Stolpersteine auf Europas Weg in die Zukunft

Das Thema Osterweiterung ist in der innenpolitischen Arena angekommen, und niemand ist vorbereitet / Von Gernot Erler

Günter Verheugen, EU-Kommissar für die Osterweiterung, hat die öffentliche Debatte über die Osterweiterung der Europäischen Union angeheizt: In einem Zeitungsinterview forderte er für solche tief greifenden Veränderungen die Möglichkeit eines Referendums. Die Reaktionen sind harsch, aus Ost wie West, auch aus Verheugens eigener Partei. Im Rahmen unserer Serie "Quo vadis Europa" setzt sich der Bundestagsabgeordnete Gernot Erler, der Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und zuständig für internationale Politik ist, mit Verheugen und den Problemen der Osterweiterung auseinander.

Die französische EU-Präsidentschaft hat sich eine große Aufgabe vorgenommen. Mit dem "Vertrag von Nizza" soll sie die letzte große Hürde vor der Erweiterung der Union abräumen. Erst wenn sich die 15 EU-Staaten im Konsens geeinigt haben, wie die Kommission in Zukunft zusammengesetzt sein soll, wie die Stimmengewichte in einer erweiterten Gemeinschaft verteilt werden sollen und für welche Bereiche Mehrheitsentscheidungen akzeptiert werden, wird die EU sich selber technisch zur Aufnahme neuer Mitglieder fähig gemacht haben.

Um diese technischen Voraussetzungen tatsächlich zu erreichen, ist es noch ein steiniger Weg bis Nizza. Aber in den letzten Monaten wurde immer deutlicher, dass damit nicht die letzten Hürden vor den tatsächlichen Erweiterungsentscheidungen genommen sind. Je näher der konkrete Aufnahmeprozess rückt, je ungeduldiger die fortgeschrittenen Kandidaten nach einem verbindlichen Zeitplan rufen, desto spürbarer dringt das Thema Osterweiterung der EU in den Kreis der innenpolitischen Themen der Mitgliedsstaaten ein. Als hätte zu Hause niemand die Weichenstellungen von Kopenhagen über Amsterdam und Berlin bis Helsinki zur Kenntnis genommen, beginnt plötzlich gleichzeitig in praktisch allen EU-Staaten eine durchaus kontroverse öffentliche Diskussion über den Erweiterungsprozess. Günter Verheugen, der für die Erweiterung zuständige Kommissar in Brüssel, hat durch seinen Interview-Vorstoß vom 2. September diese Entwicklung noch in dramatischer Weise beschleunigt. All das hat, verständlicherweise, in den 12 Kandidatenländern, mit denen teilweise seit Jahren verhandelt wird, Überraschung und stellenweise auch Irritationen ausgelöst.


"Ankunft" in der Innenpolitik

Anders ausgedrückt: Eine auf Langfristigkeit und Verlässlichkeit angelegte europäische Strategie, nämlich die der Osterweiterung der Union, gerät am Vorabend der konkreten Entscheidungsphase in die Mühlen des demokratischen Meinungskampfes und der Parteienkonkurrenz in den Mitgliedsstaaten, bei denen letztlich die Entscheidungsverantwortung liegt. Überraschend kann das nicht kommen. Es überrascht allerdings die Tatsache, dass sich die politischen Führungen der EU-Staaten auf diese "Ankunft" des Themas Osterweiterung in ihrer jeweiligen innenpolitischen Arena kaum vorbereitet haben.

