Kosovo-Aufarbeitung: Weitere Lehren ziehen statt Tribunale veranstalten!
Antwort auf den Offenen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zum zweiten Jahrestag des Kosovo-Krieges, 4. April 2001
Sehr geehrter Herr Lutz!
Sehr geehrter Herr Mutz!
Wenn sich zwei namhafte Friedensforscher an den Deutschen Bundestag mit einem zwölf Seiten langen Brief wenden, dann verdient das eine Antwort in der Sache. Als für die Internationale Politik der SPD-Bundestagsfraktion zuständig, habe ich die Aufgabe der Erwiderung auf Ihr Schreiben übernommen. Die "Frankfurter Rundschau" bezeichnete die von Ihnen beiden gezogene Bilanz zum zweiten Jahrestag nach dem Beginn des Kosovo-Kriegs als "wenig schmeichelhaft für Politiker und Militärs". Das stellt, gelinde gesagt, eine Untertreibung dar, denn Sie erheben schwerste Vorwürfe gegen das deutsche Parlament, untere anderem den des mehrfachen, bisher nicht geahndeten Rechtsbruchs.
Ich möchte vorwegnehmen, dass ich Ihre massiven Vorwürfe zurückweisen muss. Sie beruhen in mehreren Fällen auf einseitiger und tendenziöser Fakteninterpretation. Stellenweise werden Ihre persönlichen Meinungen und Einschätzungen so dargeboten, als seien dies erwiesene Ergebnisse wissenschaftlicher Analyse oder zumindest Common sense der öffentlichen Meinung - auch da, wo Sie sich eher einreihen in eine seit Monaten laufende öffentliche Kampagne gegen die westlichen Kosovokriegs-Entscheidungen, eine Kampagne, die z. T. mit fragwürdigen Mitteln arbeitet. Ihre Vorgehensweise spiegelt sich dann auch in Ihren drei praktischen Vorschlägen und entwertet diese. Ich bedaure das, weil ich selber eine kritische Aufarbeitung der Vorgeschichte des Kosovo-Krieges ebenso für unabdingbar halte wie politische Versuche, die richtigen Lehren aus der schockierenden Erfahrung des Versagens von Prävention und Deeskalation zu ziehen - Aufgaben, denen ich in den letzten beiden Jahren einen erheblichen Anteil meiner Arbeitszeit gewidmet habe. Nach meiner Auffassung kann uns allerdings keiner der Pfade, die Sie weisen, dabei voranbringen, und das will ich begründen.
Erst Katastrophe, dann Luftangriffe
Keine Übereinstimmung besteht bereits bei der Frage, welche Ausgangssituation im Kosovo bestand, als am 24. März 1999 die Luftangriffe begannen. Sie lenken und reduzieren gleich zu Beginn Ihres Textes alle Aufmerksamkeit auf den "Vertreibungsprozess vom April 1999" und den "gegenläufigen Vertreibungsterror vom Juni 1999" seitens der Kosovo-Albaner gegen Serben und andere Minderheiten, also auf Ereignisse nach Beginn der Luftangriffe, um festzustellen: "Beide Vertreibungswellen waren Begleit- bzw. Folgeergebnisse des Luftangriffes gegen Jugoslawien." Später behaupten Sie, die "Version der planvollen Vertreibungen, der ethnischen Säuberungen, der humanitären Katastrophe" als Hintergrund des Krieges werde immer "brüchiger".
Damit begeben Sie sich in unmittelbare Nähe jenes Argumentationselements der o.g. Kampagne, die behauptet, zu Kriegsbeginn im März 1999 habe es noch keine massive Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo gegeben und folglich auch noch keine humanitäre Katastrophe, auf die man reagieren musste - sondern das alles sei erst durch die Luftangriffe der NATO ausgelöst worden und eigentlich seien die Albaner vor den NATO-Bomben geflohen. Das ist allerdings eine zentrale Frage, denn die wichtigste politische wie rechtliche Begründung der Luftangriffe besteht ja darin, dass sie eine massive Vertreibung, die bereits eine humanitäre Katastrophe und eine Kriegsgefahr für die ganze Region ausgelöst hatte, stoppen sollten.
Mich überrascht nicht, dass Sie an diesem Punkt kritisch gegenüber den Analysen der westlichen Staaten sind - es könnten ja Rechtfertigungsversuche sein. Aber weshalb ignorieren Sie als Friedensforscher die wohl kaum verdächtigen Berichte der Vereinten Nationen und der OSZE zu diesem Thema, wo Sie doch an Ihrem Hamburger Institut sogar ein Zentrum für OSZE-Forschung unterhalten? Aus dem umfangreichen OSZE-Bericht zu Menschenrechtsverletzungen im Kosovo (OSCE: Kosovo/Kosova As Seen, As Told. The Human rights findings of the OSCE Kosovo Verification Mission) erfahren wir, dass es schon Ende 1998 350.000 albanische Binnenflüchtlinge gab und auf welche Weise die serbischen Polizisten, Militärs und Paramilitärs deren Vertreibung organisiert hatten. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen drückte in seiner Resolution 1199 bereits am 23. September 1998 seine tiefe Sorge "über die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe" aus und stellte fest, dass die Verschlechterung der Situation im Kosovo "eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region darstellt." Die realexistierende Flüchtlingskatastrophe, die noch größer zu werden drohte, und die Kriegsgefahr für die ganze Region, die der Sicherheitsrat konstatierte, das war exakt der Hintergrund für das militärische Ultimatum der NATO an Milosevic vom Oktober 1998 und für den konstitutiven Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober 1998, sich - für den Fall, dass alle politischen Bemühungen zur Abwendung der Krise scheiterten - an den "zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt geplanten" Luftoperationen der NATO zu beteiligen.
