formuliert werden, im Falle Russlands sind Dokumente mit mehr als 100 Unterpunkten bekannt geworden. Der IWF greift damit tief in die nationale Politik und die Souveränität der von ihm unterstützten Länder ein. Führt ein Kredit nicht zur schnellen Lösung der Ausgangsprobleme, bringt er das Nehmerland über neue Kredite und Rückzahlungspflichten in eine wachsende Abhängigkeit. Am Ende dient die Neuverschuldung - und soweit ist es beim Verhältnis IWF-Russland bereits gekommen - alleine dazu, die fälligen Rückzahlungs- und Zinszahlungen zu gewährleisten. Als die russische Staatsduma 1998 über den Staatshaushalt für das Jahr 1999 beriet, stellte sie in das Budget bereits die erwarteten und versprochenen IWF-Kredite ein - andernfalls wäre außerhalb des internationalen Schuldendienstes kein politischer Spielraum mehr übrig gewesen. Es drängt sich das Bild eines Drogensüchtigen auf, der als Therapie immer neue Drogen verschrieben erhält, mit dem einzigen Effekt, dass er immer abhängiger wird.

Die russische Politik, deren IWF-Karriere 1992 begann, hat sich mit gewissen Schwankungen in Form zeitlich begrenzten Aufbegehrens affirmativ gegenüber den Bedingungskatalogen der Washingtoner Währungshirten verhalten. Hier soll einmal der Versuch gemacht werden, in kursorischer Form die wichtigsten Auswirkungen festzuhalten:

1. Zu den Grundüberzeugungen des IWF gehört es, dass die staatskapitalistischen und militarisierten osteuropäischen Kommandowirtschaften so schnell wie möglich privatisiert werden müssen. In der Russischen Föderation rieten die Washingtoner Spezialisten nachdrücklich zur so genannten "Voucher-Privatisierung", bei der praktisch jeder Bürger in den Genuss von Anteilsscheinen an den privatisierten Betrieben des bisherigen Staatssektors kam. Den Vereinigten Staaten war dieser Reformschritt Russlands so wichtig, dass sie ihn bilateral noch mit 100 Mio. US-Dollar unterstützten. Die real-existierende Praxis dieser Privatisierung unter den gegebenen sozialen Bedingungen führte aber nicht etwa zu einem Aktien-Streubesitz in Volkshand, sondern zu einer einmaligen Konzentration der Kontrolle ganzer Branchen in wenigen Händen und zur Entstehung jener für das heutige Russland so typischen "Oligarchen". Von der Privatisierung führt ein direkter Weg zu jenem kleptokratischen Oligopol, das sich inzwischen immer mehr als ernsthaftes Reformhemmnis in Russland herausstellt.

2. Speziell die Privatisierung, aber auch andere Transformationsauflagen des IWF sind über Programme des Währungsfonds, der Weltbank, über Programme der "technical assistance" auf europäischer und bilateraler Ebene durch eine Heerschar von über 30 000 Consultants aus dem Ausland, die Tagessätze von bis zu 7000 DM berechnet haben, unterstützt worden. Dieses Beratungswesen, das Hunderte von Millionen Dollar westlicher Steuergelder in Anspruch genommen hat, berücksichtigte nur in Ausnahmefällen örtliche Besonderheiten, vermittelte eine einseitige Erfahrung westlicher Wirtschaftsweise und begünstigte das Heranwachsen einer neuen, jungen, kaum auf Werte und Regeln orientierten ökonomischen Elite.