Dieses Versäumnis hat Folgen. In allen EU-Staaten stehen am Rande des demokratischen Spektrums befindliche Parteien und Gruppierungen bereit, polemische Attacken gegen die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten der Union zu führen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Solange dies Randgruppen ohne politisches Gewicht bleiben, erscheint das Störpotential kontrollierbar. Aber diese beruhigende Einschränkung lässt sich nicht treffen. Das Beispiel Österreich hat eine solche Brisanz erreicht, weil dort mit der FPÖ eine Partei in die Regierungsverantwortung gekommen ist, deren Zentralfigur Jörg Haider beständig mit ausländerfeindlichen Strategien, die Polemiken besonders gegen das Kandidatenland Polen einschließen, um Wählerzulauf wirbt. Der Versuch der anderen 14 EU-Länder, diese gefährliche Fehlentwicklung mit bilateralen Sanktionen rückgängig zu machen oder wenigstens unter Kontrolle zu halten, kann schiefgehen: Wenn es nämlich Haider gelingt, gerade wegen der Sanktionen eine Trotz- und Blockadereaktion in Wien auszulösen, an der wegen des geltenden Konsensprinzips die Osterweiterung scheitern oder zumindest aufgehalten werden kann. Allein das Beispiel Österreich demonstriert die ganze Verletzlichkeit der europäischen Erweiterungsstrategie.

Aber es wäre naiv, das Problem auf die Zusammensetzung der Regierung in Wien zu reduzieren. Die Versuchung, jetzt, wo die politische Öffentlichkeit das Thema Osterweiterung "entdeckt", damit verbundene latente Ängste aufzunehmen und für politische Zwecke zu nutzen, erreicht auch demokratische Parteien. Logischerweise ist die Infektionsgefahr dort größer, wo es sich um Oppositionsparteien handelt, die nach einem geeigneten Thema suchen, um in die politische Offensive zu kommen, aber noch kein anderes geeignetes Thema gefunden haben. So ist z. B. in Deutschland noch nicht entschieden, ob die CDU / CSU ihre bisherigen proeuropäischen Gleise verlassen wird, um auf diese Weise verlorenes politisches Terrain vermeintlich zurückzugewinnen. An alarmierenden Ratschlägen, genau dies zu tun, fehlt es nicht.

Allein die Tatsache schon, dass demokratische Oppositionsparteien das Thema Osterweiterung da, wo es Unsicherheiten und Ängste in der Wählerschaft auslöst, aufgreifen könnten, entwickelt Wirkung auf die politische Agenda. Der Zeitplan für den Erweiterungsprozess hängt nicht mehr allein davon ab, wann eine erste Gruppe von Kandidaten-Staaten den "acquis communautaire" der EU erreicht und dies in den einzelnen Kapitel-Verhandlungen überzeugend dargetan hat. Längst gehören zum Tagesgespräch in den Brüsseler Wandelhallen auch Spekulationen darüber, ob denn die Erweiterungsentscheidungen überhaupt vor den französischen Präsidentschafts- oder den deutschen Bundestagswahlen (beide im Jahr 2002) stattfinden könnten. Tagespolitische Opportunitätsrücksichten nehmen Einfluss auf die zentralen Abläufe der Europapolitik - und wir werden ziemlich hilflose Zeugen dieser Entwicklung, die uns noch unangenehme Überraschungen bescheren kann.

Wie konnte es dazu kommen und welche Chancen gibt es, ein eventuelles Scheitern der Erweiterungspolitik mit ihren unabsehbaren Folgen verlässlich zu vermeiden? Offensichtlich kam es zu erheblichen Versäumnissen bei der argumentativen Flankierung des Erweiterungsprozesses in der europäischen Öffentlichkeit. In den letzten Wochen und Monaten werden uns stapelweise faktenreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu den ökonomischen Aspekten des Erweiterungsprozesses angeliefert. Sie geben ein differenziertes, letztlich aber positives Datengerüst, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die Osterweiterung der EU um bis zu 10 entsprechend vorbereitete Länder etwa in den Jahren 2005 / 2006 wird die globale Konkurrenzfähigkeit der EU verbessern. In der Summe kann die Gesamt-EU nicht etwa Wohlstandsverluste, sondern sogar von Anfang an leichte Wohlstandsgewinne erwarten. Diese verteilen sich allerdings ungleichmäßig. So werden Länder wie Deutschland, Österreich und Italien mehr profitieren als die übrigen EU-Mitglieder. Risiken und Herausforderungen entstehen in begrenztem Umfang in Grenzregionen, insbesondere durch Berufspendler (davon sind dann wiederum in erster Linie die drei genannten Länder betroffen, die in der Summe besonders auffällig profitieren) sowie in bestimmten Branchen und Sektoren (besonders Textil, Bekleidung, Stahl und Agrarsektor). Diese Risiken und Herausforderungen sind allerdings beherrschbar. Eine größere Arbeitswanderung mit Einfluss auf Arbeitslosenzahlen und Lohnniveau in den alten EU-Staaten - darin sind sich die Analysten in auffälliger Weise einig - steht nicht zu erwarten.