Der Begriff "humanitäre Katastrophe" als Beschreibung der Lage im Kosovo, sogar verbunden mit einer unmittelbaren Bedrohung des Friedens in der ganzen Region, stammt also nachweislich nicht aus der Öffentlichkeitsarbeit der NATO, sondern aus einem UN-Beschluss. Bis es dann tatsächlich im März 1999 zu den Luftangriffen der NATO kam, hatte sich die Lage im Kosovo noch dramatisch zugespitzt. Nach Angaben von UNHCR gab es am 24. März, dem Tag des Kriegsbeginns, 443.000 Kosovo-Flüchtlinge - davon 250.000 Binnenflüchtlinge im Kosovo, über 90.000 in den Nachbarstaaten und 100.000 in Westeuropa. Allein seit Aufnahme der Rambouillet-Verhandlungen am 6. März 1999 war die Flüchtlingszahl um 80.000 gestiegen, womit zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als jeder fünfte Kosovo-Albaner Opfer der serbischen Vertreibungspolitik geworden war. Diese Fakten lassen sich mit Ihrer Behauptung, es sei der Bomben- und Raketenkrieg der NATO gewesen, der die "humanitäre Katastrophe erst auslöste, die er verhindern sollte", in keiner Weise in Übereinstimmung bringen.
Wer, wie Sie es tun, obendrein behauptet, die "Version der planvollen Vertreibungen" werde neuerdings brüchig (wofür Sie keinen einzigen Beleg liefern), kann sich ebenfalls nicht auf die großen Berichte unabhängiger und internationaler Institutionen berufen. So enthält zum Beispiel der Bericht der "Independent International Commission on Kosovo", der im Oktober 2000 dem UN-Generalsekretär vorgelegt wurde, in seiner Zusammenfassung die Feststellung: "Aus dem Gesamtbild der logistischen Vorkehrungen für Deportationen und die Koordinierung der Maßnahmen durch die Streitkräfte, paramilitärischer Gruppierungen und Polizei Jugoslawiens ist ersichtlich, dass diese umfangreiche Vertreibung von Kosovo-Albanern systematisch und vorsätzlich organisiert worden ist." Zum selben Ergebnis kommt der schon erwähnte OSZE-Bericht, der gerade in der rasch wachsenden Zahl grenzüberschreitender Flüchtlinge nach dem 24. März 1999 Hinweise auf "pre-planning of the operations" sieht.
Die OSZE-Berichterstatter äußern sogar Zweifel, ob die NATO-Luftangriffe wirklich die Massenvertreibung beschleunigt haben. Sie schreiben in Kap. 14 des zitierten Reports: "Es ist möglich, dass weitergehende Vertreibungen geplant waren, dass aber die Bombardierungskampagne der NATO dazu gezwungen hat, Pläne zu revidieren oder zu stoppen." Man muss dieser letzten Überlegung nicht folgen, um trotzdem festzustellen, wie himmelweit Ihre Zweifel an geplanter und planmäßiger Vertreibung der Albaner im Kosovo, an ethnischen Säuberungen und an der Existenz einer humanitären Katastrophe vor Ort von den Ergebnissen internationaler Untersuchungen entfernt sind. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass Friedensforscher gerade Respekt vor Dokumenten der Vereinten Nationen und der OSZE haben und entsprechend mit Untersuchungsergebnissen arbeiten, die aus solchen angesehenen internationalen Institutionen kommen. Sie tun es nicht, bleiben uns aber auch jeden Hinweis darauf schuldig, aus welchen Quellen, die einen höheren Anspruch auf Seriosität, Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit als die genannten beanspruchen können, Sie eigentlich Ihre gegenläufigen Analysen und Schlussfolgerungen speisen.
Fakten zur Täter-Opfer-Relation
Ebensolche Vorhaltungen sind angebracht, wenn man sich anschaut, wie Sie den massiven Vorwurf begründen, in Deutschland habe es "gezielte Manipulationen" der eigenen Bevölkerung und der Öffentlichkeit gegeben. Sie glauben, hier auf jeden Nachweis im einzelnen verzichten zu können, und halten die Aufzählung der Stichworte "Massaker von Rugovo", "Massaker von Raczak", "KZ von Pristina" oder "Hufeisenplan" bereits für ausreichend. Es stimmt zwar, dass sich in letzter Zeit ein Enthüllungsjournalismus, der nicht auf Wahrheitsermittlung, sondern auf reißerische Effekte abzielt, mehrfach zu diesen Stichworten gemeldet hat. Mit dem WDR-Film "Es begann mit einer Lüge" haben sich die beiden Journalisten Jo Angerer und Mathias Werth jüngstens an die Spitze dieser Kampagne gestellt und dabei in der Tat eine "Nachfrage vieler bestürzter Bürger und Bürgerinnen" ausgelöst - aber eine ganz andere, als Sie unterstellen, nämlich danach, was solche Produkte eines "Bulldozer-Journalismus" in Sendungen der ARD zu suchen haben. Matthias Rüb, ein mehrfach ausgezeichneter Journalist mit langer Balkan-Erfahrung, hat in der FAZ vom 1. März 2001 unter diesem Titel eine kenntnis- und faktenreiche Erwiderung auf "Es begann mit einer Lüge" vorgelegt, und andere gewichtige Stimmen werfen dem WDR-Beitrag sogar seinerseits manipulative Methoden vor.
Sie berufen sich bei Ihrem Manipulationsvorwurf mit suggestiven Begriffen auf einen angeblich "mittlerweile weitverbreiteten Eindruck" in der deutschen Öffentlichkeit, ohne auch nur mit einem Wort auf die fachliche und sachliche Kritik an denen einzugehen, die diesen Eindruck wieder und wieder zu erwecken suchen. Wer auf diese Weise bei schwersten Anschuldigungen auf eine angeblich bestehende öffentliche Meinung rekurriert, die in Wirklichkeit so nicht besteht und sich viel differenzierter darstellt, ohne auch nur in einem einzigen Fall einen Nachweis für den Manipulationsvorwurf vorzulegen, kann für sich schwerlich die Autorität eines Wissenschaftlers und Friedensforschers in Anspruch nehmen.