3. Zu den Kontinua der IWF-Bedingungskataloge gehörte von Anfang an die völlige Freigabe eines unkontrollierten Devisenverkehrs. Die somit ungehinderten Kapitalflüsse haben im Laufe der Jahre den Charakter fast eines Einbahnstraßenverkehrs angenommen: Während die Russische Föderation auch im Vergleich zu den anderen Transformationsstaaten Osteuropas kaum ausländisches Kapital anzieht (weniger als ein Prozent der global getätigten Investments), wird das von Russland ins Ausland verbrachte Kapital auf mindestens 150 Mrd. Dollar geschätzt, was in etwa der gesamten Auslandsschuld Moskaus entspricht. Die Kapitalflucht schmälert als unterlassene Binneninvestition die Kaufkraft des Landes und verringert so das Interesse von Kapitalinvestitionen aus dem Ausland Dazu kommt ein psychologischer Effekt: Ausländische Investoren fragen zu Recht, warum sie Vertrauen in ein Land setzen sollen, das mit der Kapitalflucht ein Misstrauen zu sich selbst belegt. Der IWF sieht diesen Teufelskreis und reagiert mit den immer selben Appellen, die Anlagebedingungen vor Ort zu verbessern - eine Forderung, die schon wegen der nachfolgenden Punkte ins Leere läuft.

4. Denn in Konsequenz seiner Inflations-Phobie verschreibt der IWF dem Land auch eine strenge Geldmengenbegrenzung. Diese von der russischen Regierung fast durchgängig beachtete Auflage verbindet sich mit der Kapitalflucht und mit der Tatsache, dass die meisten Rohstofferlöse sowieso gleich außer Landes bleiben, zu einer chronischen Liquiditätskrise. Diese wiederum hat zu einer weltweit für eine Industriegesellschaft einmaligen Entmonetarisierung der Ökonomie geführt. 1997 bestritten die größten Firmen Russlands 73 % ihrer Geschäfte mit nichtmonetären Zahlungsmitteln und beglichen nur 8 % ihrer Steuerschuld in Form von Geld. In dem spezifischen Environment jener aus der Sowjetzeit überkommenen Produktionsstruktur und ihrer Identität mit sozialer Absicherung verdeckt die Rückkehr zum Naturaltausch (Barterisierung) den tatsächlichen Charakter der Wertschöpfung, die sich dadurch allen Marktregeln entzieht. Als Ergebnis erkennen wir den ungewöhnlichen Typus einer "Virtual Economy", die sich nicht nur deswegen statistischer Erfassung entzieht, weil sie zu 50 Prozent als Schattenwirtschaft funktioniert.

5. Wo aber auf der einen Seite die Grenzen für die Kapitalflucht scheunentorartig offen gehalten werden, mit deren Überschreitung sich akkumuliertes Kapital legal oder illegal der heimischen Besteuerung entzieht, und wo die beschriebene Virtualisierung in Verbindung mit den Tendenzen Naturaltausch und Schattenwirtschaft voranschreitet, laufen die strengsten Steuergesetze - der IWF mahnt sie regelmäßig an - ins Leere. Statt die staatliche Handlungsfähigkeit zu stärken und die Schuldenabhängigkeit zu vermindern, indem ein stabiles Steuersystem aufgebaut wird, fließt das Kapital unversteuert ins Ausland oder zirkuliert unversteuert in dem Rohrsystem der Schatten- und Scheinwirtschaft. Die Postulate des freien Devisenverkehrs und der Geldmengenbegrenzung verhöhnen in ihrer Wirkung geradezu die auch vom IWF geforderte Steuerabschöpfung, ja noch schlimmer, letztere trifft dann umso härter jenen Rest an normaler heimischer Produktion, die unter den Bedingungen der Marktfreiheit und eines künstlich hoch gehaltenen Rubelkurses auch noch einer übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt wird.

6. Wo der Markt offen steht für ausländische Konsumwaren, der Rubel entgegen seinem realen Wert in stabiler Relation zum Dollar gehalten wird und dann noch die IWF-Kredittranchen eine nichterarbeitete Kaufkraft ins Land schwemmen (alle drei Umstände entsprachen vor der August-Krise 1998 der IWF-Russlandsstrategie), da hat die heimische Industrie null Chancen. Im Sommer 1998 stieg der Anteil der Importprodukte im Konsum in Russland auf über 70 Prozent. Als Gegenpol zu der künstlichen Kaufkraft in den Metropolen, die im Glanze eines geborgten Wohlstands für eine kleine neue Nomenklatur aufleuchten, wachsen in der Weite des Landes lediglich von der virtuellen Ökonomie versteckte Arbeitslosigkeit und Armut.

