Rede Gernot Erlers in der 134. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17. November 2000: Antrag der CDU/CSU Der deutschen Außenpolitik wieder Einfluss geben

Der deutschen Außenpolitik wieder Einfluss geben

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem herzlichen Willkommen an den Kollegen Rühe beginnen. Herzlich willkommen zurück auf der Erde! Sie haben offensichtlich einen längeren außerplanetarischen Aufenthalt hinter sich gebracht. (Heiterkeit) Anders ist der Realitätsverlust, der sich in Ihrem Antrag widerspiegelt, nicht zu erklären.

(Uta Zapf [SPD]: Aber die ganze Fraktion hat zugestimmt!)

Angeblich sprechen wir ja hier über einen Antrag. Tatsächlich ist es aber ein ungegliedertes Sammelsurium von Kritik und Vorwürfen an die Bundesregierung, durch einen lustlos angefügten und dürren Forderungskatalog notdürftig in Antragsform gebracht. Man erfährt zwar, woran die CDU/CSU überall etwas auszusetzen hat, aber nirgendwo etwas Verbindliches und damit Diskussionsfähiges zur Position der CDU/CSU, geschweige denn, dass ein Konzept oder wenigstens ein roter Faden erkennbar wäre. Das ist schade. Denn eigentlich brauchen wir durchaus grundsätzliche Debatten zur Außenpolitik. Aber diese Vorlage ist dazu nicht geeignet. Insofern ist sie eine verpasste Chance.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Notgedrungen muss man sich dann mit Ihrer Einzelkritik und Ihren Einzelforderungen auseinander setzen. Dabei erhält man sehr schnell den Eindruck: Bei der Kritik ist alles inkonsistent und widersprüchlich; bei den Forderungen haben wir es mit Wunschlisten zu tun, die keine Auskunft über die Finanzierung geben. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, Volker Rühes Wunschliste zusammenzustellen. Sie sieht folgendermaßen aus: Die Bundesregierung soll viel mehr Geld in die Bundeswehr und in die europäischen militärischen Fähigkeiten stecken. Sie soll den Auswärtigen Dienst besser ausstatten.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll den Etat für Entwicklungspolitik drastisch und unter Rückgängigmachung der regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzungen aufstocken.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll mehr Mittel für die globalen Herausforderungen bereitstellen. Sie soll die Beschränkungen - man höre und staune - der Agenda 2000 auflösen und mehr Geld in Europa stecken.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll die Transformation in den ostmitteleuropäischen Staaten stärker unterstützen.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Man könnte sagen: Prima, es ist ja auch bald Weihnachten.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe mir die Mühe gemacht, die aus den Anträgen, die Sie in den einzelnen Ausschüssen gestellt haben, resultierenden finanziellen Forderungen einmal durchzurechnen. Dabei habe ich festgestellt: Sie haben Forderungen erhoben, die Mehrausgaben von ungefähr 100 Milliarden bis 120 Milliarden bedeuten würden, ohne zu belegen, wo das Geld herkommen soll.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Die haben noch Reserven in ihren schwarzen Koffern! Jetzt haben wir es!)

Dazu kann ich nur sagen: Tut mir furchtbar Leid. Das macht es schwierig, sich mit Ihrem Antrag auseinander zu setzen. Er ist schlicht unseriös.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da, wo Kritik geübt wird, verwickelt sich dieser Antrag sofort in Widersprüche.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ein Antrag kann sich nicht verwickeln!)

Ich möchte das an dem Beispiel, das schon Joschka Fischer angeführt hat, klarer machen. In Ihrem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, die Beitrittsverhandlungen über die Erweiterung der Europäischen Union nicht länger zu verzögern. Das heißt also, wir haben bislang die Verhandlungen verzögert. Dann wird kritisiert, dass die Bundesregierung auf dem Helsinki-Gipfel "leicht fertig weit reichende Entscheidungen über die künftige Größe und Zusammensetzung der Europäischen Union getroffen" habe. Vorher hätte - das ist die Verbeugung vor Bayern - nämlich geklärt werden müssen, welches Selbstverständnis, welche Gestalt und welche Grenzen die EU haben soll. Der Widerspruch besteht schon darin, dass zuerst gesagt wird: "Ihr verzögert", und dann eine Forderung erhoben wird, die, wenn man sie ernst nehmen würde, erst recht zu einer großen Verzögerung führen würde. Niemand versteht, was Sie eigentlich wollen: einen baldigen Abschluss der Beitrittsverhandlungen oder einen längeren Selbstfindungs- und Definitionsprozess der Europäischen Union vor der Erweiterung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das spiegelt leider den Stand Ihrer Diskussion über die Osterweiterung wider. Ich habe mich - das kommt selten vor - über einen Satz Ihres europapolitischen Sprechers, Herrn Hintze, gefreut, den er hier vor wenigen Wochen in der Haushaltsdebatte gesagt hat: "Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion klipp und klar Ja zur Osterweiterung."