Es wird aus Ihren Ausführungen auch nicht klar, worauf die angeblichen Manipulationen eigentlich gezielt haben sollen. Sie deuten an, dass die westlichen Regierungen den Eindruck erwecken wollten, im Kosovo hätten bis März 1999 nur skrupellose Täter wehrlosen Opfern gegenübergestanden. Diese Behauptung lässt sich leicht widerlegen. Tatsachlich haben die westlichen Staaten seit dem Herbst 1998 bei allen diplomatischen und vertraglichen Versuchen zur Krisenlösung im Kosovo die albanische Seite in entsprechende Verpflichtungen mit einbezogen und darüber die Öffentlichkeit auch regelmäßig unterrichtet.
Auch der OSZE-Bericht "Kosovo/Kosova As Seen, As Told" hat ausdrücklich Rechtsverletzungen beider Parteien untersucht, betont in der Zusammenfassung aber, "dass aus der Analyse klar zu folgern ist, dass keineswegs eine Art Gleichgewicht oder Äquivalenz nach Art und Umfang der Menschenrechtsverletzungen beider Seiten vorlag. Im Kosovo wurde während des Beobachtungszeitraumes der OSCE Kosovo Verification Mission in aller erster Linie den Kosovo-Albanern Leid zugefügt, und zwar durch den staatlichen jugoslawischen und serbischen Militär- und Sicherheitsapparat." Wer sich also weigert, das Unrecht und Leiden der Albaner mit dem Unrecht und Leiden der Serben auf eine Stufe zu stellen, der manipuliert nicht, sondern hat die unabhängigen Beobachter auf seiner Seite.
Fast grotesk wird es, wenn Sie die NATO auffordern, sich doch jetzt bei Übergriffen der Kosovo-Albaner schützend vor die Serben zu stellen, und wenn Sie dabei - wenn auch gekleidet in eine "Befürchtung" - dem westlichen Bündnis vorwerfen, sich "sehenden Auges zum Instrument" der UCK gemacht zu haben, "zumindest aber machen lassen". Das tägliche Brot der KFOR ist es, die Minderheiten im Kosovo mit der Waffe in der Hand zu schützen, zur Zeit werden immer wieder bewaffnete albanische Freischärler an den Grenzen festgenommen und NATO-Generalsekretär Robertson wie Javier Solana als Hoher Repräsentant und Generalsekretär der EU-Außen- und Sicherheitspolitik haben in den letzten Wochen mehrfach der mazedonischen Regierung zugesagt, sie bei ihrem Kampf gegen die in Westmazedonien operierenden UCK-Einheiten zu unterstützen. Es tut mir leid, aber mit Ihrer Aufforderung an die NATO, genau das zu tun, was sie täglich tut, und mit ihrem Bild der NATO als Spielball der UCK zeigen Sie so wenig Kenntnis des Geschehens vor Ort, dass Ihre Ausführungen in diesem Abschnitt nicht ernst genommen werden können.
Die Singularität des Kosovo-Krieges
Auch bei zwei weiteren Behauptungen in Ihrem "Manipulations"-Abschnitt muss es jedem Leser schwerfallen, Ihnen zu folgen. Sie bezeichnen den Kosovo-Krieg als einen "Koalitionskrieg traditionellen Musters" nach dem Motto "Dem Sieger fällt zu, was der Verlierer abtritt". Als gelernter Historiker bin ich versucht, Sie darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung "Koalitionskriege" normalerweise auf die vier Kriege wechselnder Koalitionen europäischer Staaten gegen das revolutionäre, später napoleonische Frankreich 1792 bis 1807 angewandt wird - die europäischen Mächte wollten damals die Monarchie retten und sich gegen ein ihr Herrschaftssystem bedrohendes Überspringen des revolutionären Funkens aus Frankreich schützen. Meine Phantasie reicht nicht aus, eine Parallele zwischen diesen Koalitionskriegen und dem Kosovo-Krieg zu entdecken. Aber was soll dann, bezogen auf den Kosovo-Krieg, Ihre nachgeschobene Definition "Dem Sieger fällt zu, was der Verlierer abtritt"? Die Albaner können nicht gemeint sein, denn denen ist nichts zugefallen. Lediglich erhielten sie nach dem Krieg das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren. Dem Sieger - und das kann dann nur die NATO sein - ist der Kosovo auch nicht zugefallen, höchstens die äußerst kostspielige Aufgabe, dort auf nicht absehbare Zeit ein Leben ohne blutige Zusammenstöße organisieren zu müssen. Die "Begeisterung" darüber konnte man im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf beobachten, als George W. Bush für seine Ankündigung Beifall bekam, die amerikanische Truppen vom Balkan möglichst bald zurückholen zu wollen. In Ihrem Verständnis von Koalitionskrieg wären die Verlierer die Serben, die etwas abtreten müssen - mussten sie aber nicht: Die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates vom 12. Juni 1999 bestätigt ausdrücklich die völkerrechtliche Zugehörigkeit des Kosovo zur Bundesrepublik Jugoslawien bis zu einer endgültigen Statusfestlegung, die noch völlig offen ist.
Man fragt sich wirklich, was eine solche Fehleinordnung des Kosovo-Krieges soll, deren Unstimmigkeit jedem durchschnittlich informierten Zeitungsleser auffallen muss! Ich fürchte, die Antwort lautet: Weil Sie dem Kosovo-Krieg um jeden Preis seine äußerst problematische Singularität absprechen wollen. Im Frühjahr 1999 gab es keine Alternative mehr zu dem Beginn der Luftangriffe, nachdem sich im Laufe des Jahres 1998 im Kosovo eine humanitäre Katastrophe entwickelt hatte mit fast einer halben Million Flüchtlinge und Vertriebenen, nachdem alle Versuche, das Milosevic-Regime als Hauptverursacher dieser Katastrophe mit Verhandlungen und Diplomatie zum Einlenken zu bewegen, gescheitert waren, nachdem aber auf diese Weise die westliche Staatenwelt eindeutig und für jedermann sichtbar eine politische Verantwortung in diesem Konflikt übernommen hatte und nachdem das Wahrmachen einer schon früh ausgesprochenen militärischen Drohung, die leider nur vorübergehend gewirkt hatte, als definitiv letztes Mittel erschien, um eine noch größere humanitäre Katastrophe zu verhindern.
