Moskau im Februar 2000: Der Krieg verändert das Land

Der Freiburger Bundestagsabgeordnete und Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion besuchte Anfang Februar die russische Hauptstadt drei Tage lang für politische Gespräche. Im Mittelpunkt stand dabei der blutige Tschetschenienkrieg. Aus seinen Reisenotizen zeichnet der Russland-Experte eine politische Momentaufnahme des sich durch den Krieg deformierenden Landes.

Im Dachgeschoss des "Baltschug Kempinski"-Hotels in Moskau liegt die "Bibliothek", ein gemütlicher und traditioneller Treffpunkt für deutsch-russische Gespräche, eingerahmt von den üblichen Buchreihen, die nur wegen ihrer Schmuck-Rücken ins Regal gestellt wurden, mit einem herrlichen Blick auf den Moskva-Fluß und die goldenen Turmspitzen des Kreml. Das Thema bei diesem Treffen zwischen Abgeordneten, Militärs und Fachleuten steht quer zu der gepflegten Hotel-Ästhetik - es dreht sich um den schmutzigen Krieg im Kaukasus, der jetzt im fünften Monat Tschetschenien umpflügt.

Generaloberst Valerij Manilov, Stellvertretender Stabschef, wirkt gewinnend und provozierend gesund in seiner grünen Uniform "ohne Lametta", mit den sparsamen Gesten seiner Pranken und seinem großflächigen offenen Gesicht. Ganz offensichtlich glaubt er, was er vor uns schon dutzendemal im russischen Fernsehen - als eine Art Moskauer Shea - verkündet hat: Der Feldzug befreit in Tschetschenien eine dankbare Bevölkerung von der Geißel krimineller Terrorbanden islamistischer Ausrichtung, und die russische Armee baut in den befreiten Gebieten sofort Kindergärten, Schulen und Straßen, beglückt die verstörten Menschen mit endlich wieder funktionierender Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie einer effektiven Verwaltung. Das Empörende sei, dass der Westen gar nicht begreife, dass Russland der Geißel des islamistischen Terrors stellvertretend für die ganze Menschheit entgegentrete, und, statt Dankbarkeit und Unterstützung zu zeigen, auf das russische Vorgehen, das ja nur humanitären Zielen diene, mit Kritik und Sanktionen reagiere.

Als ich am nächsten Tag den Freunden von der Gesellschaft Memorial im Kellergeschoss ihres Hauses in der Malyj Karetnyj-Gasse von diesem Auftritt erzähle, lachen diese engagierten Kämpfer für historische Wahrheit und Menschenrechte spöttisch auf. Der Historiker Arsenij Roginskij nennt das, was die offiziellen Erklärungen der Putin-Leute entstehen lassen, eine "virtuelle Realität". Tatsächlich gebe es "punktgenaue Angriffe", "humanitäre Korridore", "Sicherheitszonen" und "antiterroristische Operationen" nur in der Sprache der Manilovs, nicht aber vor Ort, wo jede freie Berichterstattung rücksichtslos unterdrückt wird. "Seit Herbst haben wir das Gefühl, das Land wird anders" - so fasst Roginskij die Sorgen seiner Freunde zusammen. Die Leute seien müde geworden vom täglichen Lebenskampf, sie hätten die lange Erfahrung der Agonie Jelzins als Schwäche der "vlast´"(Obrigkeitsmacht) in den Knochen, und plötzlich eröffne sich das Bild eines "Reichs des Bösen" im fernen Kaukasus, wo diese unfähige Staatsmacht Entschlossenheit zeige. Man wolle die Wiedergeburt staatlicher Handlungsfähigkeit, die sich mit dem Namen Putin verbindet, glauben, Kritik und Zweifel zerstörten nur diese Hoffnung.

Grigorij Javlinskij hat bei den Dumawahlen am 19. Dezember seine Jabloko ("Apfel")-Partei nur knapp über die 5-Prozent-Hürde gebracht. Er war der einzige bekannte russische Politiker, der die Eskalation in Tschetschenien offen kritisierte - und musste als Lohn Vertrauensverluste bei den Wählern hinnehmen. "Das eine gesagt, das andere gedacht, das dritte gemacht" - so charakterisiert er bitter noch heute das russische Vorgehen im Kaukasus, typisch für altbekannte "Spezialoperationen". Als einziger Gesprächs-partner stellt er aber auch eine Verbindung zum Kosovo-Krieg her: Europa sei ein Kontinent, wo jede Gewaltanwendung eine Kettenreaktion auslöse. Tschetschenien sei die russische Antwort auf die Nato-Intervention im Kosovo, und das nicht nur im Bereich der verblüffend ähnlichen Darstellung und Legitimation in der Öffentlichkeit.

Eine andere Verbindungslinie zieht da Gennadij Sjuganov, der KP-Chef und wie Javlinskij ernsthafter Konkurrent Putins bei den Präsidentschaftswahlen am 26. März. Er macht die Amerikaner dafür verantwortlich, im Kampf um die Kontrolle der Ölreserven des kaspischen Raumes den russischen Einflussinteressen bereits im Kaukasus massiv entgegenzutreten - Tschetschenien als Spielort eines modernen Dramas der Geopolitik. Solche Einschätzungen lässt sich der russische Vize-Außenminister Avdejev gar nicht erst entlocken: Fragen nach dem Krieg weicht er lieber aus und flüchtet sich dafür in Visionen einer deutsch-russischen "Strategischen Partnerschaft" für die Zukunft, in der natürlich für unkluge Kritik und "übertriebene" Sanktionen wegen der Operationen im Kaukasus kein Platz bleiben kann.

Der Krieg hat den Polit-Phönix Vladimir Putin zum unschlagbaren Jelzin-Erben gemacht. Der Krieg zermalmt gerade die zarte Pflanze namens Pressefreiheit in Russland und lässt unbequeme Journalisten wie Andrej Babitskij spurlos verschwinden. Der Krieg steigert die übliche Entfremdung der politischen Nomenklatur von der russischen Intelligenzija zum schwer heilbaren Bruch. Der Krieg exhibitioniert den latenten Antiamerikanismus des Landes und zieht über den tristen Lebensalltag der russischen Bevölkerung die Folie eines künstlichen Messianismus, der religiös-rassistische Züge träg (Samuel Huntington lässt grüßen!).

In Tschetschenien tötet der Krieg Menschen auf beiden Seiten - in Moskau infiziert er jedes Gespräch, jeden Meinungsaustausch zwischen Russen und Europäern. Für Risiken und Nebenwirkungen des Kaukasus-Konflikts gibt es zur Zeit weder Arzt noch Apotheker.