Schreiben von Erhard Eppler an die Mitglieder der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 15. November 2001
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was am Freitag, den 16. November 2001 zur Entscheidung steht, treibt auch einen alten Mann um, der seit vierzig Jahren nach der Naumannschen Mehrheit links vom Zentrum sucht, sich seit dreißig Jahren um unsere ökologische Zukunftsfähigkeit müht und jetzt fürchtet, dass alles doch vergeblich war.
Sie wissen es selbst: Wenn der Kanzler kein Vertrauensvotum bekommt, gehört Rot-Grün der Geschichte an. Da die PDS heute noch weniger koalitionsfähig ist als vor einem Jahr, wird es auf lange Zeit keine Mehrheit links vom Zentrum geben, geschweige denn eine ökologisch- soziale Reformpolitik.
Wer dies alles - und vieles mehr - verantworten will, muss gewichtige Gründe haben. Manche sagen: Die Mitwirkung deutscher Soldaten in und um Afghanistan ist ein solcher Grund. Das sei Krieg, und Krieg sei immer vom Übel.
Ich war vom ersten Tag an dagegen, vom Krieg gegen den Terrorismus zu reden. Krieg führt man gegen Staaten, nicht gegen einen Privatmann, der Unternehmer, Börsenspekulant und Kriegsherr in einem sein will. Da sind Polizei und Geheimdienste zuständig. Militär ist gefragt, wo die Polizei überfordert ist.
Und natürlich muss von links die Frage kommen, was wir im Westen dazu beigetragen haben, dass gescheite, tüchtige junge Leute sich töten, um möglichst viele von uns umzubringen.
Die weltweite Privatisierung, Kommerzialisierung der Gewalt, das Entstehen globalisierter Gewaltmärkte, die Erosion staatlicher Gewaltmonopole und das Fehlen eines internationalen Gewaltmonopols, das alles sind linke Themen. Wenn die Sicherheit vor Verbrechen eine Ware wird, die sich einige (in gated communities) leisten können und die meisten nicht, ist doch wohl die Linke gefordert.
Dass die Bush-Regierung dies alles anders sieht, versteht sich von selbst. Sie will den endgültigen und totalen Sieg im Krieg gegen den Terrorismus. Wir müssen den Terror als gefährlichsten Teil privatisierter Gewalt auch dann bekämpfen, wenn wir wissen, dass wir noch lange mit den Risiken solcher Gewalt leben müssen.
Europäische Regierungen können dem US-Präsidenten nicht vorschreiben, wie er zu reden hat. Aber sie können auf sein Handeln einwirken. Sie haben dies schon mehr getan, als öffentlich erkennbar wird. Aber sie können dies nur, wenn sie Bündnissolidarität üben. Das tun sie, Franzosen, Briten, Italiener, Niederländer, Tschechen. Ein Nein der Deutschen würde nicht als besondere Friedfertigkeit, sondern als Drückebergerei wahrgenommen.
Ich gestehe, dass mich der Luftkrieg in Afghanistan von Tag zu Tag mehr abgestoßen hat. Daher bin ich heilfroh, dass keine Deutschen mit bombardieren. Aber wenn die Taliban sich nun in die Berge zurückziehen, hat es ohnehin keinen Sinn mehr, Städte zu bombardieren. Vielleicht gelingt es sogar, auch in diesem geschundenen Land zur Politik zurückzukehren. Schon jetzt ist die Gefahr eines Flächenbrandes noch geringer geworden. Es könnte sich zeigen, dass es tatsächlich nicht um Krieg geht. Die Europäer hätten dann dafür zu sorgen, dass dies so bleibt. Es gibt keinen Grund, Gerhard Schröder oder Joschka Fischer in diesem Punkt zu misstrauen.
Wenn die demokratische Linke in zehn Jahren auf den November 2001 zurückblickt, möchte ich nicht, dass sie sich vergeblich um Verständnis dafür müht, wie man die Chancen einer linken Reformpolitik für Jahrzehnte verspielen konnten, nur weil man sich nicht verständigen konnte über die Bereitstellung von 3900 Soldaten für einen Konflikt, der praktisch schon zuende war, als darüber abgestimmt wurde.
Wer meine Biographie kenn, wird mit zugestehen, dass ich weiß, was eine Gewissensentscheidung ist. Aber auch Gewissensentscheidungen müssen sich begründen lassen, sich rationalem Diskurs aussetzen. meist sind sie Ergebnis eines solchen Diskurses. Auch bei der Gewissensentscheidung wägen wir ab, was wichtiger ist. Nicht nur die Risiken für die Soldaten, auch die Chancen und Risiken deutscher Politik gehen in eine Gewissensentscheidung ein. Ich habe mich bei jeder solchen Entscheidung an ein Wort Dietrich Bonhoeffers erinnert: "Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine künftige Generation weiterleben soll."
Mit allen guten Wünschen für den 16. November
Erhard Eppler