Ich behaupte, dass diese Kurzbeschreibung den Kern des Geschehens besser trifft als Ihre Koalitionskriegs-These. Trotzdem bleiben aber - gerade auch aus friedenspolitischer Sicht - nicht weniger Fragen offen. Einige davon will ich nennen: Welche Versäumnisse haben dazu geführt, dass die Eskalation des Jahres 1998 im Kosovo trotz der Erfahrungen von drei blutigen Kriegen auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien, auf eine schlecht vorbereitete Staatenwelt traf - oder anders ausgedrückt, warum hat bei diesem Konflikt die langfristige Prävention erneut versagt? Welches waren die Mechanismen vom Herbst 1998 bis zum Frühjahr 1999, die sukzessive die Handlungsoptionen immer weiter reduzierten, bis am Ende offenbar alternativlos die gewaltsame Intervention stand? Warum konnte die Entwicklung zum Krieg weder durch die Einschaltung der Vereinten Nationen noch durch die Hilfe der OSZE aufgehalten werden?
Für uns Parlamentarier sind diese Fragen nach den Alternativen die entscheidenden, denn nur wenn wir überzeugende Antworten auf diese Fragen erhalten, haben wir die Chance, künftig bessere Wege zu gehen. Sucht man in Ihrem "Offenen Brief" nach solchen Antworten, wird man leider einmal mehr enttäuscht. Als Gegenmodell zum Ablauf des Kosovo-Konflikts bieten Sie lediglich Dayton an, jenen amerikanischen Ortsnamen, der für die Beendigung des Bosnien-Krieges steht.
Und wieder ist dies eine Einschätzung, die ich nicht nachvollziehen kann. Bevor in Dayton verhandelt wurde, hatte der Bosnien-Krieg schon mehr als 200.000 Opfer gekostet - weit mehr als der Kosovo-Krieg. Die Blauhelme der Vereinten Nationen waren nicht in der Lage, das Blutvergießen zu verhindern. Trotzdem griff niemand ein. Das geschah erst, als die Blauhelme selber als Geisel genommen wurden und zu Opfern zu werden drohten. Darauf antwortete die NATO mit massiven Luftschlägen und einer Schnellen Eingreiftruppe. Srebrenica passierte trotzdem, unbegreiflicherweise unter den Augen der westlichen Beschützer. Wenn es erst zu solchen Opfern und Zerstörungen kommen musste, bis man Milosevic endlich an den Verhandlungstisch gebombt hatte - wo soll da das bessere Modell gegenüber dem Kosovo-Krieg sein? Und stimmt es nicht, dass es sogar eine Verbindungslinie von Dayton zu Rambouillet gibt, insofern nämlich Milosevic per Ultimatum die Ausklammerung des Themas Kosovo aus den Dayton-Verhandlungen erzwang, der Westen aber unerklärlicherweise die Kosovo-Problematik jahrelang schmoren ließ, bis 1998 aus dem Schwelbrand lichterlohes Feuer wurde? Es gibt sogar die These, dass die bedrückende Erinnerung an die verspätete Intervention im Bosnien-Krieg die Entscheidungsabläufe, die zum Kosovo-Krieg führten, beeinflusst hat. So fruchtbare Ergebnisse Dayton im einzelnen gebracht hat, so lassen sich doch diese Verhandlungen nicht von seiner blutigen Vorgeschichte und nicht von den Versäumnissen danach trennen. Als friedenspolitische Alternative zu den Kosovo-Abläufen (dort wurde am Ende auch erfolgreich verhandelt) taugt Dayton nicht.
Im Ergebnis bleiben Ihre Manipulations-Vorwürfe im Konfusen: Es wird nicht klar, welcher Akteur zu welchem Zweck manipuliert haben soll, welche Interessen er damit verfolgt hat und von welchem "Königsweg" die Manipulation eigentlich weggeführt haben soll. Von einiger Bedeutung wäre ja der Manipulationsverdacht nur, wenn er sich auf die Zeit vor dem konstitutiven Beschluss des Deutschen Bundestages bezöge, also die Zeit vor dem 16. Oktober 1998. Das wäre tatsächlich gravierend, wenn die Abgeordneten ihr Ja in einer deutschen Beteiligung an den NATO-Operationen auf der Basis eines erfundenen oder gefälschten Datengerüstes getroffen hätten. Aber zu mutmaßlichen Manipulationen vor dem 16. Oktober 1998 vermögen Sie kein einziges Stichwort, geschweige denn einen beweiskräftigen Beleg zu liefern - Rugovo, Raczak, Pristina-KZ und Hufeisenplan sind allesamt, freilich von Ihnen ebenfalls nicht ausgeführte, Stichworte aus dem Jahr 1999.
Glauben Sie ernsthaft, dass Sie erst selber ein wildes Puzzle von Manipulations-Vorwürfen auf den Tisch legen können, um dann die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aufzufordern, doch mal eine öffentliche Anhörung zu machen, um zu sehen, was an diesen Vorwürfen dran ist - vielleicht am einfachsten (im Sinne eines argumentativen Kreisverkehrs) mit Ihnen als Gutachter? Glauben Sie wirklich, dass Bundestagsabgeordnete sich auf ein solches "Wiederleg mich doch"-Spiel einlassen würden, um - eine fast schon drollige Vorstellung - auf diesem Umweg zu den in der Tat notwendigen Lehren aus dem Kosovo-Krieg zu gelangen?
Dreifacher Rechtsbruch oder Verleumdung
Bei der Frage der Rechtmäßigkeit des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung an den NATO-Einsätzen werfen Sie der Bundesrepublik gleich "dreifachen Rechtsbruch: den Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts" vor. Wer nun erwartet, dass Sie einen argumentativen Nachweis führen würden für eine solche massive Beschuldigung, die letztlich die große Mehrheit aller Bundestagsabgeordneten kriminalisiert, sofern diese der Regierungsvorlage vom 16. Oktober 1998 zugestimmt haben, sieht sich stattdessen einer merkwürdigen Methode Ihrerseits ausgesetzt. Sie stellen ein paar Fragen: "Darf sich eine Staatenkoalition, wie im Kosovo-Krieg geschehen, überhaupt über geltendes Völkerrecht hinwegsetzen? Darf der Westen seinen eigenen politischen Wertekanon verleugnen? Darf die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verfassung zuwiderhandeln? Begründen eklatante Menschenrechtsverletzungen eine Art außergesetzlichen Notstand?"