7. Natürlich hält der IWF auch Ratschläge für den russischen Fiskus bereit, der nicht weiß, wie er unter diesen Umständen die immer wieder angemahnte Stabilisierung der staatlichen Steuereinnahmen hinkriegen soll: Er darf seinen Finanzbedarf nicht (wie früher) bei der Staatsbank decken, sondern - so lehren es die Lehrbücher des globalisierten Kapitalismus - auf dem privaten Kapitalmarkt. Dass Jelzins Finanzminister genau das getan haben, führte zu dem großen August-Crash von 1998. Ihre "Kurzfristigen Staatsanleihen" (GKO) fanden auch bei ausländischen Investoren reißenden Absatz, da sie mit phantastischen, kurzfristig zu realisierenden Renditen ausgestattet waren. Kaum mussten die GKO's mitsamt ihrer Verzinsung aber zurückgezahlt werden, entstanden Löcher in der Staatskasse, die nur mit neuen, noch rascher hingeworfenen Staatsanleihen geschlossen werden konnten - die klassische Entstehung einer Pyramidenkonstruktion. Im Sommer 1998 erkannte man in Washington sehr gut, in welch gefährlichen Zustand der Patient Russland in Befolgung der eigenen Therapie-Ratschläge geraten war - und reagierte wie üblich, nämlich mit der Verschreibung einer neuen Überdosis: Rasch schnürten IWF, Weltbank und Japan ein Rekord-Kreditpaket von 22,6 Mrd. Dollar, dessen erste Rate in Höhe von 4,8 Mrd. Dollar in großer Eile am 20. Juli 1998 ausgezahlt wurde, natürlich wieder verbunden mit einer langen Latte von Konditionen. Aber die Hoffnung, Russland auf diese Weise auf der Trasse des IWF-Kurses halten zu können, trog dieses Mal. Die Oligarchen, die Hedge-Fonds und andere ausländische Spekulanten, die so gut an den GKO's verdient hatten, rochen die Gefahr, verließen fluchtartig den Rubel und bedienten sich dabei der IWF-Milliarden, die Gosbank verzweifelt und vergeblich - entgegen allen Fonds-Regeln - in letzte Rettungsversuche für die russische Währung pumpte und dort wegschmelzen sah. Der Crash vom 17. August 1998 vernichtete die Ersparnisse der russischen Bürger, er halbierte sogar den Wert von Dollar-Bankkonten durch Zwangsumwandlungen. Die einzigen, die ungeschoren aus der Rubelabwertung herauskamen, waren die Dollar-Barhorter und die Leute, die rechtzeitig ihren Besitz ins Ausland geschafft hatten. In wenigen Wochen stiegen die Verbraucherpreise um bis zu 40 Prozent. Die Oligarchen bekamen mit dem russischen Schuldenmoratorium von drei Monaten noch einmal Luft - die einfachen Leute aber sahen ihre Ersparnisse entwertet und hörten einmal mehr die Armut an die Türe klopfen.

8. Die Armut in Russland, dafür interessieren sich auch die Internationalen Finanzorganisationen - sarkastisch könnte man sagen, weil sie ja schließlich zu ihrer Ausbreitung genug beigetragen haben! Im September 1999 legte die Weltbank einen Armutsbericht vor, der auf der Basis von Befragungen ein ziemlich genaues Bild von dem politischen Horizont und der Selbsteinschätzung der Betroffenen malt. Und dieses Bild sieht so aus: Die Armen verbinden ihre Lage mit dem Ende der Sowjetunion, nach dem Muster folgender Aussage: "Früher ging es uns gut, heute leben wir im Elend." Sie geben die Schuld weder örtlichen Verhältnissen noch den objektiven Problemen der Transformation, sondern persönlich den Politikern, die das Land mutwillig ruinierten. Sie glauben nicht an die eigene Kraft, ihre Lage zu verändern. Sie haben auch keine Wut auf die anderen, denen es besser geht. Am ehesten hoffen sie auf eine neue Führung, die den Zustand von vor 1990 - da ging es ihnen ja viel besser - wieder herstellt. Wir werden hier mit dem Demokratie-Problem in Russland konfrontiert. Die wachsende Zahl der Wohlstandsverlierer (ihr Anteil wird auf mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, in manchen Analysen bis 70 Prozent geschätzt) hält die Eliten, die der Westen als Demokraten und Reformer bezeichnet, für diskreditiert. Jene Lieblinge des IWF von Gajdar bis Tschubajs, das sind in den Augen der Armen die Politiker, die Russland ruiniert haben. In Wahlen bleiben sie ohne Chance. Die erste Generation nach der Perestroika hat die politischen und ökonomischen Schock-Therapien, von den russischen Reformern nach den Drehbüchern des IWF und der anderen westlich dominierten Weltinstitutionen inszeniert, als Entwurzelung und Depravierung am eigenen Leib erfahren - was die Zukunft des Landes angeht, eine in den Fernwirkungen schwer absehbare Hypothek.