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja, sehen Sie mal!)

Prima, darüber sind wir uns einig.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Wunderbar!)

Aber, Herr Klipp-und-Klar-Kollege, leider ist es dabei nicht geblieben; denn Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, hat wenige Tage später gesagt, es sei ein schwerer politischer Fehler gewesen, auf dem Gipfel in Helsinki die Zahl der möglichen Beitrittskandidaten kritiklos auf elf angehoben zu haben. Es sind zwar nicht elf, sondern 13 Beitrittskandidaten; aber man soll ja nicht kleinlich sein. Das ist ein Widerspruch zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Hintze, und lässt sich mit Ihrem klipp und klar geäußerten Ja zur Osterweiterung gar nicht vereinbaren. Herr Stoiber hat gesagt, bevor die Osterweiterung möglich sei, müsse erst die Frage der Kompetenzabgrenzung innerhalb der EU geklärt sein. Des Weiteren hat er davor gewarnt, schon im Jahr 2004 neue Länder in die Europäische Union aufzunehmen. Frau Merkel hat gesagt, sie sei für einen frühen Beitrittstermin. In einem lesenswerten Aufsatz, der in der "FAZ" am 22. September erschienen ist, hat Ihr Kollege Herr Pflüger unter anderem geschrieben, zu lange seien die Kandidatenländer dann mit der Aussicht auf einen festen Beitrittstermin hingehalten worden. Er hat hinzugefügt, er sei für den großen Beitritt, für den großen Knall. Aber Sie, Herr Hintze, haben Nein zur Konvoilösung gesagt. Außerdem hat Herr Pflüger in dem Aufsatz geschrieben, er sei dafür, dass die ersten Kandidaten spätestens - da hat er sich genau festgelegt - zum 1. Oktober 2004 der EU beitreten. Ihr Kollege aus dem Europaparlament, Herr Markus Ferber, ist dagegen der Meinung, die ersten Kandidaten könnten erst ab 2007 beitreten. Herr Rühe hat sich für 2003 als Beitrittstermin ausgesprochen. Kajo Schommer, Sachsens Wirtschaftsminister, hat wiederum einen anderen Termin genannt und hat hinzugefügt, er halte Spekulationen über Beitrittstermine grundsätzlich für fatal. Wenn man sich das alles anschaut, dann muss man feststellen, dass bei Ihnen ein großes Durcheinander herrscht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fazit: Sie sagen nicht, wie viele Kandidaten der Europäischen Union beitreten sollen. Sie behaupten zwar, dass es zu viele seien; aber Sie sagen nicht, welche Länder nicht beitreten sollen. Sie legen sich nicht fest. Sie halten den Beitrittsprozess einerseits für zu schnell und andererseits für zu langsam. Sie sind einerseits für und andererseits gegen Terminsetzungen. Bei den Terminen haben Sie alles im Angebot. Es reicht von 2002 bis 2007. Hinsichtlich der Europapolitik sieht es bei Ihnen wie auf einem Hühnerhof aus, auf dem alles hin- und herrennt. Ein solcher Hühnerhof braucht einen Leitgockel, der Ordnung schafft. Herr Rühe, Sie wären die ideale Besetzung. Dafür wären Sie geeignet. Machen Sie das doch! Sie würden uns allen damit einen Dienst erweisen. Sie müssen sich, um ernst genommen zu werden, entscheiden. Wollen Sie die gute Tradition Ihrer Fraktion in Bezug auf die Europapolitik aus Ihrer Regierungszeit fortsetzen, nämlich beim Integrationsprozess vorne bleiben, Avantgarde sein, für andere ein Vorbild abgeben, oder wollen Sie das Erweiterungsthema zu populistischer Wahl Kampfmunition kleinhäckseln und bei dieser großen Herausforderung der europäischen Geschichte versagen und letzen Endes den Versuch machen, das ganze Thema zu einem Werkzeug zu instrumentalisieren, das dazu dienen soll, dass Sie zu Mehrheiten und zur Macht zurückkehren? Sie haben sich ganz offensichtlich noch nicht entschieden. Das zeigen diese eigenartigen Widersprüche. Aber die Öffentlichkeit und die Medien haben das gemerkt und erwarten von Ihnen Klarheit in dieser Frage. Ich will zum Abschluss den Journalisten Richard Meng aus der "Frankfurter Rundschau" vom 24. Oktober 2000 zitieren. Sein Artikel trug die Überschrift: "Die haltlose Union". Er schreibt zu diesem Thema: In den großen außenpolitischen Fragen, beispielsweise bei der Integration des Nationalen in ein zusammenwachsendes Europa, leistet die Union sich ein Sowohl-als-auch, das nur in abstrakten Sonntagsreden zusammen passt. Konkret ist sie hin und hergerissen und auch hier höchst populismusanfällig. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Es gibt weitere Beispiele für die Inkonsistenz Ihrer Forderungen, zum Beispiel im Falle von Russland. Herr Rühe, Sie schaffen es in einem einzigen Absatz Ihres Antrages, die Bundesregierung aufzufordern, die russische Regierung zu Re formen für ein stärkeres Engagement europäischer Investoren zu drängen, und im gleichen Kontext zu sagen, dass weitere staatliche Kredite so lange nicht gewährt werden sollten, so lange die erforderlichen Voraussetzungen für den Aufbau einer Marktwirtschaft nicht gegeben sind und der Krieg in Tschetschenien nicht beendet ist. Ich fordere Sie auf, Herr Rühe: Gehen Sie einmal nach Moskau zur Repräsentanz der deutschen Wirtschaft. Dort gibt es seit vielen Jahren 900 deutsche Firmen, die Pionierarbeit leisten, die wir anerkennen sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie sich dort einmal über den Zusammenhang zwischen stärkerem Engagement im Sinne von Investitionen auf der einen Seite und der Notwendigkeit einer Kreditabsicherung auf der anderen Seite berichten. Beides gehört zusammen. Deswegen hat die Bundesregierung richtig gehandelt, als sie die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Hermeskredite geschaffen und somit die Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt hat. Dies war ein gutes Ergebnis, das beim letzten Besuch von Gerhard Schröder in Moskau bei den Gesprächen mit Putin erzielt wurde. Wir sind auch froh darüber, dass über die so genannten Petersburger Gespräche ein dauerhafter Dialog auf den Weg gebracht worden ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Beispiel Türkei zeigt ebenfalls Ihre Inkonsistenz. Sie fordern von uns alle Anstrengungen, um die Türkei wirtschaftlich, politisch und institutionell enger mit Europa zu verbinden. - Damit sind wir einverstanden. Dazu hat auch die EU in Helsinki einen Beschluss gefasst. Sie hat nach dem Scheitern des Luxemburg-Systems beschlossen, dass es beim Kandidatenstatus der Türkei weiter vorangeht. Das haben alle europäischen Staaten mitgetragen. Was sagen Sie? Sie üben daran Kritik und sagen, die Verleihung des Kandidatenstatus sei verfrüht gewesen und wir hätten dazu gedrängt. Das ist ein kompletter Widerspruch. Es ist auch völlig inkonsistent, dauernd zu kritisieren, dass wir eine zurückhaltende Rüstungsexportpolitik gegenüber der Türkei betreiben, und dann zu betonen, wie wichtig der Partner Türkei ist. Wenn Europa sagt, durch den Kandidatenstatus der Türkei fördere man dort eine vernünftige Entwicklung, so finden Sie dies falsch. Das ist eine völlig widersprüchliche Politik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme abschließend kurz zu Ihren Forderungen. Ich habe schon gesagt, dass diese eher lustlos klingen und lediglich angehängt sind. Sie benutzen hier die Methode, die Bundesregierung dauernd dazu aufzufordern, das zu tun, was sie sowieso schon tut oder schon getan hat. Sie fordern zum Beispiel mehr Engagement bei globalen Herausforderungen. Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass die Entwicklungsministerin Frau Wieczorek-Zeul mit der Kölner Schuldeninitiative et was Konkretes gemacht hat, das mehr wert ist als die Sammlungen von Forderungen, die Sie in Ihre Anträge hineingeschrieben haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind auch froh, dass der Bundeskanzler die Zielsetzung der G-7- oder G-8-Staaten unterstützt, bis zum Jahr 2015 eine Halbierung der Armut auf der Welt zu erreichen. Das hat die volle Zustimmung meiner Fraktion. Dann sagen Sie, Herr Rühe, wir sollten die Rüstungsexportrichtlinien überarbeiten und eine verbindliche europäische Regelung befördern. Offenbar waren Sie wieder auf irgendeinem Planeten, als wir Ende letzten Jahres, Anfang dieses Jahres dies gemacht haben. Sie können ja sagen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass wir zum Beispiel Menschenrechte als Kriterium für Rüstungsexporte in diese Richtlinien eingebaut haben, nachdem Sie 16 Jahre lang nichts getan haben, sodass das Wort "Menschenrechte" in den Rüstungsexportrichtlinien überhaupt nicht vorkam.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sie haben doch nationale Richtlinien gemacht! Er will europäische! Hören Sie doch zu!)

