Ein riesengroßer Quatsch

Mit Amerika über NMD reden - gerne. Aber Gefolgschaft wird es nicht geben

Von Gernot Erler

Wer in den vergangenen Wochen die internationale sicherheitspolitische Debatte verfolgt, stößt überall auf die drei Buchstaben NMD. Man könnte den Eindruck gewinnen, unser aller Sicherheit hänge ab von der Zukunft der amerikanischen Nationalen Raketenabwehr.

Dieser Schein trügt. Das NMD-Programm verdient nicht die hohe Aufmerksamkeit, die es derzeit genießt. Raketenabwehrprogramme können, selbst wenn sie funktionieren, nur über einen äußerst begrenzten Ausschnitt unserer Sicherheit mitentscheiden.

Der amerikanische Präsident plant, sehr viel Geld in ein "nationales" System zu stecken, das zunächst einmal amerikanische Bürger vor begrenzten Raketenangriffen so genannter Risikostaaten (states of concern) schützen soll. NMD steht aber auch in engem Zusammenhang mit Theater Missile Defense, also regionaler Raketenabwehr zum Schutz von Verbündeten oder US-Soldaten im Ausland. Beide Systeme gehen von einem möglichen Angriff jener globalen Außenseiter aus, die bis vor kurzem in Amerika noch Schurkenstaaten (rogue states) genannt wurden: Nordkorea, Iran, Irak, Libyen und Syrien. Von diesen fünf Staaten hat bisher kein einziger je eine Rakete auf die USA abgefeuert. Keiner der fünf könnte dies heute tun.

Von Iran, Irak und Nordkorea weiß man allerdings, dass sie an Mittelstreckenraketen arbeiten. Nach pessimistischen Annahmen könnte die iranische Shahab 4 (Reichweite: 2000 Kilometer) bis 2005 entwickelt sein, Nordkorea könnte dann die Taepodong mit ebenfalls 2000 Kilometer Reichweite in Stellung bringen, und vom Irak vermutet man gar den Bau einer 3000 Kilometer reichenden Mittelstreckenrakete. Die Vereinigten Staaten liegen weit außerhalb des Wirkungsradius aller dieser Entwicklungen. Es wäre aber denkbar, dass diese drei Staaten es irgendwann zwischen 2010 und 2020 schaffen, die Reichweiten ihrer Trägersysteme noch deutlich zu steigern - und in diesem Fall soll NMD eine militärisch-technische Antwort geben.

Es gibt viele technische Zweifel an der Machbarkeit eines verlässlichen Raketenschutzschildes und fantasievolle Spekulationen darüber, mit welchen geringen Mitteln man diesen überlisten könnte. Aber selbst wenn alles fantastisch läuft, deckt der Schutzschild doch nur einen Bruchteil der Gefahren ab. Was ist mit Terrorbomben wie in Oklahoma, mit Anschlägen auf amerikanische Botschaften in der Dritten Welt wie in Nairobi und Daressalam, mit Explosionen wie auf der USS Cole in Aden und all den anderen Spielarten des Terrorismus, die Angehörige des unbesiegbaren Amerika auch heute schon zu Opfern machen? Selbst das perfekteste NMD kann solche Attacken nicht abwehren. Das ganze Gerede von der potenziellen "Unverwundbarkeit" ist ein riesengroßer Quatsch.
Was ist mit den politischen Risiken und Nebenwirkungen?

Wenn aber NMD selbst im günstigsten Fall kein umfassendes Immunsystem gegen künftige Gefahren sein kann, sondern eher ein Einzelmedikament gegen lokal begrenzt auftretende, potenzielle Krankheitserreger, dann sind die Fragen nach den politischen Risiken und Nebenwirkungen berechtigt. Die Europäer stellen sie an die neue amerikanische Administration.

Sie gehen dabei von ihren jüngsten Erfahrungen aus. In den letzten zehn Jahren haben in Europa vier blutige Kriege stattgefunden. Selbst mit einem fehlerfrei funktionierenden NMD hätte keiner davon verhindert werden können. Nach dem Schock des Kosovo-Krieges hat in Europa ein politisches Umdenken und ein Umschichten von Mitteln begonnen: Vom Stabilitätspakt für Südosteuropa bis zu den zivilen Institutionen der immer rascher Form annehmenden Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) konzentrieren sich die Anstrengungen mehr und mehr auf Konfliktprävention und vorausschauende Friedenspolitik. Nicht, weil sich hier eine neue Sicherheitsphilosophie durchsetzt, sondern schlicht, weil aus den verlustreichen Balkankriegen Lehren gezogen werden.

Die Europäer ziehen auch eine kritische Bilanz im bisherigen Umgang mit den rogue states. Was haben die routinemäßigen Bombenangriffe im Irak bisher gebracht außer einer immer wieder erneuerten Solidarisierung der leidenden Bevölkerung mit ihrem diktatorischen Peiniger? Festigen die internationalen Sanktionen gegen Bagdad nicht die Herrschaft des Saddam-Clans, der die Verteilungshoheit über knappe lebenswichtige Güter besitzt? Haben nicht die jüngsten Entwicklungen im Verhältnis von Nord- und Südkorea und innerhalb des Iran gezeigt, dass es durchaus politische Strategien des Westens für einen inneren Wandel in den Risikostaaten geben kann?

Es ist notwendig, über diese Fragen einen intensiven transatlantischen Dialog zu führen. Wer dieses Gespräch auf eine Ja/Nein-Entscheidung zu NMD, auf eine Wahl
zwischen Gefolgschaft oder Verweigerung reduzieren will, vergewaltigt die sicherheitspolitische Agenda und beleidigt Europa. Die Lektionen, die der Alte Kontinent gerade in den letzten zwei Jahren nach dem Kosovo-Krieg lernen musste, geben den Deutschen und Europäern nicht nur das Recht, sondern nehmen uns in die Pflicht, unseren politischen Handlungs- und Gestaltungsspielraum in einem breiten transatlantischen Dialog über die globalen Stabilitäts- und Sicherheitsstrategien des 21. Jahrhunderts aktiv wahrzunehmen.

Die Zeit, 8. März 2001