Presseerklärung vom 4. November 2002

Türkisches Wahlergebnis: Mehr Fragen als Antworten

Zum Ausgang der Wahlen in der Türkei erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion Gernot Erler:

Wie zu erwarten war, hat die konservative und gemäßigt islamistische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) die Wahlen in der Türkei gewonnen. Das Wahlergebnis markiert zugleich den Endpunkt der politischen Karriere von Bülent Ecevit. Dass dieser nun mit einem so schmählichen Ergebnis von nur etwa einem Prozent von der politischen Bühne der Türkei abtreten wird, ist persönlich tragisch für einen Politiker, der über 40 Jahre lang die türkische Politik mitgeprägt hat. Auch wenn viele seiner Freunde seine Entwicklung von einem sozialdemokratischen Hoffnungsträger zu einem unbeweglichen Nationalisten nicht mitgehen konnten, wird Bülent Ecevit in die türkische Geschichte als einer der prägenden Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts eingehen.

Überraschend am Wahlergebnis ist die Deutlichkeit des Sieges der AKP und dass außer der sich früher als sozialdemokratisch verstehenden und sich heute eher neoliberal gebenden CHP keine andere der etablierten Parteien die 10 Prozent-Hürde geschafft hat. Somit wird es in der Großen Türkischen Nationalversammlung künftig nur noch zwei Fraktionen geben, und die AKP wird mit einer komfortablen Fast-Zweidrittel-Mehrheit regieren können.

Doch vorher ist noch einiges zu klären. Kann Tayyip Erdogan, der Vorsitzende der AKP, überhaupt regieren in der Türkei? Nach der geltenden Rechtslage aufgrund von umstrittenen Gesetzen und Gerichtsverfahren konnte er selbst gar nicht für das Parlament kandidieren, kann er weder Regierungschef werden, noch darf er eigentlich Parteivorsitzender sein. Und wie wird sich das Militär verhalten und insbesondere der Nationale Sicherheitsrat, der wichtigste Machtfaktor
türkischer Politik?

Viel wird davon abhängen, wie Erdogan und seine Partei sich in der nächsten Zeit verhalten werden. Ist diese Neugründung eine wirklich neue politische Kraft oder eben doch nur die geschönte Neuauflage der alten islamistischen Erbakan-Partei? Ist den Beteuerungen Erdogans zu glauben, dass die AKP fest auf der Basis des Kemalismus steht, den Pluralismus verteidigen wird, die Wirtschaftsreformen in Kooperation mit dem IWF weiterbetreiben wird und wirklich nach Europa strebt? Oder wird nun die europäisch klingende Rhetorik schnell abgelegt werden und ein Streben nach einem islamistischen Staat mit Scharia an die Oberfläche kommen?

Die nächsten Wochen werden zeigen, was die AKP wirklich ist und will. In jedem Fall hat sie einen demokratisch legitimierten Auftrag, der respektiert werden sollte. Jeglicher denkbare Eingriff seitens des Militärs wäre daher nur zum Schaden für die Glaubwürdigkeit der ohnehin schwachen demokratischen Strukturen der Türkei.

Der hohe Wahlsieg der AKP ist beileibe nicht nur billigem Populismus und religiös verbrämten Versprechungen zu verdanken. Das Wahlergebnis ist in erster Linie ein Ausdruck des Protestes des türkischen Volkes gegen das etablierte Parteiensystem, das das Land mit seiner Selbstbedienungsmentalität und einer immer offener praktizierten Korruption und Vetternwirtschaft an den Rand des Ruins gebracht hat. Erst 2001 hatte nur ein Kredit von 16 Milliarden $ den türkischen Staat vor einem Kollaps bewahrt. Und dieser Kredit war eigentlich nur aufgrund des Restvertrauens des IWF in den international anerkannten Ökonomen Kemal Derwis gewährt worden, der jedoch bald danach das sinkende Schiff der DSP von Ecevit verließ.

Der große Vertrauensvorschuß, den die Türken der als relativ unbelastet und sauber geltenden AKP gegeben haben, bringt daher eine große Verantwortung mit sich. Nun müssen Erdogan und seine Leute zeigen, dass sie nicht nur verstehen, die Massen zu mobilisieren, sondern den Staat auch durch schwierigste Zeiten führen können.
Die wichtigsten Aufgaben werden dabei in der Sanierung und Modernisierung des türkischen Wirtschaftslebens und in der Linderung der brennenden sozialen Probleme liegen. Wichtige Prüfsteine für die AKP werden jedoch auch in der Außenpolitik liegen. Die Bewertung der türkischen Politik in Europa wird dabei ganz entscheidend davon abhängen, ob die Türkei endlich mehr Beweglichkeit in der Zypern-Frage zeigen wird.

Viele Beobachter fragen sich nun, ob die Türkei nach dem Wahlsieg der Islamisten überhaupt noch einen Platz in Europa habe. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass es auch im Westen immer wieder große Einflüsse religiöser Fundamentalismen gegeben hat und gibt, wie z.B. der Staatskatholizismus mancher Länder in Südeuropa oder die höchst einflußreichen evangelikalen Strömungen in den USA zeigen. Die Ausprägung der Religiösität eines Volkes sollte bei der Frage der Europafähigkeit keine bestimmende Rolle spielen. Viel entscheidender ist die Bereitschaft und Fähigkeit der Gesellschaft, die Werte und Normen der Aufklärung in demokratischer Willensbildung zu etablieren und zu gewähren. Sowie keinen überkommenen Nationalismus zu verteidigen, der in einer modernen Staatengemeinschaft überwunden werden muss. Das sind die Kriterien, an der die AKP gemessen werden wird.