Vielen Deutschen ist nicht klar, welche Bedeutung schon heute unsere Wirtschaftsbeziehungen mit den zehn mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern (den sogenannten "MOE-10") haben. Im Jahr 2000 wird das Handelsvolumen mit diesen Partnern die 200-Milliarden-DM-Marke überschreiten und damit den Wert von 1995 verdoppeln. Zum wiederholten Male hat 1999 der Umfang des deutschen Osthandels mit seinem Anteil von 10% am Gesamtvolumen den des Warenaustauschs mit den Vereinigten Staaten überflügelt. Die Führungspositionen nehmen Polen, Tschechien und Ungarn mit Prozentanteilen von 28, 26 und 23 vom gesamten Osthandel ein. Bei den deutschen Ausfuhren lag Polen 1999 an 10.Stelle, noch vor Schweden, Japan und Dänemark, während Tschechien und Ungarn auf Platz 13 und 14 folgten. Bei den Importeuren lautet die Platzfolge 12, 13 und 14 für Tschechien, Polen und Ungarn. Auch bei den deutschen Auslandsinvestitionen rangiert Polen schon heute auf der 10. Stelle. In einem DIHT- Positionspapier mit dem Titel "Europa 2000 plus" vom April dieses Jahres klingt schon fast Enthusiasmus an, wenn sich dort der Satz lesen lässt: "Alles in allem bleibt festzustellen, dass sich die polnische Wirtschaft zu einer Art Wirtschaftswunder entwickelt hat."

Das Entscheidende an diesen Zahlen ist die Dynamik, die sie vermitteln. Schon heute sichert der Handel mit den MOE-10 jeden zehnten exportbedingten Arbeitsplatz, vor fünf Jahren war es noch die Hälfte davon. Die Prognosen, ablesbar auch in den wachsenden deutschen Direktinvestitionen vor allem in Polen, Tschechien und Ungarn, sprechen für steile Kurven nach oben, wenn es zum EU-Beitritt kommt und damit noch bestehende Handelshemmnisse definitiv beseitigt werden. Es dürfte schwer fallen, gerade für die deutsche Volkswirtschaft andere Partnerregionen zu benennen, die sich so dynamisch entwickeln und dabei so günstig gelegen sind.

All diese Datenerhebungen eignen sich eigentlich gut dazu, populistische Unverantwortlichkeit, die Ängste gegen die Osterweiterung der EU schürt, zu entwaffnen. Die Wahrheit ist, dass bei einer ausschließlich ökonomischen Betrachtung die Aufnahme neuer, ausreichend vorbereiteter Mitgliedsstaaten in die EU eine europaweite Win-Win-Entwicklung auslösen wird. Rechtzeitige politische Flankierungsstrategien können darüber hinaus dafür sorgen, dass regional und sektoral auftretende Negativerscheinungen in ihrer ökonomischen und sozialen Wirkung neutralisiert werden.