Außerdem haben wir genau das gemacht, was Sie verlangen, Herr Schmidt. Der Code of Conduct ist jetzt für die Bundesrepublik verbindlich.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Europäische Richtlinien wollen wir! Das ist doch der Punkt! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU)

Wenn Sie natürlich die Realitäten überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, dann kommen Sie eben zu solch eigenartigen Dingen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schließlich verlangen Sie ein Regionalkonzept für den Kaukasus. Sie haben offenbar nicht gemerkt, dass der Bundeskanzler schon im März in Tiflis war und dort als erster größerer europäischer Staatsmann auf der Basis unserer positiven Erfahrungen in Südosteuropa einen Stabilitätspakt für den Kaukasus gefordert hat und dass die OSZE längst mit deutscher Unterstützung ein entsprechendes Konzept auf den Weg gebracht hat. Auch hier stellen Sie also Forderungen, die in Wirklichkeit schon längst reale Politik dieser Bundesregierung sind, die von der Regierungskoalition voll und ganz unterstützt wird. Herr Rühe und Ihre Freunde, es wird Ihnen nicht gelingen, hier den Eindruck zu erwecken, dass es bei der deutschen Außenpolitik ein Problem mit Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit gibt. In Wirklichkeit weiß die ganze Welt, dass unsere Außenpolitik verlässlich, professionell und kreativ ist. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Vergessen Sie ganz schnell diesen Antrag!

(Beifall bei der SPD)

Außenpolitik hat etwas Seriöseres als das verdient, was Sie hier anbieten. Verlassen Sie nicht den wichtigen außenpolitischen Grundkonsens. Wir sind bereit, mit Ihnen ernsthaft über Außenpolitik zu diskutieren, aber nicht auf der Basis dieses Antrags.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zu einer Kurzintervention - um 12.47 Uhr liegt die Betonung auf "kurz" - gebe ich dem Kollegen Peter Hintze das Wort.

Peter Hintze (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss dem Kollegen Erler das Kompliment machen, dass er sich mit wichtigen Texten der Union, mit Aufsitzen und Reden, gründlich beschäftigt hat. Ich muss das Kompliment aber leider dahin gehend modifizieren, dass er sie nicht richtig verstanden hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD)

