Provinzposse um die russischen Graffiti im Reichstag

Zu einem heute im Bundestag zur Debatte stehenden Gruppenantrag aus den Rei-hen von CDU/CSU erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:

69 Bundestagsabgeordnete, fast alle aus der CDU/CSU, haben ein Problem: Sie fühlen sich gestört durch die handschriftlichen Initialen und Graffiti, die von russischen Sol-daten in Berlin im Mai 1945 an den Wänden des Reichstages hinterlassen wurden und bei der Restauration des Gebäudes als historische Zeugnisse freigelegt und erhalten blieben. Der lapidare Antrag der inkommodierten Christdemokraten will diese kyrillischen Inschriften, deren Anblick täglich ungezählten Besuchern des Reichstages eine einmalige Lektion in deutscher Geschichte vermittelt, auf einen "historisch gerechtfertigten Umfang" reduzieren, d. h. "nur an einem Ort" sichtbar lassen.

Spiritus Rector dieser bedeutsamen Initiative ist der CSU-Kollege Johannes Singhammer, ehedem Grundsatzreferent in der bayrischen Staatsregierung und Bezirksvorsitzender der Münchner CSU. In einer früheren Version des inzwischen abgespeckten Antrags wollte MdB Singhammer in den Gängen des Reichstages lieber die Wappen der deutschen Länder als die russischen Inschriften sehen. Käme sein Antrag durch, müsste der größte Teil der Wände in den Parterre-Gängen des Reichstages übermalt und entschieden werden, an welcher Stelle "in historisch gerechtfertigtem Umfang" ein Graffiti-Reservat angelegt wird.

Die Kleinkariertheit und politische Provinzialität dieses Antrags ist kaum mehr zu überbieten, obwohl sich durchaus Anschlussprojekte anböten: Wie wäre es mit Anträgen, die russischen Ehrenmale im Tiergarten und in Treptow zu verkleinern oder vielleicht die Öffnungszeiten des Museums Karlshorst zu begrenzen, das den Saal, wo die deutsche Kapitulation stattfand, zugänglich macht? Die Frage ist nur, wer in all diesen Fällen über den "historisch gerechtfertigten Umfang" entscheiden soll.

Draußen in der Welt trifft man oft auf Anerkennung und Respekt dafür, wie Deutschland den Reichstag - nach den Entwürfen eines englischen Architekten - umgestaltet hat und wie dabei die architektonischen und historischen Spuren bewahrt und mit einer modernen Funktionalität und Gestaltung verbunden wurden. Der einzige Trost angesichts dieses trostlosen Antrags ist: An dieser weltweit Anerkennung findenden Gestaltung des Reichstages wird sich nichts ändern!

14. März 2002