Der Dialog mit Amerika ist dringlich

Schröders Amtsbesuch in den USA: Auch in Amerika werden kritische Fragen zur Raketenabwehr gestellt - Gastkommentar

Bei der Begegnung des Bundeskanzlers mit Präsident Bush standen mehrere heikle Themen auf der Tagesordnung. Gerhard Schröders europäische Kollegen erwarteten von ihm vor allem, dass er den einseitigen Ausstieg aus der Klimaschutzpolitik anspreche. Wer befürchtet, dass die Administration versucht sein könnte, aus eigensüchtigen Gründen den Pfad multinationaler Verträge und Prozesse zu verlassen, findet bei diesem Thema eine Besorgnis erregende Bestätigung.

Bei der Raketenabwehr läuft es anders. Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld, ein überzeugter Mentor der Raketenabwehr, lassen keinen Zweifel an ihrem Willen, in das Projekt einzusteigen. Aber, das ist positiv, sie lassen sich auf einen Dialog über die Ausgestaltung ein. Sie werben professionell bei den Nato-Partnern für ihre Pläne und loten Verständigungsmöglichkeiten zumindest mit Moskau aus. Die Ernsthaftigkeit zeigt sich daran, dass Erkenntnisse aus diesem Dialog in das Programm einfließen. Wenn die Administration dabei sogar Verzögerungen in Kauf nimmt, hat das auch damit zu tun, dass auch in Amerika kritische Fragen gestellt werden. Als Symbol für Bushs Flexibilität kann man den Verzicht auf das "N" (für National) des Missile-Defense-Projekts werten. Die Abwehr wird - im Unterschied zu Clinton - stärker in Richtung Schutz Verbündeter, gefährdeter Regionen und US-Soldaten in Übersee verschoben.

Die Planungsoffenheit ermutigt den Dialog, den die Bundesregierung verfolgt. Es geht nicht in erster Linie darum, die Pläne in eine bestimmte strategische oder technische Ausrichtung zu lenken. Entscheidend ist es, die Vereinigten Staaten von einseitigen Entscheidungen abzuhalten, wie sie bei der Entwicklungshilfe und Klimapolitik leider bereits getroffen wurden. Unser Interesse an einem umfassenden Dialog über Sicherheitsstrategien des 21. Jahrhunderts geht weit über die Frage der Einzelbewertung von Missile Defense (MD) hinaus.

Zur Raketenabwehr ist noch keine der kritischen Fragen überzeugend beantwortet worden. Fragezeichen bleiben bei Machbarkeit und Kosten, der Vereinbarkeit mit Rüstungsbegrenzungsverträgen, der Wirkung auf Abrüstungs- und Nichtverbreitungsziele, bei den Folgen für das westliche Verhältnis zur Russischen Föderation und zu China.

Das MD-Konzept wirbt mit einer attraktiven Perspektive: Die Verbindung strategischer Raketenkräfte mit wirksamer Abwehr (salopp "neuer Mix") erlaubt es den USA, der russischen Seite Angebote zur umfassenden Reduzierung atomarer Waffen zu unterbreiten, die schon aus Kostengründen nicht ignoriert werden dürften. Der "Mix" mit seiner zahlenmäßigen Begrenzung der Abwehr würde die wechselseitige Verwundbarkeit aufrechterhalten und somit Moskaus nukleare Rolle nicht einschränken. Zugleich soll MD die Potenziale existierender oder möglicher Atommächte obsolet machen. Im Idealfall verzichten bestimmte Staaten deswegen auf ihre Pläne. Ginge das Kalkül auf, führt MD in eine Welt mit weniger Raketen und Massenvernichtungswaffen.

Leider gibt es schwer ausräumbare Zweifel daran. China zum Beispiel verfügt über 20 interkontinentale Trägersysteme - eine Zahl, die abzuwehren das MD-System unbedingt im Stande sein soll. In Peking befürchtet man, dass die USA eine solche Abwehr auch in Taiwan stationieren könnten. Im Schatten dessen könnte Taiwan die faktisch bestehende Loslösung von der Volksrepublik definitiv machen - eine Horrorvision für Peking. Welche Bedeutung diese Frage hat, zeigt der Widerstand Chinas gegen die Lieferung von Aegis-Zerstörern an Taiwan, deren Luftabwehrkapazität viel weniger wirksam ist.

Kann man erwarten, dass Peking sagt: Gut, wenn MD unsere 20 Raketen entwertet, verzichten wir eben auf unsere nukleare Rolle? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass Peking die Zahl der Systeme über das MD-Kapazitätslimit hinaus erhöht? Oder Programme auflegt, die zur Überwindung von MD-Schirmen befähigen? Würde China so reagieren, käme Ostasiens Balance ins Trudeln. Weder Japan noch Indien würden passiv zusehen können. Mit anderen Worten: Die Raketenabwehr kann genauso gut in eine Welt mit mehr Raketen und mehr Massenvernichtungswaffen führen.

Das zeigt, welche Bedeutung ein transatlantischer Dialog über die Raketenabwehr hat. Weder ein schlichtes Ja zu MD (wie es die Opposition fordert) noch ein kategorisches Nein hilft hier weiter. Es gibt keine sinnvolle Alternative zu dem vom Bundeskanzler und vom Außenminister eingeleiteten Dialog.

Eine selbstkritische Frage muss sich anschließen: Wo bleibt die europäische Position für die Sicherheitsarchitektur des neuen Jahrhunderts? Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben die EU-Mitglieder ein gemeinsames Konzept aufgegeben, bevor sie es zu formulieren versucht haben. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, seit Oktober 1999 bei institutionellen Fragen erfreulich vorangekommen, kann nicht ohne Schaden darauf verzichten. Europa muss sich der Aufgabe stellen, will es ernst genommen werden.

Gernot Erler ist Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.