Ärgerlicherweise existieren diese Erkenntnisse bisher allerdings nur als Spezial- oder Geheimwissen in einem begrenzten Ausschnitt der politischen Klasse Europas. Die wissenschaftliche Expertise wurde zu spät in Auftrag gegeben und zu spät geliefert. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit verbreiteten sich in der Zwischenzeit ganz andere Eindrücke. Bei der Mehrzahl der europäischen Wähler ist längst der Eindruck entstanden, die Osterweiterung der Union sei mit Opfern an Arbeitsplätzen und Wohlstand zugunsten der ost- und südosteuropäischen Transformationsstaaten verbunden und müsse vom "kleinen Mann" teuer bezahlt werden. Weitverbreitet ist die Furcht vor einer massenweisen Arbeitswanderung in Richtung Westen, besonders aus dem mit 40 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Kandidatenland Polen.

Die einzige Möglichkeit besteht darin, wenigstens jetzt europaweit eine Informations- und Aufklärungskampagne zu starten, um die falschen Erwartungen zu den ökonomischen Wirkungen der geplanten Osterweiterung zu korrigieren. Sinnvollerweise müssten sich die Regierungen darum bemühen, vorher einen parteiübergreifenden Grundkonsens über eine solche Initiative herzustellen. Eine besondere Verantwortung kommt dabei jener Gruppe von außenhandelsstarken Ländern zu, die mehr als andere von dem Erweiterungsprozess profitieren werden. Dies ist schon deshalb notwendig, um die Staaten der europäischen Südschiene durch Vorbild mitzuziehen. Spanien, Portugal, Griechenland und Irland, die Hauptnehmerländer im System der europäischen Struktur- und Kohärenzfonds, werden nach der Aufnahme neuer Nehmerländer nicht mehr im bisherigen Umfang von den Fonds profitieren können. Wie sollen sie eigentlich zur Einwilligung zu diesen tendenziellen Beschneidungen ihrer Privilegien gebracht werden, wenn sich die Obernutznießer der Erweiterung wie Deutschland, Österreich und Italien eine auf falsche Daten und Informationen stützende Negativdebatte zur Osterweiterung leisten?


Politischer Flurschaden

Genau dies ist der politische Hintergrund für das Interview von Günter Verheugen in der Süddeutschen Zeitung vom 2. September 2000, das eine so bizarre Spanne von Reflexen und Reaktionen ausgelöst hat. Natürlich wollte der EU-Kommissar nicht in "verantwortungsloser Art" verunsichern, wie der CDU-Europapolitiker Friedbert Pflüger mutmaßte, natürlich will Verheugen weder die Erweiterung hintertreiben noch verzögern, und es verlässt alle Maßstäbe, wenn behauptet wird, er habe zu einer "Haiderisierung" der deutschen Politik beigetragen. Nein, Verheugen ist und bleibt ein verlässlicher Erweiterer der Europäischen Union und mutmaßlich betrachtet er derzeit voller Verzweiflung den politischen Flurschaden, den sein Vorstoß angerichtet hat.

Dieser Schaden entstand vor allem durch eine unselige Verknüpfung. Es war ein Fehler, ausgerechnet am Gegenstand der Osterweiterung ein Plädoyer für mehr direkte Demokratie in Deutschland durch Volksentscheide zu entwickeln. Denn wollte man diesem Ratschlag folgen, müsste - mitten im Entscheidungsprozess, in dem die Kandidatenländer mit Recht auf Vertrauensschutz pochen können - in Deutschland die Verfassung geändert werden, was Verheugen auch weiß und worauf er auch hingewiesen hat. Genau dieser Umstand hat aber Spekulationen ausgelöst, ob es dem Kommissar nicht doch um ein Hinausschieben der Entscheidungshorizonte geht.

