Presseerklärung vom 8. Juli 2002

Ankunft im schlechten Gestern: Zu Stoibers Außen- und Sicherheitspolitik

Der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, auf dem "21. Franz-Josef-Strauß-Symposium" eine programmatische Rede zur Außen- und Sicherheitspolitik gehalten. Ohne dabei auch nur annähernd an die geopolitische Wortgewalt des Symposium-Namensgebers heranzureichen, gelang es dem Redner aber doch, mehr Auskunft zur internationalen Politik der CDU/CSU zu geben, als man sie in den völlig blutleeren Passagen des christdemokratischen Wahlprogramms findet. Stoibers Ausführungen belegen: Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik geht es am 22. September um eine Richtungsentscheidung!

Das Fazit sei vorweggenommen: Der Kandidat hält für die anerkanntermaßen vielen neuen Herausforderungen in der internationalen Politik nur ziemlich alte, um nicht zu sagen antiquierte Antworten bereit. Man reibt sich die Augen, wenn Stoiber nach einem "in sich stimmigen Sicherheitskonzept" ruft und dabei die Einsicht einfordert, dass es nicht mehr ausreiche, "Sicherheit auf das Prinzip Abschreckung zu gründen". Sapperlot, möchte man da ausrufen, willkommen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts! Denn schon in diesem letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges hatte sich weltweit das Vertrauen in die Abschreckungspolitik in Ost und West so stark abgenützt, dass weder die NATO mehr noch die Sowjetunion des Michail Gorbatschow sie zur Grundlage ihrer Sicherheitspolitik machen wollten. Vielleicht sollten wir uns freuen, dass man diese Erkenntnis, mit 15 Jahren Verzögerung, jetzt auch in CSU-Sicherheitskreisen offen aussprechen kann!

Stoibers Allheilmittel in Sicherheitsfragen ist eindeutig die NATO. An sie verströmt er seine Zuwendung mit aller Leidenschaft, zu der er fähig ist. Sie soll - und das hätte nun tatsächlich auch Franz-Josef nicht bedeutungsschwerer ausdrücken können - "ihren strategischen Fokus nach Süden und Südosten verschieben", soll sich zur asymmetrischen Kriegsführung befähigen und sich endlich zu einer "globalen Allianz mit militärischer Schlagkraft" weiterentwickeln. Stoibers anerkennende Worte dafür ("sehr wichtig"), dass Washington über eine neue Rolle seiner neuen Nuklearwaffen nachdenkt (Nuclear Posture Review), sind da nur folgerichtig. Aus dem bayrischen Blickwinkel sind die Tendenzen des Bündnisses, zu einer eher politischen Allianz zu mutieren, ein gefährlicher Irrweg.

Stoibers auffällige NATO-Orientierung reduziert folgerichtig das ganze Thema der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP und ESVP) auf die "Europäische Einsatztruppe". Von einer sinnvollen Balance zwischen zivilen und militärischen Fähigkeiten der EU hat der Mann aus München offenbar noch nie etwas gehört. Seine größte Sorge ist, dass die künftigen Militärkräfte Europas mit der NATO verzahnt werden und zur Entlastung der Vereinigten Staaten dienen. Das wird noch spannend, wenn Stoiber am 16. Juli Jacques Chirac trifft, um - bescheiden wie er ist - einen "neuen Gründungspakt" im deutsch-französischen Verhältnis zu vollziehen. Bisher ist der französische Präsident nicht mit der Angst aufgefallen, Europa könnte sich zu weit von Amerika emanzipieren.

Genau diese Angst treibt den Unions-Kandidaten aber heftig um. Ein Bekenntnis jagt das andere: zugunsten der US-Strategie, Terrorismus militärisch präventiv zu bekämpfen ("preventive defense", wie es im Fall Irak vorbereitet wird), mit uneingeschränkter Zustimmung zu Bushs Nahostpolitik (freilich ohne Arafat zu erwähnen) und mit seinem Ja zur Raketenabwehr Washingtons, zu der gefälligst die Europäer einen eigenen Beitrag leisten sollen. Europa degeneriert bei Stoiber zum Wurmfortsatz einer fundamentalen transatlantischen Werte- und Interessengemeinschaft - eine Prioritätensetzung, die Deutschland in Europa isolieren muss und über dessen Realitätsferne selbst die Amerikaner schmunzeln werden.