Deswegen möchte ich hier zur Klarheit beitragen. Rühe, Pflüger, Merz, Hintze, Lamers, Stoiber - in allen Reden und Schriften findet sich ein klares Ja zur Osterweiterung als ein Gebot der moralischen, politischen und ökonomischen Vernunft. Wir haben es zugesagt. Es schafft Stabilität in Europa und Wohlstand und soziale Sicherheit für alle Beteiligten. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Nun haben Sie gesagt, Herr Merz habe hier im Deutschen Bundestag vorgetragen, dass in Helsinki die Kandidatenzahl zu sehr erhöht worden sei, und haben das als einen Widerspruch empfunden. Ich löse diesen Widerspruch für Sie gern auf: Wir glauben, dass die Osterweiterung gerade dann gelingt, wenn der Kreis der Kandidaten, die übrigens zum Teil mit Osteuropa gar nichts zu tun haben - denken Sie einmal daran, was in Helsinki hinsichtlich der Türkei beschlossen wurde -, nicht so groß wird, dass es praktisch und politisch schwer wird, den Beitrittsprozess wirklich zügig voranzubringen. Dies war unsere Sorge, die wir hier zum Ausdruck gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun möchte ich das noch einmal konkret auf den Punkt bringen. Wir haben zwei Probleme. Das eine Problem ist, dass der Kandidatenkreis so sehr ausgeweitet wurde. Das zweite Problem ist, dass die Beitrittsverhandlungen im Moment zu schleppend geführt werden. Formal führt sie die Kommission; de facto werden sie von der Präsidentschaft geführt. Die deutsche Europapolitik hat natürlich entscheidenden Einfluss darauf, wie sie geführt werden. Unsere Auffassung ist, dass sie zu schleppend geführt werden. Wir haben die Fortschrittsberichte und sehen, dass die Länder, die beitrittsreif sind, schon sehr weit gekommen sind. Wir wünschen, dass auch die komplizierten Kapitel wie Landwirtschaft und Arbeitnehmerfreizügigkeit zügig auf die Agenda kommen und verhandelt werden, damit den politischen, moralischen und ökonomischen Versprechen Taten folgen. Wir hätten uns in dieser Hinsicht von der Bundesregierung etwas mehr erwünscht, als beispielsweise Österreich zu drangsalieren oder Herrn Hombach zu installieren. Ich erinnere auch an andere Vorgänge, die den Prozess der europäischen Einigung hemmen. Ich bin sehr froh, dass wir mit der heutigen Debatte einmal die Gelegenheit haben, hinsichtlich der Außen- bzw. der Europapolitik ein paar Dinge klarzustellen. Deswegen war diese Debatte zentral und wichtig. Wenn Sie, lieber Kollege Erler, die von Ihnen zitierten Reden nachlesen - Sie können sie alle mit Gewinn auch zweimal lesen -, dann werden Sie vielleicht feststellen, dass sich der von Ihnen entdeckte Widerspruch vielleicht doch nicht so darstellt, wie Sie es vermutet haben. Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zur Erwiderung hat der Kollege Erler das Wort.

Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Hintze, bei Ihrer "Langintervention" habe ich eben daran gedacht, wie es wäre, wenn es demnächst zur Rettung Österreichs einmal einen Film mit dem Titel "Der Rächer der Entrechteten" mit Herrn Hintze in der Hauptrolle gäbe. Jetzt zu Ihrem Vorwurf, ich könne nicht lesen. Fraglich ist nicht, ob ich lesen kann. Das Problem besteht darin, dass andere Menschen lesen können. Sie lesen zum Beispiel im Protokoll der Haushaltsdebatte vom 14. September dieses Jahres die Aussage von Herrn Merz: Deswegen war es ein schwerer politischer Fehler, dass Sie die Zahl der möglichen Kandidaten beim Gipfel in Helsinki kritiklos auf 11 angehoben haben ...

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Es muss 13 heißen! Das wissen Sie selbst!)

Er hat "elf" gesagt. Zu den elf gehört die Türkei nicht dazu. Herr Rühe hat am 18. September in der "Frankfurter Allgemeinen" für eine "realistische Erweiterung" - so steht es auch in Ihrem Antrag - geworben. Außerdem hat er dort gesagt: Mit 13 Staaten auf einmal zu verhandeln ist eine Lebenslüge der Europapolitik. Es müssen Unterschiede gemacht werden. übrigens, Herr Rühe, es wird gar nicht mit 13 Staaten verhandelt, sondern nur mit zwölf. Können Sie sich vorstellen, wie die Wirkung solcher Sätze auf die zwölf Kandidaten aussieht?

(Volker Rühe [CDU/CSU]: Dass sie sich Mühe geben!)

Sie fragen doch, was Ihr Hinweis darauf, dass es zu viele sind, bedeutet.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Fragen Sie sich das mal!)

Was heißt "realistische Erweiterung"? Sie müssen doch einmal sagen, wer aus dem Kreis der Beitrittskandidaten herausfallen soll, mit wem man also die Verhandlungen einstellen soll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Volker Rühe [CDU/CSU]: Die sollen doch nicht alle auf einmal aufgenommen werden!)

Die Frage nach der Bedeutung dieser Aussage wird im Ausland an uns gerichtet. Sie müssen sich die Wirkung solcher Worte überlegen. Herr Hintze, ich höre Ihre Worte gerne. Sie sind der Klipp-und-Klar-Politiker, der zur Osterweiterung Ja sagt. Sorgen Sie dafür, dass auch alle Ihre Kollegen so denken; dann haben wir eine gemeinsame Basis. Aber verunsichern Sie die Kandidatenländer nicht, die sich die Frage stellen, was die Hinweise darauf, dass es zu viele Beitrittskandidaten sind und dass Unterschiede gemacht werden sollen, bedeuten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)