Rede Gernot Erlers in der 184. Sitzung des Deutscher Bundestag am 29. August 2001: Beratung des Antrags der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium zum Einsammeln und Zerstören der Waffen, die durch die ethnisch albanischen bewaffneten Gruppen freiwillig abgegeben werden

Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Rühe, ich möchte mit Genugtuung feststellen, dass Sie in Ihrer Rede wenigstens partiell zu dem tatsächlichen Gegenstand und der angemessenen Behandlung dieses Gegenstandes zurückgekehrt sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber Sie konnten in dem anderen Teil Ihrer Rede nicht darüber hinwegfahren, dass es ein Fehler, ganz persönlich auch von Ihnen, war, diese internationale Frage für die Bundesrepublik Deutschland mit Ihren persönlichen innenpolitischen Zielen zu verbinden. Das war ein Irrweg. Das ist ein Irrweg. Das wird auch einer bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie hier Ihre Erfolgsbilanz vorstellen - Sie sind ja ausgeritten, um der Bundesregierung 500 Millionen DM abzutrotzen und haben jetzt das Problem, 28 Millionen DM als einen Erfolg zu verkaufen -, dann ist doch eines klar: Das wichtigste Kriterium dafür, wie überzeugend Sie Ihren Erfolg darstellen können, ist die Reaktion Ihrer eigenen Fraktion. Es gab ein Abstimmungsergebnis von 94 zu 68. Sie können also Ihre eigenen Leute nicht überzeugen. Daher werden Sie auch die Öffentlichkeit nicht davon überzeugen können, dass Sie hier einen großen Erfolg errungen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion hat gestern Abend mit großer, mit über 90-prozentiger Mehrheit beschlossen, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen, sich an der NATO-Mission "Essential Harvest" mit einem Kontingent der Bundeswehr zu beteiligen. Die SPD-Fraktion hat sich diese Zustimmung nicht leicht gemacht. Es hat eine intensive Diskussion zur Entwicklung der Lage in Mazedonien, zu den Chancen, mit dieser Mission einen Bürgerkrieg in Mazedonien zu verhindern, aber auch zu den Gefährdungen und zu den Risiken gegeben. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen mussten und müssen bei dieser Entscheidung ernst zu nehmende Zweifel überwinden. Nicht alle Fragen können befriedigend beantwortet werden. Letztlich musste jeder eine Abwägung der Alternativen mit ihren jeweiligen Risiken vornehmen. Ein Erfolg der militärisch kontrollierten Waffeneinsammlung als Bedingung für die Ratifizierung des Friedensabkommens vom 13. August erscheint keineswegs gesichert, aber möglich. Eine Verweigerung der Mithilfe bei dieser freiwilligen, aber keineswegs preislosen Selbstentwaffnung würde dagegen automatisch in den Bürgerkrieg führen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die SPD-Bundestagsfraktion sieht in "Essential Harvest" einen integralen Bestandteil eines präventiven politischen Friedens- und Vermittlungsprozesses. Wir begrüßen es außerordentlich, dass es die Unterhändler der EU, der Vereinigten Staaten und der NATO in enger Abstimmung untereinander, aber auch mit den Vertretern der Vereinten Nationen und der OSZE geschafft haben, dieses Rahmenabkommen zu erreichen - mit der Unterschrift der vier wichtigsten slawo-mazedonischen und albanischen Parteien und des mazedonischen Präsidenten. Im Namen meiner Fraktion möchte ich allen an diesem Erfolg beteiligten Vermittlern Dank und Anerkennung aussprechen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt hängt alles von der erfolgreichen Umsetzung des Rahmenabkommens ab. Dieser Friedensplan hat die kontrollierte Selbstentwaffnung der UCK und die notwendige Verfassungs- und Gesetzgebungsarbeit des mazedonischen Parlaments quasi aneinander geschmiedet. Es läuft in den nächsten 30 Tagen bis zum 27. September Zug um Zug oder es läuft gar nicht. Das macht den politischen Charakter der bereits angelaufenen NATO-Mission aus. Hier wird nicht das Gleis von der Diplomatie zur militärischen Intervention gewechselt. Vielmehr ist die militärisch abgesicherte Kontrolle der Waffenabgabe Voraussetzung dafür, dass der Schlussstein der politischen Konfliktschlichtung gesetzt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In der Öffentlichkeit ist zu Recht auf das Ungewöhnliche der Szenerie und auch auf die Risiken der erfolgten Friedensvermittlung hingewiesen worden: Im Februar sind bewaffnete albanische Gruppen aufgetaucht und haben mazedonische Ordnungskräfte angegriffen. Nach wenigen Wochen sitzen sie plötzlich am Verhandlungstisch. Das ist erklärungsbedürftig. Das könnte ja auch eine Prämierung von Gewaltanwendung sein.