Es wäre nun übertrieben, unfair und einseitig, sämtliche Fehlentwicklungen der russischen Transformation zwischen 1992 und 1999 der westlichen Politik und ihrer Implementierung über den Instrumentenkasten des IWF anzulasten. Es gibt einen hohen Eigenanteil an Verantwortung, besonders bei den neuen russischen Eliten mit ihrem ausgeprägten Egoismus und ihrer Beute-Mentalität. Aber unleugbar haben die von den Washingtoner Institutionen diktierten Bedingungen einen Humus geschaffen, in dem solche fehlgeleiteten Aktivitäten gedeihen können und prämiert werden.
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Im amerikanischen Repräsentantenhaus gibt es unter den Republikanern starke Kräfte, darunter Majority Leader Dick Armey, die keinen guten Faden an der Russland-Politik des IWF lassen. Sie untermauern ihre Kredit-Stopp-Forderungen mit Hinweisen auf schwer beweisbare Korruptionsvorwürfe. So sollen über die Bank of New York 10 bis 15 Mrd. Dollar aus Russland gewaschen worden sein, darunter Geld aus IWF-Tranchen. Solche Enthüllungen entfalten in der amerikanischen Politik rasch Killerwirkungen. Kein Wunder, dass der IWF den zuständigen Leiter der Russlandabteilung umgehend versichern ließ, dass eine Prüfung des Finanzprüfungs-Unternehmens Price Waterhouse/Coopers keinen Missbrauch von IWF-Mitteln habe nachweisen können, wohl aber ein nichtkorrektes Verhalten der Moskauer Staatsbank, die 1996 erhebliche Summen (es heißt, bis zu 50 Mrd. Dollar) an die Offshore-Firma Fimaco auf New Jersey verschoben habe, ohne den IWF darüber zu informieren. Das könne zwar zu unberechtigten Auszahlungen 1996 geführt haben, die gesamte Russland-Politik des IWF sei aber nicht tangiert und auf dem rechten Weg: Vielleicht habe man in der Vergangenheit zu wenig auf "institution-building" und auf "changes in governance" geachtet und müsse das ändern - und überhaupt, wenn die Russen all ihre Ankündigungen gegenüber dem IWF tatsächlich wahrgemacht hätten, sähe es heute echt besser aus in Russland!