Diese unselige Verknüpfung lenkt auch von dem Kern der berechtigten Kritik an den politischen Eliten ab. Der Kernsatz in Verheugens Interview lautet: "Die Mitgliedsländer dürfen es nicht der Kommission überlassen, die Drecksarbeit alleine zu machen. Auch die Staaten müssen sich mit den Vorurteilen und berechtigten Ängsten der Menschen auseinandersetzen." Der Hinweis auf vorhandene Defizite und Versäumnisse, die ein einzelner EU-Kommissar allein kaum ausgleichen kann, ist berechtigt. Verheugens Anliegen, die politischen Eliten Europas für das Großprojekt EU-Erweiterung in Mitverantwortung, ja in Mithaftung zu nehmen, verdient Unterstützung. Er hat bloß leider durch die Instrumentalisierung des Volksentscheides, der in Deutschland erst noch zu etablieren wäre, als erzieherische Maßnahme gegenüber den zu zögerlichen, zu wenig engagierten politischen Eliten, seinem eigenen Anliegen keinen guten Dienst erwiesen. Das ist schade, weil es den Angesprochenen wohlfeile Möglichkeiten bietet, durch Legen falscher Fährten und durch das Ausnutzen der falschen Verknüpfung von der eigenen Verantwortung abzulenken.

Die erwähnte europaweite Informations- und Aufklärungskampagne zur Osterweiterung bleibt unverzichtbar. Die von Günter Verheugen ausgelöste aktuelle Debatte enthält noch die Chance, sich auf dieses Fazit hinzubewegen. Allerdings würde eine ausschließliche Abstützung einer solchen Kampagne auf die erwartbaren wettbewerblichen, ökonomischen und sozialen Prosperitätsgewinne zu kurz greifen und dem tatsächlichen politischen Stellenwert der europäischen Erweiterungsstrategie nicht gerecht werden. Man muss es im politischen Tagesgeschäft nicht ständig erwähnen, aber man sollte wissen, dass die Realisierung der seit 10 Jahren proklamierten Erweiterungsversprechen auch dann ohne Alternative wäre, wenn sie von der ökonomischen Gewinn- und Verlustrechnung her kostspieliger ausfiele.

In der vergangenen Dekade des Demokratisierungs- und Transformationsprozesses in den postkommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas sind den Menschen zahllose Opfer abverlangt worden. Und dies nicht etwa unter den Bedingungen von Entwicklungs- oder Übergangsdiktaturen, sondern von Regierungen, die sich international kontrollierten Wahlen stellen mussten. Dabei hatte sich die neue politische Klasse in Osteuropa der Forderung nach einem geradezu selbstverleugnenden politischen Verantwortungsbewusstsein zu stellen: Die Ablösung durch Wählerentscheid nach vier oder weniger Regierungsjahren war überall dort die Regel, wo die Regierungen dem unpopulären Kurs der Reformen treu blieben. Die einzige ermutigende Perspektive bei diesem respekteinflößenden Verhalten war die Aussicht, das eigene Land näher an die ersehnte und versprochene Europaintegration zu bringen.

Wer diese 10 Jahre der Opfer bei Regierenden und Regierten in den Beitrittsstaaten jetzt nicht mit einer verlässlichen Implementierung des Erweiterungsprozesses abschließt, diskreditiert die neue, Europa zugewandte Elite in den Kandidatenstaaten, frustriert die dortige Bevölkerung, die geduldig jahrelang Entbehrungen trug und spielt das Spiel der politischen Hasardeure, die auch in den Beitrittsländern auf ihre Chance warten.

Neben dem Stichwort "Vollendung des Demokratisierungs- und Transformationsprozesses" steht bei den nun kurzfristig anstehenden Erweiterungsentscheidungen auch Europas Zukunft im Frieden auf dem Spiel. Nicht ohne Wirkung haben die europäischen Gipfel den Kandidatenstaaten als Voraussetzung für ihre Integration die Lösung aller potentiellen Nachbarschafts- und Minderheitenkonflikte auferlegt. Wenn heute ein dichtes Netz von bilateralen Nachbarschafts-, Freundschafts- und Kooperationsverträgen das Zusammenleben aller Beitrittsstaaten mit ihren jeweiligen Nachbarländern in beeindruckender Weise friedlich regelt, wenn Rumänen und Ungarn in Rumänien, Slowaken und Ungarn in der Slowakei, Esten und Russen sowie Letten und Russen in den beiden baltischen Republiken jetzt besser zusammenleben als noch vor wenigen Jahren, dann hat hier die Konditionalität der Beitrittsperspektive deutlich mitgeholfen.