Vier Fragen - vier Unterstellungen. Sie platzieren Ihre unerhörten Rechtsbruchvorwürfe einfach als bekannt und anerkannt vorausgesetzt in Fragen nach der Zulässigkeit solcher Normverstöße und suggerieren damit, dass die Tatsache dieser Normverstöße gar nicht mehr zur Debatte steht, höchstens noch ihre Zulässigkeit. Ein feiner, wenn auch durchschaubarer Trick, mir bisher bei Wissenschaftlern nicht geläufig.
Würden Sie ohne Tricks arbeiten, müssten Sie zugeben, dass es rechtskundliche Lehrmeinungen gibt, die Ihre Vorwürfe stützen, aber eben auch andere, die der Argumentation der Bundesregierung folgen. Völkerrechtlich kann die deutsche Bundesregierung darauf verweisen, dass die Bundesrepublik Jugoslawien fortgesetzt menschenrechtliche Mindestvorschriften missachtet und den wiederholten Aufforderungen der Vereinten Nationen nicht gefolgt ist, wobei bereits die Sicherheitsratsresolution 1199 vom 23. September 1998 die Gefahren einer humanitären Katastrophe und eine ernstzunehmende Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der ganzen Region beschworen hatte. Nachdem die internationale Staatengemeinschaft alles versucht hatte, um die festgestellten Gefahren abzuwehren, blieb als ultima ratio nur die militärische Intervention (interessant: auch bei Ihnen steht der Satz "Krieg ist die Ultima Ratio"!). Und da diese im Rahmen der NATO erfolgte, und die NATO nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Absatz 2 des Grundgesetzes darstellt, war die Beteiligung an den NATO-Operationen auch kein Verstoß gegen das Grundgesetz.
Sie haben das gute Recht, dieser Argumentation zu widersprechen. Wer in einem Rechtsstaat auf vermeintliche Rechtsbrüche stößt, hat das Recht, von den zuständigen Institutionen seine Beschuldigungen überprüfen zu lassen. Wegen der geltenden Unschuldsvermutung darf man jemand anderen erst nach dessen rechtsgültiger Verurteilung als Rechtsbrecher bezeichnen. Wer dies vorher tut, den nennt man in unserem Rechtssystem einen Verleumder. Insoweit bewegen Sie sich mit Ihren Rechtsbruch-Beschuldigungen an die Bundesregierung und an die Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich auf schwankendem Boden.
Tatsächlich hat es auf allen Ebenen Versuche gegeben, die Unrechtmäßigkeit des Kosovo-Krieges und einer Beteiligung an ihm gerichtlich feststellen zu lassen. Bisher hat dies in keinem Fall zu einem Erfolg geführt. So hat die PDS-Fraktion auf dem Wege eines Organstreitverfahrens versucht, eine Bestätigung für einen Grundgesetzverstoß seitens der Bundesregierung zu erwirken. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat mit Beschluss vom 25. März 1999 diesen Antrag als unzulässig verworfen. Eine Entscheidung in der Sache erfolgte nicht - in der Begründung stellte das Bundesverfassungsgericht allerdings klar, dass das Grundgesetz den Bund ermächtigt, sich einem System kollektiver Selbstverteidigung wie der NATO anzuschließen und "sich mit eigenen Streitkräften an Einsätzen zu beteiligen, die im Rahmen solcher Systeme vorgesehen sind und nach ihren Regeln stattfinden". Weiter bestätigt das Bundesverfassungsgericht, dass die notwendige Zustimmung des Bundestages im vollen Bewusstsein dessen, dass eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat nicht zu erwarten ist, erfolgt ist, und stellt dann fest: "Der Beschluss vom 16. Oktober 1998 deckt damit die gegenwärtigen Luftangriffen der NATO". Es wird schwer sein, jemanden zu finden, der in diesen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichtes Fingerzeige dafür zu erkennen vermag, dass die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellt.
Auf der internationalen Ebene zeichnet sich bisher auch keine Verurteilung der NATO oder einer Kosovokriegsbeteiligung ab. Frau del Ponte, die Chefanklägerin des "International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia" (ICTY), erklärte am 2. Juni 2000 vor dem UN-Sicherheitsrat, das Tribunal werde keine Ermittlungen gegen die NATO aufnehmen. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hatte Jugoslawien bereits am 29. April 1999 Klage gegen 10 NATO-Staaten erhoben. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Auf Antrag Belgrads hat der Haager Gerichtshof am 21. Februar 2001 die Frist zur Vorlage von Beweisen zunächst um ein Jahr bis zum 5. April 2002 verlängert, so dass vorerst kein Abschluss des Verfahrens zu erwarten ist.
Die Tatsache, dass Urteile zu möglichen Rechtsbrüchen im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg bisher nicht ergangen sind und aus heutiger Sicht kurzfristig auch nicht erwartet werden können, ändert natürlich nichts daran, dass bei der Bewertung insbesondere der völkerrechtlichen Situation sehr unterschiedliche Auffassungen bestehen und dass eine Fortentwicklung völkerrechtlicher Normen im Rahmen einer internationalen Diskussion notwendig und wünschenswert erscheint.
