Rede Gernot Erlers in der 183. Sitzung des Deutschen Bundestages am 6. Juli 2001: Regierungserklärung zur Lage in Südosteuropa und Mazedonien

Lage in Südosteuropa und Mazedonien

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist eine Debatte über internationale Politik. Leider, Herr Rühe, hat man das bei Ihrer Rede eben nicht gemerkt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Einmal mehr haben Sie Ihre parteipolitischen Vorstellungen über den Bundeswehretat in den Mittelpunkt gestellt. Sie haben eine internationale Frage auf die kleine provinzielle Münze der Parteipolitik heruntergebrochen. Das ist nicht angemessen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Damit werden wir auch nicht das internationale Vertrauenskapital erweitern können, das Sie so häufig im Mund geführt haben. Ich möchte deswegen anders anfangen als Sie, Herr Rühe.

Zu reden ist nämlich zunächst einmal über ein kleines Land, über ein armes Land. Ich weiß, in einer solchen Debatte ist man schnell bei den großen Vokabeln von gemeinsamer Verantwortung, der Handlungsfähigkeit der EU, der Bündnissolidarität. Das ist alles richtig. Trotzdem möchte ich zuerst von Mazedonien reden, von einem kleinen geschundenen Land mit 2 Millionen Einwohnern - Slawen, Albanern, Türken, Roma und anderen Minderheiten - und einem Bruttosozialprodukt von 7,5 Milliarden DM, mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 32 Prozent und einem Durchschnittseinkommen der Menschen von 360 DM im Monat.

Dieses Land steht plötzlich im Rampenlicht der Tagesnachrichten. Die Fernsehsprecher versuchen Ortsnamen wie Aracinovo, Kumanovo, Tetovo, Tanusevci und andere korrekt auszusprechen. Die Bilder von den Kämpfen in diesen Orten riechen nach Krieg, eventuell nach dem fünften Balkankrieg in zehn Jahren.
Das war nicht immer so. In den ersten zehn Jahren seiner Unabhängigkeit, beginnend 1991, schien es in Mazedonien besser zu laufen als ringsum, wo die vier jugoslawischen Auflösungskriege ihre Verwüstungen anrichteten. Mazedonien hatte eine Verfassung mit Minderheitenrechten, die gelobt wurde. Mazedonien, da lebten Slawen und Albaner offenbar friedlich nebeneinander und miteinander. Es gibt ein Parlament. Es gibt Parteien. Es gibt Wahlen, über die sich die Wahlbeobachter halbwegs zufrieden äußern.

Anscheinend war Mazedonien also eine Nische der Normalität inmitten einer brodelnden Nachbarschaft. Beobachter von außen sprachen sogar von Mazedonien als Musterland, als Insel der Stabilität, ja sogar von der Schweiz des Balkans. Vielleicht hat das nie ganz gestimmt. Aber es ist auch etwas passiert, etwas Unerbittliches, bis zur Prominenz dieser Ortsnamen wie Aracinovo und Tanusevci.

Die Embargos gegen Jugoslawien, und zwar das Jugoslawien Milosevics, haben die Wirtschaft des Landes zerrüttet. Mit dem Nachbarn Bulgarien gab es einen nervenzehrenden Sprachenstreit. Das EU-Mitglied Griechenland ließ sich von einem jahrelangen Boykott wegen eines Streits um den Staatsnamen Mazedoniens von niemandem abbringen. Zum Schluss überschritt die Logik der Gewalt die Grenzen, sickerte ein über die Grenzgebirge zum Kosovo aus dem Présovo-Tal. Diese kriegsgeborene Logik der Waffen, deren Wirksamkeit die kosovarischen UCK-Kämpfer als Lektion gelernt hatten, und diese Erfahrung, dass man ohne eine Kalaschnikow seine Rechte und Interessen nicht durchsetzen kann, machten sich in diesem wirtschaftlich zerrütteten Land mit seinen sozialen Spannungen breit, in einem Mazedonien, in dem sich gerade deswegen kriminelle und illegale Strukturen wuchernd ausgebreitet hatten. Das alles fiel dort auf einen fruchtbaren Boden.

Niemand will hier die persönliche Verantwortung der mazedonischen Politiker, der Slawen wie der Albaner, in Abrede stellen. In der Gesamtentwicklung aber ist Mazedonien ein verspätetes Opfer jenes blutigen Zerfallsprozesses der alten Ordnungen in Südosteuropa, eines Zerfalls, den wir, den Westeuropa und die internationale Gemeinschaft nicht aufhalten konnten.

Hier muss ich nun eines der großen Worte nennen: Verantwortung. Längst haben Europa, Amerika und die internationale Gemeinschaft Einzelverantwortung übernommen: in Bosnien-Herzegowina mit der SFOR und mit den milliardenschweren Aufbauprogrammen, im Kosovo mit KFOR und der UNMIK der Vereinten Nationen. Darüber hinaus haben wir mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa, mit der neuen Integrationspolitik der Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen und mit den Geberkonferenzen für Einzelländer, zuletzt für das Jugoslawien ohne Milosevic, auch regionale Gesamtverantwortung übernommen.

