Der Kosovo-Krieg ein Jahr danach: Rückblick, Bilanz, Lehren

Zum Jahrestag des Kosovo-Kriegs erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:


Rückblick 1: Das Kriegsziel

Die NATO wollte den serbischen Vertreibungsfeldzug gegen die Kosovoalbaner durch militärische Mittel aufhalten. Das gelang nicht: Während der 79 Kriegstage schwollen die internen und grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme fortwährend an. Die NATO erreichte aber ihr revidiertes Kriegsziel: Die serbischen Streitkräfte und Polizeieinheiten mussten sich am Ende des Krieges aus dem Kosovo zurückziehen, die albanischen Flüchtlinge kehrten zum größten Teil (850.000 von 900.000) in ihre durch internationale Kräfte geschützten Wohngebiete zurück. Die Vertreibung fand also statt, mit all ihren zerstörerischen und unmenschlichen Begleitumständen, sie wurde aber rückgängig gemacht.
Dadurch wurde auch ein anderes Ziel erreicht: Milosevics Plan, das Kosovo-Problem durch Gewalt und ethnische Vertreibung zu lösen, scheiterte. Die NATO-Intervention hat durch die Verhinderung dieses Planes potentielle Nachahmer abgeschreckt.


Rückblick 2: Die Kriegsführung

Die NATO hat den Kosovo-Krieg ohne Eigenverluste beendet. Entscheidend dafür war die Beschränkung auf Luftangriffe aus großer Höhe. Diese Entscheidung hatte weitreichende Konsequenzen: Begrenzte Ausschaltung gegnerischer militärischer Kräfte, Ausdehnung der Luftangriffe auf nichtmilitärische Ziele außerhalb des Kosovo, um trotzdem wenigstens das revidierte Kriegsziel zu erreichen, sowie eine signifikante Quote von Fehltreffern (mit den sog. "Kollateralschäden" als Folge). Zu dieser Kriegsführung ("Doktrin der Null-Eigenverluste") gab es offensichtlich keine in den demokratischen Gesellschaften der kriegsführenden Staaten konsensfähige Alternative.


Rückblick 3: Die Völkerrechtliche Legitimation

Sie war und bleibt umstritten. An die Stelle der mangelnden Legitimation durch kodifiziertes Völkerrecht trat die Berufung auf nichtkodifiziertes Völkerrecht. Das Gebot, den unbestreitbar groben Menschenrechtsverletzungen der Belgrader Regierung entgegenzutreten, kollidierte mit den völkerrechtlich gesicherten Souveränitätsrechten der Täter. Auch ein Jahr nach diesem "Zusammenstoss" lassen sich keine Versuche erkennen, dieses systematische Problem im internationalen Recht aufzulösen. Es ist noch zu früh zu einer Abschätzung, ob die problematische Berufung der NATO auf nichtkodifiziertes Völkerrecht Nachahmer finden wird, was den nichtaufgebbaren Prozess der Verrechtlichung der internationalen Politik empfindlich stören könnte.


Bilanz 1: Rückkehr ohne Frieden

Fast alle Flüchtlinge sind in ihre Heimat zurückgekehrt. KFOR und UNMIG versuchen unter schwierigsten Umständen, alle Bewohner des Kosovo zu schützen und eine Renormalisierung des Lebens zu organisieren, und vollbringen dabei Leistungen, die Respekt verdienen. Es konnte aber nicht verhindert werden, dass die Opfer von gestern zu Tätern wurden und ihrerseits 250.000 Menschen (Serben, Roma und andere Minderheiten) aus dem Kosovo mit Gewalt vertrieben. In der Logik des Kosovo-Krieges, der die Antwort auf die Vertreibung von letztlich 900.000 Menschen war, liegt es, auch die Revanche-Vertreibung von 250.000 Menschen nicht hinzunehmen und rückgängig zu machen.
Die derzeit im Kosovo stationierten militärischen und zivilen Kräfte reichen nicht aus, um zunächst das Nebeneinanderleben, später das Miteinanderleben aller Kosovo-Ethnien zu erreichen und notfalls zu erzwingen. Es mangelt u.a. an Polizisten und ausreichenden Mitteln zum Aufbau von Verwaltung, Justiz und Zivilgesellschaft. Wenn die internationale Gemeinschaft diese im Vergleich zur militärischen Intervention weniger medienwirksame Aufbauarbeit weiterhin unzureichend alimentiert, gefährdet sie die erreichten Zwischenerfolge und riskiert neue blutige Konflikte.


Bilanz 2: Unheilige Allianz der Radikalen

Die Niederlage im Kosovo-Krieg hat das Belgrader Regime nicht ins Wanken gebracht. Zahlreiche Versuche, die demokratische Opposition in Serbien zu stärken, sind bislang ohne durchschlagenden Erfolg geblieben. Ein Jahr nach Kriegsbeginn verstärkt Milosevic seine Versuche, die Lage im Kosovo zu destabilisieren. Radikale albanische Kräfte, die eine endgültige Loslösung des Kosovo aus Rest-Jugoslawien notfalls über einen neuen Waffengang erreichen wollen, spielen mit ihren Aktionen dem Belgrader Regime in die Hände.
KFOR, UNMIG und alle anderen im Kosovo tätigen Organisationen stehen aktuell in einem doppelten Abwehrkampf, deren Schauplätze vor allem Kosovska Mitrovica und das Presevo-Dreieck sind. Am Jahrestag des Kriegsbeginns braucht die internationale Präsenz im Kosovo dringend Unterstützung, um den Ausbruch neuer blutiger Feindseligkeiten verhindern zu können.