Sehr früh schon hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan das Dilemma der widerstreitenden völkerrechtlichen Grundprinzipien erkannt und angesprochen. Er legte den Widerspruch bloß zwischen dem klassischen staatlichen Souveränitätsrecht, das eine Nichteinmischung von außen postuliert, und dem Hilfsgebot bei der Verweigerung von Menschenrechten, dem man im Extremfall nur durch eine bewaffnete Intervention genügen kann. Noch während des Kosovo-Krieges bekundete der Generalsekretär seine Sympathie für eine Prioritätensetzung bei den Menschenrechten. So prophezeite er vor der Menschenrechtskommission am 7. April 1999 in Genf: "Langsam, aber sicher bildet sich eine internationale Norm gegen gewaltsame Unterdrückung von Minderheiten heraus, die Vorrang vor Souveränitätsfragen erhalten wird und muss." Vor der UN-Vollversammlung hat der Generalsekretär dann am 20. September 1999 eine Rede gehalten, in der er diesen Gedanken noch einmal vertiefend aufnahm und die eigentlich als Anstoß für eine umfassende Völkerrechtsdebatte verstanden werden muss. Kofi Annan sagte damals, drei Monate nach dem Endes des Kosovo-Krieges: "Der Konflikt im Kosovo hat uns das Dilemma der humanitären Intervention deutlich gemacht: auf der einen Seite die Frage nach der Legitimität des Einsatzes einer regionalen Organisation ohne ein Mandat der Vereinten Nationen, auf der anderen Seite die allgemein anerkannte Notwendigkeit, massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen mit schwerwiegenden humanitären Folgen Einhalt zu gebieten. Das Unvermögen der internationalen Gemeinschaft im Fall des Kosovo, diese zwei gleichermaßen zwingenden Interessen - universelle Legitimität und Effektivität bei der Verteidigung der Menschenrechte - miteinander in Übereinstimmung zu bringen, kann nur als Tragödie betrachtet werden. Es hat uns die zentrale Herausforderung an den Sicherheitsrat und an die Vereinten Nationen als ganzes für das nächste Jahrhundert aufgezeigt: Einigkeit über den Grundsatz herzustellen, dass massive und systematische Menschenrechtsverletzungen nicht ungeahndet bleiben dürfen, gleich wo sie stattfinden".
Ich war schon damals, 1999, von diesem Plädoyer des UN-Generalsekretärs beeindruckt und glaube, dass der problemorientierte Ansatz und die Aufgabenstellung, die beiden divergierenden Prinzipien der völkerrechtlichen Legitimität und des tatsächlich wirksamen Menschenschutzes in Einklang zu bringen, viel weiter trägt, als wenn man - wie Sie es leider tun - die Diskussion mit einem apodiktischen Schuldvorwurf beginnt. Wir brauchen keine zusätzlichen Tribunale, die mit selbsternannten Richtern arbeiten - das wäre ein Salto rückwärts aus unserem Rechtsstaat, der sein Eintreten für die Stärke des Rechts auf unabhängige und professionelle Institutionen stützt. Richtig aber ist, dass auch zwei Jahre nach dem Kosovo-Krieg das von Kofi Annan sehr präzise beschriebene Dilemma des internationalen Rechts noch immer auf durchführbare Lösungsansätze wartet. Den internationalen Diskurs zu diesen Aufgaben, den es in Ansätzen ja gibt, zu verstärken und ihm die Schnittstellen zur politischen Entscheidungsebene zu verschaffen, wäre ein lohnender Auftrag für eine global vernetzte Friedensforschung, der auch die Unterstützung der Parlamentarier verdiente.
Kosovo-Erfahrung und Bundeswehrreform
Auch im dritten Teil Ihres "Offenen Briefes" setzen Sie die Serie schwerster Vorwürfe gegen den deutschen Bundestag fort: Demnach hat er nicht nur seine Kontrollfunktion vor und während des Kosovo-Krieges vernachlässigt, "Demokratieversagen" sowie Fehlentscheidungen in der Sache zu verantworten, sondern er hat es auch versäumt, die Kosovo-Erfahrung aufzuarbeiten und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Insgesamt sei es nach dem Kosovo-Krieg zu einer Lähmung der Diskussions- und Streitkultur in Deutschland gekommen.
Es tut mir leid, Ihnen auch in dieser Frage den Vorwurf unzureichender Recherche nicht ersparen zu können. Der Deutsche Bundestag hat sich während des Kosovo-Krieges und in der Zeit danach mit keinem anderen Thema so intensiv beschäftigt wie mit der Aufarbeitung des Krieges und seinen Folgen. Allein im ersten Jahr nach dem Krieg gab es neun Bundestagsdebatten, davon vier mit Regierungserklärungen, alles nachzulesen in den Protokollen des Deutschen Bundestages. Die parlamentarische Rolle des Themas lässt sich auch daran ablesen, dass im selben Zeitraum elf Anträge bzw. Entschließungsanträge gestellt und beraten wurden und seit den Kriegsmonaten bis heute allein sechzehn Kleine Anfragen und eine Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt und beantwortet wurden.
Sie konzentrieren sich bei Ihrer Kritik an der politischen Nacharbeit des Kosovokrieges sehr stark auf den militärischen Bereich. Ihr Kernvorwurf lautet, dass es auch im Zuge der Bundeswehrreform keine "realitätskonforme Bedarfsanalyse" gegeben habe, die den Umfang, die Ausrüstung und den Finanzrahmen der Bundeswehr ihrer Aufgaben bei der Landes- und Bündnisverteidigung sowie bei der Durchführung von Friedensmissionen entsprechend ausgerichtet habe.
Dieser Vorwurf ist falsch und anhand von Fakten und Dokumenten leicht zu widerlegen. Bereits im November 1998, also unmittelbar nach dem Regierungswechsel, hat die neue rot-grüne Bundesregierung eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Bundeswehr veranlasst. Diese Bestandsaufnahme wurde im Frühjahr 1999 abgeschlossen und ist vom Bundesverteidigungsministerium in der Publikation "Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" im Mai 1999 in einer 170 Seiten umfassenden Dokumentation veröffentlicht worden. In ihr sind sowohl die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen Deutschlands als auch die spezifischen Aufgaben der Bundeswehr ausführlich dargelegt.