Diese Diskussion gerät jetzt in den Vorwahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft. Wenn die Republikaner den IWF schlagen, meinen sie den möglichen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore, der für Bill Clinton lange Jahre die Kontakte zur russischen Führung hielt und zahlreiche Hilfsprogramme auf den Weg brachte. Im Umfeld einer Neo-Isolationismus-Kampagne kann die Diskussion um die Russland-Politik des IWF kein konstruktives Ergebnis erzielen. Die Alternative Weitermachen oder Nichtweitermachen existiert in Wirklichkeit nicht. Eine plötzliche Funkstille der Weltfinanzinstitutionen wird mit der schon vertrauten Warnlampe "too big to fail" konfrontiert: Ein russischer Staatsbankrott einschließlich der Beendigung aller Rückzahlungen würde schwer kalkulierbare Fernwirkungen auslösen, nebenbei bemerkt am spürbarsten bei dem russischen Hauptgläubiger Deutschland. Was stattdessen geschehen muss, ist eine Umsteuerung der IWF-Politik als solcher. Gerade aus Deutschland kommen seit einiger Zeit Zweifel, ob die weltweit identisch auf alle Nehmerländer angewandte, von der schlichten Jeffrey Sachs-Devise "freie Märkte, freie Preise" getragene IWF-Ideologie als angemessen und erfolgversprechend unterstützt werden kann. Wenn ein Martin Kohlhaussen, Vorstandssprecher der Commerzbank und Präsident des deutschen Bankenverbandes, die Frage stellt, ob Russland in einer Übergangszeit mit Kapitalverkehrskontrollen und Devisenbewirtschaftung nicht besser fahren würde, dann erinnert man sich an spezifisch deutsche Erfahrungen auf dem Weg zum "Wirtschaftswunder": Ludwig Erhard eröffnete zwar mit der Währungsreform von 1948 den Weg zur sozialen Marktwirtschaft, schützte die deutsche Wirtschaft aber noch acht Jahre lang, bis 1956 dann erst der Devisenverkehr und die Importe definitiv freigegeben wurden. Da wundert es nicht, dass Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" heute in Russland eines der verbreitetsten deutschen Bücher in russischer Übersetzung geworden ist.

Als 1996 der Kommunist Sjuganow Präsident Jelzin im Wahlkampf bedrängte, floss viel Geld des IWF an die Moskva, ergänzt durch drei Mrd. DM, die als Aufmunterung von der damaligen Bundesregierung Helmut Kohls bereitgestellt wurden. Als im Frühjahr 1999 die militärische Intervention der Nato gegen Serbien den gewünschten Erfolg zunächst nicht erreichte und man auf eine politische Vermittlung Russlands zu hoffen begann, nahm der IWF seine Verhandlungen über die Realisierung des 22,6-Milliarden-Kreditpakets wieder auf, die seit der Augustkrise von 1998 auf Eis gelegt waren. Beide Gesten haben ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Am 28. Juli 1999 hat der IWF dann auch die nächste Tranche als Stand-by-Kredit über 4,5 Mrd. Dollar für Russland freigegeben - einstimmig und natürlich nach einer gründlichen Prüfung der aktuellen russischen Politik. Die Kreditpraxis des IWF presst also über die Konditionierung die russische Volkswirtschaft nicht nur in ihr ideologisches, global passendes Ökonomie-Korsett, sondern zeigt auch keine Hemmung, offen westliche politische Ziele zu verfolgen, über die keine demokratische Institution je abgestimmt hat. Milliardenkredite als Wahlkampfhilfe, Milliardenkredite als Aufmunterung für Wohlverhalten - wahrscheinlich werden es sogar künftige Historiker schwer haben, die Beteiligten, die Orte und die Zeitpunkte zu benennen, mit denen solche Entscheidungen verbunden waren. Eine demokratische Kontrolle dieser Praxis findet nicht statt. Die Demokratien des Westens lassen über den IWF Weltpolitik auf der Basis vordemokratischer Strukturen machen.