Der Hintergrund ist aber: Aus geographischen, politischen und militärischen Gründen sind die mazedonischen Ordnungskräfte nicht in der Lage, das zu tun, was eigentlich normal gewesen wäre, nämlich diese Aktivitäten zu unterbinden. Eine Verhandlungslösung zu suchen, war die einzige Möglichkeit, in Mazedonien ein dauerhaftes Blutvergießen, dessen Ende also nicht abzusehen gewesen wäre, zu verhindern. Deswegen war dieses Vorgehen richtig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Verhandlungslösung war nur möglich, weil es auf beiden Seiten besonnene Kräfte mit viel Mut gibt, die sich gegen Populisten, Extremisten und Hardliner auf beiden Seiten durchsetzen. Diese besonnenen Kräfte verdienen unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber genauso deutlich appellieren wir an dieser Stelle und in dieser Stunde an alle Mitglieder der UCK: Ihr habt erklärt, dass eure politischen Ziele mit dem Rahmenabkommen jetzt erfüllt sind. Somit gibt es keinen Grund mehr, um die Zahl der abzugebenden Waffen zu feilschen. Es ist eine unabdingbare Voraussetzung, dass die Waffenabgabe transparent, vollständig und verlässlich durchgeführt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich gehe noch weiter: Wenn das Rahmenabkommen umgesetzt ist, gibt es für bewaffnete albanische Verbände in Mazedonien definitiv keinerlei Existenzberechtigung mehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sollten sie trotzdem auftauchen und aktiv werden - das sage ich mit allem Nachdruck -, würde dies alles Erreichte infrage stellen und der albanischen Sache nicht nur in Mazedonien einen kaum noch zu reparierenden Schaden zufügen. Ich hoffe, dass diese Botschaft bei allen, die sie angeht, ankommt.

Auch auf slawo-mazedonischer Seite gibt es vernünftige, realistische Kräfte und unbelehrbare Nationalisten, die der Bevölkerung vorgaukeln, in Wirklichkeit sei der Westen an der gesamten Problemlage schuld. Diejenigen, die sich wie Präsident Trajkowski und unsere sozialdemokratischen Freunde ihnen entgegenstellen, brauchen Mut. Sie haben es schwer und leben gefährlich. Sie verdienen deshalb unsere Unterstützung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch hier muss klar sein: Die unbelehrbaren Scharfmacher gefährden die westliche Hilfsbereitschaft. Angesichts der Tatsache, dass ein Jugendlicher mit tödlichen Folgen einen Betonbrocken auf ein Fahrzeug der NATO-Mission geschleudert hat, verlangen wir, dass die Scharfmacher, die Schreibtischtäter in den mazedonischen Medien zur Rechenschaft gezogen werden und endlich mit ihrer Hetze gegen den Westen aufhören.

(Beifall bei der SPD)

Den Angehörigen des jungen Ian Collins aus Großbritannien, der tragisches Opfer dieses Vorfalls wurde, sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme aus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Gerade dieser Vorfall zeigt: "Essential Harvest" birgt nicht nur politische, sondern auch sehr praktische Risiken für die zu entsendenden Soldaten. Die Bundesregierung hat alles getan, um das deutsche Kontingent bestmöglich und nach dem neuesten Stand der Technik zu schützen, insbesondere auch durch die Gewährleistung des notwendigen Minenschutzes. Sie hat dies übrigens - das sage ich an die Adresse des Kollegen Rühe - von sich aus und mit voller Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion getan. Einen Anstoß von außen hat es dafür nicht gebraucht.
(Beifall bei der SPD)

Die Sicherheit der Bundeswehrsoldaten wird auch bei der weiteren parlamentarischen Begleitung und Kontrolle von "Essential Harvest" die wichtigste Rolle spielen.

Die SPD-Fraktion hält im Übrigen an dem Parlamentsvorbehalt für militärische Auslandseinsätze fest. Wir stehen für seine Abschaffung nicht zur Verfügung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir stimmen heute über einen klar umrissenen Auftrag für einen klar definierten Zeitraum ab. Wenn "Essential Harvest" mehr Zeit braucht, muss sich der Bundestag mit einem Verlängerungsantrag der Bundesregierung erneut konstitutiv befassen. Wenn der NATO-Rat den Auftrag ändert, ist dies ebenfalls der Fall. Wenn sich herausstellt, dass der Auftrag nicht erfüllbar ist oder sich schleichend in eine andere Richtung entwickelt, wird der Bundestag eingreifen. Die Verfassung gibt uns das Recht, das zu jedem Zeitpunkt zu tun.

"Essential Harvest" soll einem Land, das sich an einem Scheideweg befindet, Hilfestellung leisten. Mazedonien kann als multi-ethnische Gesellschaft mit auch faktisch gleichen Rechten für alle Bevölkerungsgruppen den Weg des Friedensabkommens beschreiten. Mazedonien kann aber auch aufgrund falscher Ratschläge - es gibt Ratgeber, die immer noch glauben, die Probleme seien militärisch lösbar - in Krieg und Zerstörung auseinander fallen. "Essential Harvest" kann und soll die politische und zivile Lösung des Konflikts absichern. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag der Bundesregierung zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)