Ein Blick auf den Balkan mit seinen blutigen Konflikten innerhalb und unter den Staaten, die bisher fernab europäischer Integrationsangebote agierten, zeigt die friedenspolitische Bedeutung der europäischen Integrationspolitik, die nicht zufällig über das Instrument des Stabilitätspakts jetzt verstärkt auf Südosteuropa ausgedehnt werden soll. Ein Scheitern der europäischen Erweiterungspolitik wäre auch sicherheitspolitisch ein äußerst gefährliches und kostspieliges Versagen.

Die Rationalität der Prosperitäts-, Demokratie- und Friedensargumente sollte eigentlich ausreichen, beherzt in die Auseinandersetzung mit dem provinziellen Populismus zu ziehen, der abzielt auf die Stimmen von Wählern mit zukunfts- und globalisierungsuntauglichen Wagenburgmentalitäten, die auf Fremdenabwehr hinauslaufen.


Kulturelle Chance

Fast regelmäßig lassen aber diese ganzen guten Argumente eines außer Acht: Erst mit der Osterweiterung bekommt die Europäische Union die Chance, die historische und kulturelle Identität Europas wiederherzustellen. Das hatte der große, am 16. Mai dieses Jahres gestorbene polnische Schriftsteller Andrzej Szcypiorski im Sinn bei der Abfassung seiner letzten, nicht mehr gehaltenen Rede (vgl. FR vom 18.5.2000, S. 19), als er schrieb:"Es reicht nicht, zweihundert französische Käse- und Wurstsorten zu kennen, um von sich zu behaupten, man sei ein Freund Frankreichs. Mir sind diejenigen lieber, die irgendwo in Polen, sei es in Schlesien oder in Masowien, bis heute noch nicht mit einem Brebion in Berührung gekommen sind, aber in der Lage sind, darüber zu diskutieren, was sich vor zweitausend Jahren im Teutoburger Wald ereignet hat, die etwas über die Poesie Villons und etwas über die Ansichten Goethes zu Frankreich wissen. Es geht mir aber dabei überhaupt nicht um fundierte Geschichtskenntnisse, sondern um tiefe geistige Verbindungen, die in der Geschichte der beiden Völker dauerhafte Spuren hinterlassen haben. Ohne das Wissen über die Geschichte der Vaterländer Europas gibt es weder ein Europa noch Vaterländer."

Die alteuropäischen Kulturen, die sich mit geistigen Zentren wie Warschau, Prag und Budapest, mit Tallinn, Riga und Wilna, mit Bratislava, Ljubljana, Sofia und Bukarest verbinden, gehören seit Jahrhunderten zu Europa und werden ein unschätzbarer Gewinn für die EU sein. Sie aus ökonomistisch - utilitaristisch verkürzter Sicht als kostspielige "Nehmerländer" auf eine lange Wartebank zu setzen, kann nur einer abstoßenden Borniertheit entspringen. Kulturell und von ihrer Geschichte und ihrem Potential her betrachtet sind alle diese Länder mit ihrem unnatürlichen Kandidatenstatus in Wirklichkeit phantastische europäische "Geberländer".

Diese Einsicht mehrheitsfähig zu machen und dabei alle bestehenden, nicht leugbaren faktischen Hürden aus dem Weg zu räumen, ist eines der letzten großen politischen Abenteuer, das Europa bietet und für das seine Kraft zu geben begeistern kann.