Was wir in der Nachbarschaft nicht verhindern konnten, das hat das scheinbar so stabile Mazedonien schwach und anfällig gemacht für den wohl bekannten Virus der Gewaltanwendung in ethnischem Gewand. Deswegen haben wir keine Wahl, sondern nur eine Pflicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen kann es nicht darum gehen, ob wir etwas tun, sondern nur darum, wie wir es tun. Deswegen wünschen wir uns so dringend einen Erfolg für alle Botschafter, Sondergesandten und Verfassungsspezialisten, die in Skopje jetzt für eine politische Lösung kämpfen. Wir danken Solana, Léotard, Robertson, Eiff, Feith, Pardew, Badinter und vielleicht bald auch Roman Herzog für ihren Einsatz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir können uns nicht verweigern, wenn wir um Hilfe gebeten werden, den Schlussstein für eine politische Lösung zu setzen, die Waffen der UCK kontrolliert aus dem Verkehr zu ziehen und Prävention zu betreiben, um die schlimmere Variante, einen Bürgerkrieg, zu verhindern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Politisch gesehen können wir uns aus all den Gründen, die ich genannt habe, diesem mazedonischen Wunsch nicht verweigern. Dann, aber erst dann, kommen noch andere Gründe hinzu; ich nenne das Stichwort der Glaubwürdigkeit der in Entwicklung begriffenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und das Stichwort der gemeinsamen Übernahme von Pflichten im Bündnis, die man häufig auch Bündnissolidarität nennt.

Diese Pflicht darf aber nicht blind machen. Es gibt genug Erfahrungen mit militärischen Missionen auf dem Balkan und damit, wohin sie sich entwickeln und wie lange sie dauern. Deshalb können wir uns an der Operation "Essential Harvest" nur beteiligen, wenn die politischen Voraussetzungen, wie die NATO sie formuliert hat, erfüllt sind, wenn es ein ehrliches Mandat gibt, das sich auf alle Eventualitäten und Risiken sorgfältig vorbereitet,

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Dann schreiben Sie das mal!)

und wenn wir auf diese Weise in der Lage sind, Herr Kollege, die Gefahr für diejenigen, die wir in diese Operation schicken, also für die Soldaten der Bundeswehr, soweit wie irgend möglich zu reduzieren. Nur dann können wir einer solchen Operation und unserer Beteiligung daran zustimmen.

In diesem Zusammenhang möchte ich das Wort an Sie, an die Kollegen von der CDU/CSU, richten. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie diese notwendige und wichtige Prüfung aller Voraussetzungen und Bedingungen zusammen mit uns vor. Ketten Sie sich nicht länger an das von Herrn Rühe eben nochmals vorgetragene unmögliche Junktim, mit dem Sie Ihr Ja zu einer internationalen Verpflichtung Deutschlands von der Durchsetzung Ihrer Vorstellungen über den Bundeswehretat abhängig machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Befreien Sie sich davon und kommen Sie aus dieser Sackgasse heraus. Wir sind uns darin einig, dass "Essential Harvest" allein nicht die Lösung sein kann. Dieser sehr begrenzte Einsatz gehört zu einem optimistischen Szenario und kann nur Teil einer politischen Lösung sein; er kann nur ein Baustein bei dem Ziel sein, Mazedonien als multiethnisches demokratisches Gemeinwesen zu erhalten. Wenn das nicht gelingt, wissen wir, dass all diese enormen Bemühungen der ganzen Weltgemeinschaft in Südosteuropa zunichte sind, dass sie kaputtgemacht werden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Wort an den Kollegen Lamers richten: Sie haben am letzten Freitag ein Papier vorgelegt, in dem Sie eine Idee entwickeln, wie Sie sich den politischen Rahmen vorstellen. Sie formulieren darin die Idee einer südosteuropäischen Union als Balkanersatzveranstaltung für die EU. Ich muss Ihnen sagen: Ich war über dieses Papier erschrocken. Ich weiß nicht, ob Sie über die Wirkung Ihrer Idee in Südosteuropa nachgedacht haben. Viele werden dort sagen: Jetzt wissen wir endlich, dass uns die Westeuropäer nicht in den Klub der EU reinlassen wollen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

dass sie in Wirklichkeit einen Sonderweg für uns vorgesehen haben.

(Zuruf von der PDS: Das ist doch auch so!)

Glauben Sie denn ernsthaft, Herr Kollege Lamers, dass sich die Griechen, die schon in der EU sind, und die Ungarn und Slowenen, die unmittelbar vor der Tür stehen, jetzt auf eine Sonder-EU für Südosteuropa abschieben lassen? Das ist völlig unrealistisch. Nein, es gibt keine Alternative zu dem Tandem von ökonomischem Aufbau und europäischer Integrationsperspektive. Über den Tag hinaus die Situation zu stabilisieren setzt voraus, dass die Maßnahmen wirksam sind. Deswegen habe ich auch die soziale und ökonomische Situation in Mazedonien in den Vordergrund gestellt. Ich bitte Sie, Herr Kollege: Denken Sie noch einmal - Sie haben in Ihrem Papier sehr gute Analysen gemacht - über die Konsequenzen nach und lassen Sie uns gemeinsam über dieses Problem nachdenken.

Ich möchte mit einem weiteren Appell schließen: Der außenpolitische Grundkonsens gehört zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Ich bitte Sie: Kündigen Sie ihn nicht auf, nicht in ruhigen Zeiten, aber schon gar nicht in dieser Situation, in der wir international gemeinsam gefordert sind.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)