Bilanz 3: Die mühselige Wiedergewinnung von Vertrauen

Der Kosovo-Krieg hat die NATO an mehreren Stellen der Welt Vertrauen gekostet. In Moskau dauert die Kritik an dem "Alleingang" ohne UN-Beschluss und ohne Einbeziehung Rußlands bis heute an. Die NATO-Rußland-Kooperation lag praktisch ein Jahr lang auf Eis und erneuert sich erst schrittweise in den letzten Wochen. Die ausgesprochenen und unausgesprochenen Verbindungslinien zwischen dem Vorgehen der Allianz im Kosovo und dem russischen Vorgehen in Tschetschenien lassen sich nicht übersehen. Die Renormalisierung der Beziehungen und die Wiedergewinnung von wechselseitigem Vertrauen werden nach den beiden tatsächlich sehr unterschiedlichen Kriegsereignissen ganz offensichtlich noch längere Zeit benötigen.


Lehre 1: Aufbau europäischer Interventionskräfte

Die Erfahrung des Kosovo-Krieges einschließlich der starken Abhängigkeit von amerikanischen Fähigkeiten hat sich als "Katalysator" für europäische Entscheidungen ausgewirkt, rasch die eigenen militärischen Interventionskräfte auszubauen. Der EU-Gipfel von Helsinki setzte das Ziel, bis zum Jahr 2003 innerhalb von 60 Tagen operationsfähige schnelle Eingreiftruppen im Umfang von 60.000 Mann bereitzustellen. Der Kosovo-Krieg hat offensichtlich auch die bereits länger gehegten europäischen Pläne zur Schaffung einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESDI) in ihrer Umsetzung, die in den letzten 12 Monaten auffallende Fortschritte erzielte, beschleunigt.


Lehre 2: Stärkung der Prävention und "Stabilitätspakt"

Als das Kosovo-Problem im Herbst 1998 zum Gegenstand westlicher Vermittlungsbemühung wurde, war dieser Konflikt nicht neu. Mit der Gewaltandrohung der NATO gegenüber dem Regime Milosevic, die im Oktober 1998 noch zu einem vorübergehenden Erfolg führte, im März 1999 dann aber sackgassenartig im Krieg endete, war eine langfristig angelegte Krisenprävention definitiv gescheitert. Die wichtigste Lehre aus diesem Krieg muss die Stärkung der europäischen Fähigkeiten zu einer vorausschauenden Friedenspolitik und einer wirksamen Krisenprävention sein. Die wichtigsten Mängel liegen dabei nicht in einer unzureichenden Expertise, sondern bei den nicht funktionierenden Schnittstellen zwischen friedenspolitischer Frühwarnung und politischem Handeln. Der "Stabilitätspakt für Südosteuropa" ist in diesem Kontext die wichtigste politische Antwort auf den Kosovo-Krieg. Wenigstens die "nachholende Prävention" muss Erfolg haben. Er hängt jetzt davon ab, ob die für den 29./30. März vorgesehene Brüsseler Finanzierungskonferenz für die zahlreichen, sorgfältig vorbereiteten Projekte zur regionalen Zusammenarbeit und Stabilisierung auch genügend Geldgeber findet.


Lehre 3: Die Singularität des Kosovo-Kriegs

Der Kosovo-Krieg hat eine nichthinnehmbare Massenvertreibung rückgängig gemacht, das aber zu einem schwer erträglichen und vor allem nicht wiederholbaren Preis. Der Konflikt, der den Krieg auslöste, dauert an, gebiert neue Gewalttaten und zwingt die internationale Gemeinschaft noch für eine nicht abschätzbare Zeit zu erheblichen Anstrengungen und Investitionen. Auf einem relativ kleinen Schauplatz werden auf Dauer erhebliche Kräfte gebunden, die finanziert werden müssen und für andere Aufgaben nicht zur Verfügung stehen. Schon deswegen verbietet es sich, in dem Kosovo-Krieg ein Modell für Konfliktlösungen auch in anderen Fällen sehen zu wollen. Dieses Verbot verstärkt sich noch, wenn man die nach einem Jahr noch gar nicht definitiv abgrenzbaren "politischen Kollateralschäden" der Intervention hinzunimmt.
Alle Anstrengungen müssen sich künftig darauf richten, eine Situation zu vermeiden wie am 24. März 1999, als nach Ausschöpfung aller diplomatischen Rettungsversuche bis zur letzten Minute und nach dem Versagen aller politischen und militärischen Druckmittel die Wahrmachung der militärischen Interventionsdrohung als einzige glaubwürdige Handlungsoption übrig blieb. Der Kosovo-Krieg wird auf Dauer verbunden bleiben mit dieser Erfahrung einer tragischen Reduktion politischer Handlungsoptionen auf eine einzige Variante, die zerstörerische Realität wurde, obwohl dies eigentlich niemand wollte.