Wie üblich vermeidet Stoiber jede Festlegung. Bei den Finanzen der Bundeswehr, deren Aufstockung in der zu Ende gehenden Legislaturperiode ein ceterum censeo der Opposition war, beschränkt sich die angekündigte "Kurskorrektur" auf die Absicht, den "investiven Anteil unserer Ausgaben zu verstärken". Der Kandidat kalkuliert wohl auf das kurze Gedächtnis der Zeitgenossen, die vergessen haben könnten, dass nach 16 Jahren CDU-Führung dieser Investivanteil auf das Allzeittief von 22 Prozent abgesunken war. Das neuerdings angestimmte Hohelied der Konservativen auf die Entwicklungspolitik will nicht wirklich als geplante Etataufstockung verstanden werden - man hört bloß davon, dass die Mittel "gezielter eingesetzt" werden sollen. Nur in einem Punkt wird Stoiber unmißverständlich: Er will eine Grundgesetzänderung, um die Bundeswehr endlich auch im Inland einsetzen zu können.

Wie rückwärtsgewandt all diese Ansätze sind, das zeigt sich erst richtig, wenn man einmal fragt, was denn alles fehlt: Kein einziger Satz zum rot-grünen Schwerpunkt der präventiven und vorausschauenden Friedenspolitik, einschließlich des Aufbaus von einem Pool von Friedensfachleuten für die Krisenprävention; keine Erwähnung der deutschen Politik zur Unterstützung der Vereinten Nationen und der OSZE; Unterschlagung der zivilen Komponente der ESVP, obwohl die 5.000 Polizeikräfte der EU als "headline goal" gleichberechtigt neben den militärischen Einsatzkräften stehen; Null-Interesse für die europäische Integrationsstrategie in Südosteuropa mit Stabilitätspakt sowie den Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die von Berlin in den letzten vier Jahren nach vorne gebracht wurde.

Stattdessen eine europauntaugliche Total-Unterwerfung der deutschen Sicherheitspolitik unter eine faktenwidrig aufs Militärische reduzierte NATO als "globaler Allianz mit militärischer Schlagkraft", eine schon ins Liebedienerische abgleitende Eilfertigkeit, Initiativen der Bush-Administration auch dann gutzuheißen, wenn sie bisher auf entschiedene Kritik Europas gestoßen sind, und eine Verkoppelung von Sicherheitspolitik mit Aufrüstung, wie sie bereits in der Endphase des Kalten Krieges unmodern wurde.

Für eine solche Politik fände ein Stoiber-Deutschland in Europa keine Partner. Nun könnte man beruhigend einwenden, dass eine potenziell unionsgeführte Bundesregierung das ja rasch merken und sich kollegial in den europäischen Geleitzug einordnen würde. Zu solchen Hoffnungen auf eine realpolitische Rationalisierung der ideologisch überfrachteten Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie jetzt von CDU/CSU angekündigt wird, hat ihr Kanzlerkandidat allerdings keine Veranlassung gegeben. Da zuckte Europa erschrocken zusammen, als Stoiber die Keule der Beitrittsverweigerung gegen die Tschechen schwang, wenn sie nicht ex post die Benesch-Dekrete mit allen Rechtsfolgen für ungültig erklären würden (hinterher war natürlich, auch das ganz im populistischen Strickmuster, alles nicht ganz so gemeint gewesen). Und seine Attacken vor den Ostpreussen an die Adresse Warschaus waren in einem solchen Ausmaß fachlich falsch und politisch destruktiv, dass "Kompetenz-Team-Außenminister" Wolfgang Schäuble zum Aufsammeln der Scherben nach Polen reisen musste.

In der Zwischenzeit setzte die Bundesregierung ihre Bemühungen zur Vermittlung im Nahostkonflikt fort, engagierten sich Joschka Fischer und Gerhard Schröder für ein Einlenken der Amerikaner bei deren Attacken gegen den Internationalen Strafgerichtshof, wobei Washington bislang nicht davor zurückschreckt, die unverzichtbare UN-Friedensmission in Bosnien für nationale Ziele in Haft zu nehmen. In der gleichen Zeit erreichte der Bundeskanzler beim G8-Gipfel in Kanada die gleichberechtigte Aufnahme Russlands in diesen globalen Führungszirkel und verzichtete zugunsten Moskaus auf die Gastgeberrolle 2006, um das lange verfolgte Ziel der deutschen Politik, Russland als gleichberechtigten Partner an den Tisch zu setzen, an dem internationale Friedenspolitik verbindlich verhandelt wird, entscheidend voranzubringen.

Da sage noch einer, die internationale Politik gebe nichts her für die These, am 22. September gehe es um eine politische Richtungsentscheidung!

Gernot Erler ist Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte.