Raketenabwehr: Bushs Rede wirft neue Fragen auf
Zu Präsident Bushs Rede über die geplante Raketenabwehr erklärt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:
Präsident Bushs Rede vor der National Defense University enthält keine Überraschung. Sie gibt mehr Auskunft über die strategische Philosophie der Raketenabwehr als über ihr technisches Design. Der Präsident startet mit dieser Rede eine Überzeugungskampagne, die schon in der nächsten Woche mit dem Ausschwärmen von Fachdelegierten in verschiedene Erdteile beginnen wird. So bereitet man gewöhnlich nicht einen unter vielen Punkten eines Regierungsprogramms vor. Kurz nach seinen ersten hundert Tagen hat Bush den Blick ein Stück weit freigegeben auf ein Programm, das im Zentrum seiner Administration stehen wird.
Es fällt auf, mit welchem Nachdruck der Präsident dem ABM-Vertrag von 1972 seine Existenzberechtigung als unzeitgemäßes Produkt des Kalten Kriegens zu entziehen sucht. Die Botschaft ist unmissverständlich: Der ABM-Vertrag muss weg! Er steht der Zukunft im Wege und verhindert ein neues, vertrauensvolleres Verhältnis zwischen Amerika und Russland.
Spricht man von den zu überwindenden Relikten des Kalten Krieges, könnte man auch auf die 7295 amerikanischen und 6094 russischen Atomsprengköpfe stoßen, die überflüssiger- und gefährlicherweise auch zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch unterhalten werden. Bushs Berater haben wohl vorausgesehen, dass die Frage kommen muss, warum als erster der wichtigste Rüstungskontrollvertrag dran glauben muss, wenn man Schluss machen will mit der Erbschaft des Kalten Krieges. Deshalb hat der Präsident seinen Willen bekundet, die Zahl der Atomwaffen zu reduzieren. Das ist auch dann zu begrüßen, wenn unklar bleibt, welches die angekündigte "niedrigstmögliche Zahl" ist, die mit den nationalen Sicherheitsinteressen und mit den Verpflichtungen gegenüber den Alliierten noch vereinbar ist.
Die Argumentation, der ABM-Vertrag stamme aus einer überwundenen Zeit und ignoriere eine 30-jährige technische Weiterentwicklung, ist gefährlich und diskussionswürdig. Die Einwände lassen sich gegen alle Abrüstungsverträge erheben. So hat das Chemiewaffenübereinkommen eine ganze Waffentechnologie für alle Zeiten geächtet, die START-Verträge reduzieren nicht nur Sprengkopfzahlen, sondern verbieten auch bestimmte technische Anwendungen (zum Beispiel Mehrfachsprengkopf-Technik), und der - von Washington allerdings nicht ratifizierte - Atomteststoppvertrag will ausdrücklich die Weiterentwicklung von Atomwaffen beenden. Die Argumente gegen den ABM-Vertrag lassen sich insofern von interessierter Seite jedem Abrüstungs- und Rüstungskontroll-Abkommen gegenüber vorbringen.
Bush stellt den ABM-Vertrag in die Ecke des Kalten Krieges, doch sein strategisches Denken erinnert noch stark an die Zeiten der Blockkonfrontation. Die Sowjetunion besteht nicht mehr, und - das macht der US-Präsident deutlich - Russland füllt das überkommene Feindbild nicht aus. Aber da gibt es andere Staaten, die Amerika, Amerikas Freunde und Amerikas Werte ablehnen. Sie nehmen diesen Platz ein und verfügen über Waffen, die eventuelle Sanktionen gegen ihre amerikafeindlichen Aktivitäten mit einem zu hohen Risiko versehen. Hier soll die Raketenabwehr helfen.
Diese neue Rollenverteilung in einem altvertrauten Stück, dieser Stärkebeweis durch ein gigantisches Rüstungsprogramm zur Entmutigung hasserfüllter Feinde kann kaum als Überwindung alten Denkens begriffen werden. Partiell werden sogar politische Instrumente aufgegeben, die in der Endphase des Kalten Krieges durchaus lebendig waren - der Begriff der Nichtverbreitung (Nonproliferation) kommt in Bushs Rede nur am Rande vor und es fehlt jeder Hinweis, dass es vielleicht auch andere Möglichkeiten des Umgangs mit den Amerika feindlich gesonnenen Staaten geben könnte, als ihr Verhalten durch einen neuen Mix von Atomwaffen und Raketenabwehr sanktionierbar zu halten.
Das Wichtigste an Bushs Rede ist seine Ankündigung engster Konsultationen mit den Verbündeten und anderen Ländern, einschließlich Russland und China. Bei diesen Gesprächen muss logischerweise das politische Konzept und die Philosophie der Raketenabwehr im Vordergrund stehen, da die technische Ausgestaltung offensichtlich noch nicht entschieden ist. Das ist gut so, denn Bushs Rede hat mehr neue Fragen zur Raketenabwehr aufgeworfen als schon bekannte beantwortet.
2. Mai 2001