Im Frühjahr 1999 begann die Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" unter der Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit ihrer Arbeit. Sie legte ihren Bericht im Mai 2000 vor. Diese Kommission hatte sich der Aufgabe zu stellen, Risiken und Interessen deutscher und europäischer Sicherheitspolitik zu analysieren und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen und Anforderungen an die Bundeswehr zu ziehen. Der Abschlußbericht stellt eine wesentliche Grundlage der eingeleiteten Bundeswehrreform dar.
Nahezu zeitgleich hat Bundesverteidigungsminister Scharping Anfang Juni 2000 ein sogenanntes "Eckpfeilerpapier zur konzeptionellen und planerischen Neuausrichtung der Bundeswehr" vorgelegt, das vom Bundeskabinett am 14. Juni 2000 gebilligt wurde. In ihm ist festgehalten, dass eine zeitgemäße Sicherheitspolitik politische, ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Entwicklungen einschließt und sich weder vorrangig noch ausschließlich militärischer Mittel und Maßnahmen bedient, sondern kooperativ und konsequent auf Vertrauensbildung, Gewaltverzicht, Rüstungskontrolle und Abrüstung orientiert ist.
Der Vorwurf, es mangele an einer realitätskonformen Bedarfsanalyse und eine Diskussion hierüber stehe noch aus, ist insofern absurd und lässt sich nur als hartnäckige Ignoranz gegenüber der gesamten, auch öffentlich geführten Debatte über die Neuausrichtung der Bundeswehr begreifen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 6. Juni 2000 ein eigenes Positionspapier verabschiedet, das die Ergebnisse der genannten Berichte und Empfehlungen zur Grundlage genommen hat. Der Bundestag hat mehrfach, u.a. am 9. Februar und zuletzt am 15. März 2001 sowohl über die Zukunft der Bundeswehr als auch über die Rolle Deutschlands in einem veränderten Sicherheitsumfeld debattiert. Dabei ging es nicht nur - wie Sie fast abfällig bemerken - um die Rolle von Frauen in Kampfeinheiten und die Schließung von Bundeswehrstandorten, sondern um das grundlegende außen- und sicherheitspolitische Verständnis der Bundesrepublik Deutschland.
Die in diesem umfassenden Diskussionsprozess bestätigten Erkenntnisse, dass Flexibilität, Mobilität, Interoperabilität sowie Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte sowohl bei der Landes- und Bündnisverteidigung wie bei möglichen Friedenseinsätzen unverzichtbare Elemente sind, sind unumstritten. Ebenso unbestreitbar ist, dass es im europäischen Rahmen an strategischer Transport- und Aufklärungskapazität fehlt. Mit den Beschlüssen von Köln, Helsinki, Feira und Nizza hat die EU unter Beweis gestellt, dass sie dieses Defizit nicht nur erkannt hat, sondern bereit ist, die autonomen Handlungskapazitäten der EU auf dem Gebiet der Krisenprävention und Konfliktbewältigung zu stärken. Ihre Unterstellung, die Europäische Union lasse sich von der europäischen Rüstungslobby den Bedarf an diesen Fähigkeiten "aufreden", ist daher völlig deplaziert.
"Lessons Learnt" und offener Diskurs
Noch wichtiger erscheint mir allerdings, ein wenig auf das Thema "politische und friedenspolitische Lehren aus dem Kosovo-Krieg" einzugehen, das Sie erstaunlicherweise in Ihrem Schreiben vollständig ausblenden. Folgende drei Punkte sind hier besonders hervorzuheben:
1. Noch während des Kosovo-Krieges war es eine Initiative von Außenminister Joschka Fischer, den "Stabilitätspakt für Südosteuropa" anzuregen. Aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion kommt dem Stabilitätspakt-Projekt eine besondere Bedeutung im Sinne politischer Konfliktprävention zu. Hier werden anhand konkreter, von westlichen Geldgebern finanzierter Projekte die Vorteile einer grenzüberschreitenden Kooperation erfahrbar gemacht - und das in einer Region, in der bisher die kleinräumige Selbstabgrenzung und die Exklusion des (ethnisch anderen) Nachbarn zur konfliktfördernden Tradition gehört. Die SPD-Fraktion hat zur Unterstützung und Begleitung des Stabilitätspakts eine eigene "Task Force" aus 20 Abgeordneten mit Leitungsfunktionen in verschiedenen Arbeitsgruppen und Ausschüssen gebildet, die unter anderem die parlamentarische Dimension des Stabilitätspakts über eine internationale Konferenzserie auf den Weg gebracht hat. Die erstaunlich schnellen Ergebnisse dieses friedenspolitischen Kindes der Kosovo-Erfahrungen führen inzwischen zur Prüfung, ob eine Anwendung auch in anderen Konfliktregionen infrage kommt: So hat die OSZE ein Gutachten über einen denkbaren "Stabilitätspakt für den Kaukasus" erstellen lassen. Der "neue Krisenbogen" Balkan-Nahost-Schwarzmeer-Kaukasus-Zentralasien-Kaspisches Meer stellt nach unserer Auffassung tatsächlich aus europäischer Sicht das nächste Bewährungsfeld für eine vorausschauende Friedens- und Stabilitätspolitik dar.
2. Die rot-grüne Bundesregierung hat die Zivile Krisenprävention zu einem ressortübergreifenden Schwerpunkt ihrer internationalen Politik gemacht und wird dabei nachdrücklich von beiden Koalitionsfraktionen unterstützt. Bausteine dieser neuen Politik sind das von der Bundesregierung beschlossene "Gesamtkonzept Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung", das Ausbildungsprogramm von zivilem Friedenspersonal durch das Auswärtiges Amt, parallel dazu die erstmalige Einrichtung eines "Zivilen Friedensdienstes" in Deutschland durch das BMZ, sowie die Ernennung eines Sonderbeauftragten für Konfliktprävention und Krisenmanagement durch die Bundesregierung. Über die Positionen von SPD und Grünen zu diesem Aufgabenbereich gibt der Antrag "Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung und Friedenskonsolidierung" (Bundestagsdrucksache 14/3862 vom 7. Juli 2000) detaillierte Auskunft. Die Bundesregierung hat in diesem Sinne der gesamten Entwicklungszusammenarbeit eine neue Ausrichtung gegeben. Die neuen Prioritäten heißen Armutsbekämpfung, auch als gewünschte Strategie von IWF und Weltbank, Entschuldung (Kölner Initiative) und regionale Stabilitätsregime nach Art des Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Der Schock über das Versagen von Prävention auf dem Balkan und im Kosovo hat diese Umorientierung der internationalen Politik durch die rot-grüne Regierung nicht ausgelöst, aber beschleunigt.