Gegen Störungen erweisen sich diese im Washingtoner Nirgendwo getroffenen Entscheidungen als resistent. Ob Jelzin 1993 das eigene Parlament in Brand schießen ließ, ob er 1994 bis 1996 einen brutalen Krieg gegen Tschetschenien mit 80 000 Toten führte, er konnte sich auf seine den Staatshaushalt entlastenden, wenn auch leider abhängig machenden Verabreichungen aus den Tresoren des IWF immer verlassen. Und das gilt auch heute. Wieder tobt sich in Tschetschenien die russische Soldateska aus, in einem Feldzug gegen Terroristen, die es zwar wirklich gibt, aber bei dem schon jetzt entgegen aller Verhältnismäßigkeit der Mittel mehr als 200 000 Zivilisten fliehen mussten, über 4000 Menschen den Tod fanden und ganze Landstriche und Städte Tschetscheniens unbewohnbar gemacht werden. Die IWF-Unterhändler ficht das in keiner Weise an: Sie berichten gleichzeitig von erfolgreichen Verhandlungen in Moskau über die nächste der fälligen Tranchen aus dem 22,6-Milliarden-Dollar-Paket! Hier soll gar nicht einer Selbsterhebung des IWF zum moralischen Weltrichter das Wort geredet werden. Vollzöge sich die Vergabepraxis der Weltwährungshüter immer und überall nach fiskalisch-immanenten Kriterien, es ließe sich begründen und ertragen. Schwer erträglich ist die Einseitigkeit politisch-motivierter Entscheidungen: Erscheint eine Kreditierung die (wie auch immer ermittelten) Interessen des Westens zu fördern, dann läuft sie, notfalls den Eindruck der direkten politischen Einflussnahme schulterzuckend in Kauf nehmend. Kollidiert eine so auf den Weg gebrachte Kreditierung mit als weniger prioritär eingestuften Interessen - in unserem Fall mit dem Ziel, Moskau von dem alle westlichen Werte mit Füßen tretenden Vorgehen in Tschetschenien abzubringen - ,dann bleibt nur noch Schulterzucken. Diese Schieflage bei den Entscheidungen ist längst zur Schieflage der Institutionen selber geworden.

Bei den derzeit laufenden Kreditverhandlungen können die Russen auf verbesserte Rahmendaten hinweisen: Innerhalb eines Jahres hat sich der Weltmarktpreis für Rohöl fast verdoppelt, nach der dramatischen Abwertung des Rubels (für den IWF eine Regelverletzung, die das Einfrieren der Kreditpolitik gegenüber Moskau auslöste) wurden die teuer gewordenen Importe fast halbiert, was vielen heimischen Produkten die Rückkehr auf die Verkaufsregale öffnete, und die russische Regierung nutzte die "Funkstille" mit dem IWF zur Einführung gewisser Devisenkontrollen.

Wie könnte man sich einen besseren Beleg dafür vorstellen, daß die IWF-Therapie fragwürdig ist und erst einige Verstöße gegen sie seit Herbst 1998 in Russland zu einer Art Atempause geführt haben? Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die IWF-Prüfer jetzt die etwas günstigeren ökonomischen Daten, die durch die Moskauer Unbotmäßigkeiten gegen die IWF-Konditionen zu Stande gekommen sind, als Beleg für den Erfolg ihrer Politik ausgeben - und natürlich für die Freigabe der nächsten Tranche plädieren.

Diese Atempause darf uns nicht täuschen. Kommt zwischen IWF und Russland das erprobte "business as usual" wieder in Gang, dann werden wir auch die Renaissance des beschriebenen organisierten Verhängnisses erleben. Es ist nicht auszuschließen, dass die Philosophie der Washingtoner Finanzarchitekten einmal nicht schadet und in einer bestimmten Situation in einem bestimmten Land positive Impulse auslöst. In Russland war dies bisher nachweislich nicht der Fall. Die russische Transformation ist in erster Linie Sache einer neuen russischen Politik. Aber dass ein ideologisch begründeter Oktroy aus dem Westen den Reformprozess in die Länge zieht, ihn vor allem für die einfachen Menschen kostspielig macht und ihnen eine Erstbegegnung mit Demokratie und Marktwirtschaft in einer fratzenhaften Verzerrung beschert - das ist unverantwortlich und muss geändert werden. Vielleicht ergibt sich eine Chance dazu durch die Ankündigung von Generaldirektor Michel Camdessus vom 9. November 1999, sich nach 13 Amtsjahren im Februar 2000 zurückziehen zu wollen. Der Franzose reagierte damit auf die oben geschilderten Vorwürfe, der IWF habe Moskauer Korruptionspraktiken im großen Stil gedeckt. Ein neuer Generaldirektor könnte mit einer Revision der Russland-Politik des IWF beginnen. Das wäre ein überzeugender Neubeginn.
(eine ausführlichere Fassung des Textes finden Sie unter Veröffentlichungen - hier lesbare Texte)