Die Türkei tut sich schwer mit der Europäisierung ihrer Politik

Zur aktuellen Politik der Türkei erklärt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Alle, die sich in der Vergangenheit mit Erfolg für den EU-Kandidatenstatus der Türkei eingesetzt haben, wurden in letzter Zeit von der türkischen Politik eher enttäuscht. Es ist offensichtlich, dass sich die Türkei weiterhin sehr schwer tut, ihr Verhalten europäischen Normen anzupassen. Die groß angekündigten Reformen lassen auf sich warten, in vielen Bereichen sind sogar wieder Rückschläge zu verzeichnen. Dazu vier Beispiele:

1. Niederschlagung der Gefängnisrevolten

Im Bereich des Strafvollzugs ist die Einführung der so genannten F-Zellen im Prinzip zu begrüßen, da sie die nach europäischen Vorstellungen untragbaren Zustände in den türkischen Gefängnissen verbessern können. Der Widerstand der Häftlinge dagegen ist daher nicht gerechtfertigt. Die blutige Niederschlagung der Gefängnisrevolten wurde von so erheblichen Menschenrechtsverletzungen begleitet, dass dieses Vorgehen eindeutig und krass gegen eines der Hauptprinzipien europäischen Verhaltens verstieß, der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

2. Behandlung der Armenier-Frage

Es wird nur von türkischen Historikern bestritten, sonst aber weltweit als historische Tatsache anerkannt, dass sich das Osmanische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Verfolgung der Armenier nach heutigen Kriterien des Völkermords schuldig gemacht hat. Dies zu analysieren und darüber Urteile zu fällen, sollte aber der Geschichtsschreibung überlassen bleiben und kann nicht die Aufgabe von Parlamenten sein.

Die türkische Reaktion auf den Gesetzentwurf in der französischen Nationalversammlung, der den türkischen Völkermord an den Armeniern parlamentarisch feststellen will, kann nur als überzogen bezeichnet werden. Die darauf folgende Behandlung Frankreichs, die Einstellung wissenschaftlicher Kooperationen und die Aufkündigung bestehender Rüstungslieferungsverträge sind nicht nur eines NATO-Partners, sondern auch eines EU-Beitrittskandidaten unwürdig.

Niemand macht die heutige Republik Türkei für das verantwortlich, was 1915 im Osmanischen Reich geschah. Wenn die Türkei sich aber zum europäischen Kulturkreis zählen möchte, sollte sie zumindest zu einer kritischen Vergangenheitsbewältigung fähig sein.

3. Umgang mit ausländischen Parlamentariern und der Kurdenfrage

Der Eklat beim Besuch des deutschen Verteidigungsausschusses in Ankara in dieser Woche zeigt erschreckend, dass einige türkische Politiker immer noch nicht begriffen haben, was man in Europa unter der Freiheit und Unabhängigkeit von vom Volk gewählten Abgeordneten versteht. Die ultimative Aufforderung an MdB Angelika Beer, ein Haarband abzulegen, das in böswilliger Unterstellung als Demonstration für die PKK gewertet wurde, war eine durch nichts zu rechtfertigende Verletzung der gebotenen Gastfreundschaft. Der folgende Abbruch der Gespräche durch die Türken zeigt, wie wenig die Dialogfähigkeit sogar im türkischen Parlament entwickelt ist und wie wenig rational bis heute mit der Kurdenproblematik umgegangen wird.

4. Invasion im Nord-Irak

Zum wiederholten Mal ist die Türkei mit zehntausenden Soldaten im Irak einmarschiert, um dort die PKK zu bekämpfen, diesmal an der Seite der PUK von Jalal Talabani. Bei allem Verständnis für den Kampf gegen Terrorismus bedeutet auch diese Invasion wiederum eine völkerrechtswidrige Verletzung der territorialen Souveränität des Irak und eine weitere Destabilisierung der Region. Alle vorangegangenen Invasionen haben bisher nur Leid für die betroffene kurdische Bevölkerung im Nord-Irak gebracht, das Grundproblem der PKK konnten diese militärischen Abenteuer nicht lösen. Mit den Vorstellungen europäischer Außenpolitik hat dies nichts gemein. Mit derartigen Aktionen verstärkt die Türkei selbst den Widerstand in Europa gegen die gewünschte Lieferung von eintausend Kampfpanzern, die das militärische Übergewicht der Türkei in der Region noch weiter stärken würden.

Diese Beispiele weisen schlaglichtartig auf einige der Defizite, die die Türkei noch aufzuarbeiten hat, um in Europa eine wirkliche Anerkennung als EU-Beitrittskandidat zu gewinnen. Für eine Beschleunigung der Öffnung zu mehr europäischem Denken könnte vor allem eine Intensivierung des Dialoges mit den Europäern hilfreich sein. Hier gibt es noch viel zu tun. Die SPD wird ihrerseits den Dialog mit den türkischen Sozialdemokraten verstärken.