Die Tschetschenienfrage und die Verantwortung Putins

Zu Russlands Reaktionen auf die westlichen Forderungen an Moskau im Zusammenhang mit dem russischen Vorgehen in Tschetschenien erklärt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:

Wladimir Putin steht vor seiner ersten Bewährungsprobe als gewählter russischer Präsident, noch vor seiner Vereidigung am 7. Mai. Die Reaktionen Moskaus auf den wachsenden Druck zugunsten einer Aufklärung möglicher Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenienkonflikt wechseln täglich, widersprechen sich gegenseitig und erscheinen chaotisch. Putin verdankt seine Wahl dem Versprechen einer wiedererlangten Handlungsfähigkeit. Wo bleibt sie?

Während Außenminister Iwanow die russische Gesprächsbereitschaft betont, keine Tabuthemen akzeptieren mag und keine Türen zuschlagen will, zieht sich Russlands Europaratsdelegation beleidigt zurück, kritisiert die Duma (in der Putin eine Mehrheit hat) den Europarat und warnt ein offener Brief von Intellektuellen des Establishments vor "neuen Feindbildern". Die angebliche Gesprächsbereitschaft wird durch die dumm-provokative Behandlung der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson hintertrieben. Täglich verkünden verschiedene Sprecher, es gäbe bei der Frage von möglichen Gesprächen mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow neue oder eben doch die altbekannten, mit nichterfüllbaren Vorbedingungen verknüpften Positionen. Was stimmt denn nun?

Moskau kokelt alle Schiffe an, auf denen es üblicherweise bevorzugt politisch reist. Der Europarat war gut dafür, die Interessen russischer Minderheiten in den baltischen Republiken zu schützen. Im Zuge eigener Gedanken zur kollektiven Sicherheit in Europa hat Moskau stets die OSZE stärken, ja sie am liebsten als Dach auch auf die NATO setzen wollen. Die russischen Klagelieder über die Missachtung der Vereinten Nationen durch den Westen während des Kosovo-Krieges sind noch nicht verklungen. Jetzt zürnt Moskau dem Europarat, behindert die Arbeit der OSZE und ignoriert die Vorhaltungen der Vereinten Nationen. Eine solche Politik ist kurzsichtig und inkonsistent, sie schränkt im Effekt die eigenen Handlungsoptionen ein.

Putin schweigt und lässt das Chaos laufen, als wolle er all die Lügen strafen, die seinen Wahlsieg als Rückkehr zur Berechenbarkeit und Handlungsfähigkeit der russischen Politik kommentiert haben. Führung würde heißen, die berechtigten Forderungen zu akzeptieren, die die EU jetzt in die UN-Menschenrechtskommission eingebracht hat und über die sonst am 18. April die UN-Vollversammlung abstimmen wird: Einrichtung einer Untersuchungskommission und Zulassung von unabhängigen Beobachtern in Tschetschenien.

Eine objektive und faire Aufklärung der Vorgänge in Tschetschenien kann Russland nur helfen. Jede Ablehnung einer Untersuchung vertausendfacht bestehende Vorwürfe und Beschuldigungen. Eine dauerhafte Tabuisierung setzt die Ausschaltung der Pressefreiheit in Russland voraus. Ohne Pressefreiheit wird Russlands gesellschaftlicher Mechanismus aber den Anschluss an die globale Entwicklung verlieren. Auch wenn Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt werden und dann die Forderungen nach Ahndung im einzelnen kommen - das ist allemal verträglicher als eine Dauerhypothek nichtaufgeklärter Vorwürfe unter dem Deckel eines erzwungenen Schweigens, das nicht halten und die Reputation des Landes nachhaltig schädigen wird. Die Verantwortung an dieser politischen Wegegabelung, ganz am Anfang einer neuen Ära russischer Politik, trägt allein Wladimir Putin.