Die Selbstbefreiung Jugoslawiens verpflichtet den Westen

Zu den Ereignissen in Jugoslawien erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, der sich nach politischen Gesprächen in Bulgarien und Mazedonien derzeit in Tirana aufhält:

Der 5. Oktober 2000 wird in die Geschichtsbücher als Ende der Herrschaft des Slobodan Milosevic eingehen. Es erscheint undenkbar, dass er über einen blutigen Einsatz von Militär und Sicherheitskräften noch einmal die Kontrolle über das Land gewinnen könnte. Die Autorität des Belgrader Machthabers, angeschlagen durch die Wahlniederlage vom 24. September, hat sich am 5. Oktober auf den Straßen der Hauptstadt verflüchtigt, als hunderttausende von demonstrierenden Menschen die Machtprobe mit den Sicherheitskräften wagten und sie gewannen.

Die Oppositionsführer, allen voran der neue Präsident Vojislav Kostunica, behielten die Übersicht. Kostunica macht Eindruck, wenn er die Ziele Wiederherstellung von Normalität, Solidarität mit den Schwachen und Pressefreiheit an erste Stelle setzt und sie mit deutlichen Appellen an das Verantwortungsgefühl der Bürger verbindet. Bemerkenswert seine Disziplin, in der Stunde des Sieges keine Triumphgefühle zu zeigen, sondern für das bevorstehende Aufbauwerk sogar den Parteien des bisherigen Regimes die Hand entgegenzustrecken. Zoran Djindzic hat heute morgen bekräftigt: Ohne Rechtsgrundlage dafür wird es keine Auslieferung von Milosevic, falls man seiner überhaupt habhaft wird, geben und überhaupt gehe es jetzt nicht in erster Linie um den Präsidenten.

Auf diese Übersicht und Vernunft sollte der Westen adäquat reagieren: Schnellstmögliche Aufhebung der Sanktionen, rasche Einbeziehung Jugoslawiens in den Stabilitätspakt für Südosteuropa, keinerlei Forderungen an das Team Kostunicas in Sachen Milosevic. Die neue Führung Jugoslawiens, derzeit noch in statu nascendi, braucht jetzt vor allem Vertrauen und die uneingeschränkte Anerkennung, dass Serbien sich selbst befreit hat. Kostunica und seine Leute haben das Recht, eigene Prioritäten zu setzen, entsprechend den Erwartungen derer, die das Land von Milosevic erlöst haben. Westliche Wunschvorstellungen über die Zukunft einer Balkanordnung müssen da zurückstehen. Rußland kann viel helfen, durch eine klare Anerkennung der Ablösung des bisherigen Regimes und als psychologischer Partner Kostunicas, wenn dieser jetzt Rache- und Revancheakte verhindern will.

Die Nach-Milosevic-Ära darf Südosteuropa nicht von der Tagesordnung verdrängen. Allein der Machtwechsel in Belgrad löst nicht das Kosovo-Problem. Und schon fragen erste besorgte Stimmen aus Jugoslawiens Nachbarstaaten, ob Milosevics Abgang auch die westliche Zuwendung zu dieser Region beenden wird. Die Antwort muss heißen: Nein, auf keinen Fall!