3. Die Kosovo-Erfahrung hat die EU motiviert, auf ihrem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) schneller voranzuschreiten. Anderthalb Jahre nach Arbeitsaufnahme des Hohen Repräsentanten und Generalsekretärs der GASP, Solana, nehmen die neuen Brüsseler Gremien der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik bereits Gestalt an und werden arbeitsfähig. Während der französischen Präsidentschaft haben dabei die militärischen Gremien schnellere Fortschritte gemacht. Die gegenwärtige schwedische Präsidentschaft hat einen Nachholprozess bei der Ausgestaltung der zivilen GASP-Institutionen eingeleitet und wird dabei von der Bundesregierung nachhaltig unterstützt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat eine eigene GASP-Gruppe gebildet, die mit den Fachabgeordneten der europäischen Schwester-Fraktionen eine Konferenz-Serie veranstaltet hat, um dieser wichtigen, konstitutiven europäischen Gremienbildung eine parlamentarische Begleitung und Kontrolle zu verschaffen und um zugleich für eine gleichgewichtige Investition in den zivilen Teil der GASP zu werben. Eine Zwischenbilanz dieser Initiative wurde in Form einer dreisprachigen Broschüre "Die Zukunft der GASP. Sozialdemokratische Perspektiven für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union" im November 2000 vorgelegt.
Allein die sozialdemokratischen Initiativen auf diesen drei Projekt- und Arbeitsfeldern zeigen, dass wir es mit der programmatischen Aussage "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik" aus dem Regierungsprogramm von 1998 ernst meinen und dass wir auf der Basis der für uns alle schockierenden Erfahrungen des Kosovo-Krieges Umsteuerungen und neue Prioritätensetzungen vorgenommen haben. Nichts davon hat im stillen Kämmerlein stattgefunden. Wir haben unsere Politik nicht nur im Bundestag, sondern auch dann in der Öffentlichkeit vertreten, wenn es schwierig war. Meine Kolleginnen/Kollegen und ich selber, wir sind nie ausgewichen, auch dann nicht, als es galt, die schwierigen Entscheidungen zur militärischen Beteiligung am Kosovo-Krieg vor brodelnden Auditorien der Friedensbewegung zu vertreten. Was Sie, Herr Lutz, angeht, erinnere ich mich persönlich an mindestens vier gemeinsame öffentliche Veranstaltungen, zu denen zahlreiche mit anderer Besetzung hinzukamen. Eine Lähmung der Diskussions- und Streitkultur in Deutschland konnte ich dabei nicht entdecken.
Sie haben in ihrem "Offenen Brief" die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wie auch die Mitglieder der Bundesregierung sinngemäß als Rechtsbrecher, Versager, Manipulateure der öffentlichen Meinung und als bewusste oder fahrlässige Kombattanten des gewalttätigen albanischen Extremismus gebrandmarkt. Niemand hätte sich gewundert, wenn die so Angesprochenen es schlicht bei einer energischen Zurückweisung solcher brachialen Beschuldigungen belassen hätten. Was Ihre Aktionsvorschläge angeht, so haben Sie wohl schwerlich erwartet, dass die derart angegriffenen Abgeordneten Ihnen jetzt die Hand zur Errichtung jener Arenen reichen würden, in denen Sie Ihren Hang zu öffentlichen Tribunalen austoben könnten.
Ich habe Ihre Beschuldigungen nicht pauschal zurückgewiesen, sondern bin auf zahlreiche (wenn auch längst nicht alle) Details Ihrer Argumentation eingegangen. Ich habe dies getan, weil ich aus Erfahrung weiß, welche Wirkungen solche Analysen und Anklagen in der öffentlichen Debatte auslösen können. Aber ich habe es auch getan, weil die Politik im Kosovo, in Südosteuropa insgesamt und an zahlreichen weiteren Konfliktschauplätzen weiterhin vor enormen und komplizierten Herausforderungen steht. Wir können auf selbsternannte Staatsanwälte und Chefankläger verzichten - aber wir brauchen die Zusammenarbeit mit der Friedensforschung. Deshalb ist die rot-grüne Bundesregierung mit Unterstützung der Regierungsfraktionen zu einer verlässlichen Finanzierung der deutschen Friedensforschung zurückgekehrt und hat im Oktober 2000 die "Deutsche Stiftung Friedensforschung" mit einem Stiftungskapital von 50 Millionen DM ins Leben gerufen. Mehrere weitere Einzelprojekte - das wissen Sie sehr gut - sind ebenfalls zusätzlich auf den Weg gebracht worden.
Ich bin sicher, dass die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen, bereit sind, mit den Vertretern der Friedensforschung, die das auch tatsächlich wollen, weiterhin zu kooperieren. Es wäre sinnvoll, einmal gemeinsam die offenen Fragen, Desiderata und weißen Flecken im Arbeitsfeld einer künftigen vorausschauenden Friedenspolitik und Konfliktprävention zu definieren. Es wäre vernünftig, eine Arbeitsteilung anzustreben, die auf der vollen Kenntnis der wechselseitig vorhandenen Kapazitäten und Prioritäten aufbaut und die sich abkoppelt von dem Diktat der Tagesaktualität. Und es wäre reizvoll, dabei eine Verbindung zwischen den beiden globalen Netzwerken herzustellen, ohne die heute weder die politische noch die wissenschaftliche Welt bestehen kann. Wir brauchen uns gegenseitig - von dieser Erkenntnis ist in Ihrem "Offenen Brief" leider wenig zu spüren, sie ist aber trotzdem richtig.
Mit freundlichen Grüßen
Gernot Erler